Was ist neu

Rico

Seniors
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30.08.2001
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Rico

(geändert am 24.08.03 - neues Ende)


„Sie wollen also endlich reden?“
„Nein... ich muß reden. Jetzt!“
Kevins Blick huschte nervös über die Tischplatte. Die Schatten der Gitterstäbe vor dem Fenster warfen einen Zebrastreifen auf den grauen Kunststoff.
„Ich höre...“
Die Worte des in einen eleganten anthrazitfarbenen Anzug gekleideten Mannes ihm gegenüber klangen emotionslos.
David Spengler, Arschlochgutachter.
Kevin haßte Spengler, aber jetzt brauchte er ihn.
„Es geht um diese eine Nacht...“
„Davon gehe ich aus, Mr. Cornell.“
Kevin hätte dem selbstverliebten Idioten am liebsten ins Gesicht gespuckt. Aber die Zeiten, in denen er sich so etwas leisten konnte, waren vorbei.
„Genauer gesagt, es geht um Rico.“
„Rico? Wer ist Rico?“
„Rico war nicht dabei, oder?“ Kevin sah sich gehetzt um.
Spengler blätterte in seiner Akte.
„Nein, da steht nichts von einem Rico. Erzählen Sie mir von ihm. Erzählen Sie mir alles über diese Nacht. Wie kam es dazu?"
„Ja, ich...“ Kevin räusperte sich. „Ok, ich sag´s Ihnen.“
„Schön. Also...?“
„Na ja, wir hatten da diese Gang. Marvin, Frank und ich. Der harte Kern. Marvin war sowas wie der Boß. Manchmal brachte er auch seine Freundin Nicole mit. Ne wirklich heiße Braut. Aber absolut tabu. Wer die auch nur schief ansah, der konnte am nächsten Morgen mit seinen Eiern gurgeln. Da verstand Marvin echt keinen Spaß.
Marvins alter Herr hatte einen großen Geräteschuppen. Da haben wir uns oft getroffen; der Alte war sowieso dauernd im Vollrausch, hat nie was mitgekriegt. Wir haben gequatscht, Karten gespielt, viel gesoffen. Ab und zu gab´s Koks, aber der Shit hat ´nen Haufen Geld gekostet. Frank hat den immer besorgt. Keine Ahnung, wo er den her hatte, aber meist hatten wir die Kohle nicht dafür.
Eines Tages hat Marvin dann Rico mitgebracht; muß so drei Monate her sein.
`Leute, das ist Rico.`
Einfach so. Damit war die Sache gegessen. Keiner wußte, woher er kam. Wir haben nie gefragt. Wenn Marvin was tat, haben wir die Klappe gehalten. Wie gesagt, er war der Boß.
Rico war echt seltsam. Ein paar Jährchen älter als wir, so Mitte Zwanzig, schätze ich. Groß wie ein Kirchturm, aber nichts auf den Knochen. Der hatte kaum noch Haare und so komisch wässrige Augen. Hat dauernd ein Gesicht gezogen, als wenn er jeden Moment losheulen müßte. Und so ´ne helle Mädchenstimme, aber die haben wir nur selten gehört, weil er meist die Schnauze hielt. Der saß einfach immer nur dabei. Trank keinen Tropfen Alkohol.
Ehrlich, wir haben alle gedacht, der Typ ist ein Weichei. Marvin hat dauernd seine Späßchen über ihn gemacht, und wir hatten echt ´ne gute Zeit, weil es immer was zu Lachen gab. Rico hat immer nur blöd gegrinst, als hätte er sie nicht mehr alle. Der hat sich nicht mal gewehrt.
Vor zwei Monaten ist dann die Sache mit dem Hund passiert. Da wäre Rico beinahe aus der Gang geworfen worden. Wir waren nachts unterwegs, in dem alten Benz von Marvin. Nicole war auch dabei. Irgendwo weit draußen haben wir auf ´ner Landstraße so´n kleines Hundchen gesehen. Marvin stieg in die Eisen und schrie: `Alle Mann raus – Fellpflege.` Wir also alle raus aus dem Wagen. Es hat gedauert, bis wir den Hund rangelockt hatten. Irgendwie war der niedlich, ganz jung noch, sowas wie´n Retriever oder wie die Viecher heißen. Der hat mit dem Schwanz gewedelt und sich echt gefreut. Marvin hat ihm so fest in den Bauch getreten, daß der richtig durch die Luft geflogen ist. Dann ist er hinterher – und wir alle auch – und hat das Hundchen an den Hinterbeinen gepackt. Hochgerissen. Und dann mit voller Wucht – Sie wissen schon, immer wieder. Hundchen hat gejault, und Marvin war wie im Rausch. Ich glaub, Nicole war damals auf Koks. Die hat die ganze Zeit gelacht. Frank und ich standen nur dabei. Es war uns egal. Aber Rico nicht. Der hat plötzlich angefangen zu schreien, ist auf Marvin los. Wir haben den Idioten festgehalten, bis Marvin fertig war. Dann hat er Rico verprügelt.
Mann, ich hab echt gedacht, der bringt den um. Hat er aber nicht. Rico stand schließlich auf – die Suppe lief ihm aus dem Mund, die Hände hatte er auf den Bauch gepreßt. Echt, ich hätte geschrien vor Schmerzen, aber Rico grinste wieder nur so dumm. Dann hat er was Merkwürdiges gesagt.
`Der Tod bedarf keiner Gehilfen.`
Wir haben uns kringelig gelacht. Aber es hat nicht lange gedauert, da wußten wir, was Rico gemeint hatte. Er war Marvin nicht böse gewesen, weil der den Hund erledigt hatte. Rico war sauer darüber, daß er das nicht hatte tun können. Oh ja, Rico war wirklich furchtbar wütend.“
Kevin wischte sich Schweiß von der Stirn.
„Ein wirklich toller Haufen“, sagte Spengler in gewohnt gelassener Weise. „Einen Hund zu töten, dazu gehört wirklich Verstand und Mut. Bravo.“
„Mir egal, was Sie denken. Der Köter lief da herrenlos ´rum. Wen kümmert´s?“
Spengler schüttelte den Kopf.
„Mich kümmert´s. Sehr sogar. Und noch viel mehr kümmert mich, was dann geschah. Nicht wahr, Mr. Cornell, dieses... wie sagten Sie doch gleich? ... Hundchen, das war ja nur der Anfang.“
Kevin sah sich wieder im Raum um. Dann blickte er Spengler in die Augen. Er wirkte erleichtert.
„Ja, irgendwie war´s ein Anfang. Vor allem für Rico. Ich weiß nicht, ob er es vorher schon gemacht hat – ich glaub schon –, aber nach der Sache mit dem Hund brachte er plötzlich dauernd sein eigenes Koks mit. Er hatte so´n braunes Säckchen, da war das Zeug drin. Immer, wenn wir bei Marvin im Schuppen waren, hat er sich ´ne Line gelegt und dann mit so ´nem komischen hellen Röhrchen alles in einem Rutsch weggezogen.
Oh Mann, Sie hätten Rico danach sehen sollen. Der zitterte überall und schwitzte wie ein Schwein, aus der Nase lief ihm der Rotz, die Augen waren voller geplatzter Äderchen. Manchmal hat er gewürgt und sich an den Hals gefaßt, als würde er ersticken. Das war echt abgefahren. Hat meist so ´ne Viertelstunde gedauert, bis er wieder normal war. Na ja, was man da halt so normal nennt.
Rico hatte immer was von dem Zeug. Wir haben ihn mal gefragt, aber er hat nie geteilt. Marvin wollte ihn zwingen, uns was abzugeben, aber Rico hat ihn nur angesehen, und Marvin war still. Scheiße, Rico hatte plötzlich Blicke drauf, die konnten einem echt Angst machen.
Ja, und dann hat uns Rico gezeigt, wie es geht.“
Kevin hielt in seiner Erzählung inne und neigte den Kopf leicht zur Seite, als würde er angestrengt lauschen.
„Alles ok, Mr. Cornell?“ fragte Spengler, jetzt doch leicht irritiert.
„Hören Sie das?“
„Was?“
„Nichts, schon gut. Ich steh mächtig unter Strom, müssen Sie wissen.“
„Das muß ich nicht wissen, das ist ihr Problem. Ich muß wissen, was geschehen ist. Was hat Rico Ihnen gezeigt?“
„Wie?“ Kevin schien gerade aus einem Traum erwacht zu sein. „Ach so, ja, Rico... Der Bastard ist total durchgedreht. Ich hab echt immer gedacht, wir wären harte Jungs, aber gegen Rico waren wir wie Heilige. Der erste, den es erwischt hat, war der Penner. Ist jetzt zwei Wochen her, wir fuhren damals wieder einfach so durch die Gegend. Scheiße, warum mußte der besoffene Kerl auch ausgerechnet mitten in der Nacht an dem verdammten Bahnübergang am Arsch der Welt stehen? Als Rico ihn sah, rief er das gleiche wie damals Marvin bei dem Hund: `Anhalten. Alle Mann raus – Fellpflege.` Der Spruch war witzig, und wir haben uns vor Lachen nicht mehr eingekriegt. Wir hatten alle was getrunken, und Rico war auf seinem komischen Trip. Der Penner war so blau, daß er die ganze Zeit gesungen hat, während wir auf ihn zugingen – der hatte nicht mal Angst vor uns. Ich weiß nicht, Marvin hätte dem Kerl vielleicht nur ´nen Finger gebrochen oder so, aber Rico hat ihn zur Seite geschoben.
`Nicht wieder du.`
Dann hat er einen ziemlich großen Stein genommen und den Penner damit auf den Boden geschlagen. Vorbei war´s mit dem Gesinge. Die Saufnase hat gekotzt wie ein Vulkan, den ganzen Boden voll, und Rico hat sich in die Kotze gekniet und den Typen gepackt und immer wieder draufgehauen, bis es vorbei war. Frank ist in die Büsche gerannt, weil ihm schlecht war. Marvin und ich haben uns nur angesehen. Da war was schiefgelaufen. Rico hatte den Penner einfach kaltgemacht. Bevor wir abgehauen sind, hat er den Toten noch auf die Schienen gezogen.“
Kevin sah Spengler erwartungsvoll an.
„Das ist eine sehr wichtige Information, Mr. Cornell. Der Fall ist mir bekannt. Ihre Aussage wird die Untersuchungen deutlich vereinfachen.“
„Mehr sagen Sie nicht dazu?“
Spengler beugte sich vor. „Mr. Cornell, zunächst einmal interessiert mich, was geschehen ist. Ich weiß nicht, worauf Sie mit Ihrer Frage hinauswollen, aber erwarten Sie von mir kein Mitleid oder Ähnliches. Und fangen Sie jetzt bloß nicht an, Tränen zu vergießen. Das fände ich momentan wirklich sehr unangebracht. Also, erzählen Sie weiter.“
„Ja, schon gut... wie Sie meinen... Nach dieser Nacht waren wir alle ziemlich durch den Wind. Egal, wo ich war, bei jedem Geräusch dachte ich, jetzt kommen die Bullen, jetzt haben sie dich am Wickel. Aber sie kamen nicht.
Marvin hatte uns gedrillt, Nicole nichts davon zu sagen. Als wir dann das nächste Mal versammelt in Marvins Schuppen saßen, hat Rico ihr´s dann stolz auf´s Brot geschmiert.
Ich glaub schon, daß Nicole damit ein Problem hatte. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als sie bis obenhin abgefüllt mit Whisky neben Rico hockte und sich alles genau von ihm erzählen ließ. Es war das erstemal, daß ich ihr Lachen richtig häßlich fand. Aber die beiden hatten `ne Menge Spaß. Marvin saß da wie ein Haufen Elend. Eifersüchtig, aber er hat sich nicht getraut, was zu sagen. Na ja, an dem Abend ist ja auch noch nichts passiert zwischen seiner Maus und Rico.
Vor einer Woche – also genau einen Tag vor dieser Nacht – hat Rico abends ein Mädchen zum Schuppen gebracht. Wir anderen haben gerade gepokert, als die Tür aufging und die beiden reingeschneit kamen. Mann, die Kleine sah echt toll aus. Vielleicht zwanzig Jahre alt, und süß wie ´ne Maus aus ´nem Katalog.
`Das ist Claudia.`
Mehr hat Rico nicht gesagt. Das Mädchen hat genickt, dann sind sie beide im hinteren Teil des Schuppens verschwunden, hinter die Abtrennwand. Erst war ich ja bei dem Stöhnen noch neidisch, bis ich dann kapierte, was da lief. Ich bin hingelaufen, Marvin und Frank hinterher, aber es war schon zu spät. Die Kleine war nicht mehr. Rico grinste uns an. Er hatte ein Messer in der Hand, und dann hat er... Ich wär fast ohnmächtig geworden. Bin abgehauen, nur weg. Hab die Nacht kaum geschlafen.
Am nächsten Morgen haben wir uns wieder im Schuppen getroffen. Rico und Marvin hatten die Kleine entsorgt. Marvin hatte ja auch keine andere Wahl gehabt, sein Alter hätte ihm die Ohren langgezogen. Eigentlich wollten wir Rico danach aus der Gang schmeißen, aber dann haben wir uns vollaufen lassen. War eh alles egal. Rico zog sich wieder eine Line, und Nicole kam am Nachmittag dazu. Wir haben Musik gehört, und dann sind wir abends zu diesem Parkplatz gefahren. Was da passiert ist, wissen Sie ja.“
Kevin stand auf, ging einige Schritte auf und ab und setzte sich dann wieder.
„Mr. Cornell, ich kenne das Resultat des Abends, aber ich weiß nicht, wie es dazu kam. Wäre schön, wenn Sie es mir noch erzählen könnten. Aber vorab: wo ist die Leiche des Mädchens?“
„Ich wußte, daß sie das fragen würden.“
„Gut... und die Antwort?“
„Ich sag´s Ihnen... ja, ich sag´s Ihnen, Mr. Spengler. Aber nur, wenn Sie mir helfen. Das ist ein Deal, Mr. Spengler, verstanden? Meine Information gegen Ihre Hilfe.“
Spengler runzelte die Stirn. „Welche Hilfe erhoffen Sie sich von mir?“
„Das sag ich Ihnen gleich. Lassen Sie mich den Rest erzählen. Sie werden mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben, aber wenn Sie mir nicht helfen, verrate ich Ihnen nicht, wo das Mädchen jetzt ist.“
„Gut“, nickte Spengler nachdenklich, „ok, wir werden ja sehen. Erzählen Sie weiter.“
„An diesem Abend sind wir zu dem Parkplatz in dem Gewerbegebiet gefahren. Wir waren alle ziemlich gut drauf und wollten einfach nur ein bißchen rumfahren und gute Musik hören. Einfach mal raus aus dem Schuppen. Marvin fuhr, Frank saß auf dem Beifahrersitz, hinten waren Rico und ich, und zwischen uns hockte Nicole. Das hatte Marvin zwar überhaupt nicht gepaßt, aber Rico hatte darauf bestanden, und wenn Rico was sagte, dann blieb es dabei. Keiner, wirklich keiner von uns hatte noch Lust, sich mit ihm anzulegen. So verrückt waren wir dann doch nicht.
Nicole und ich zogen uns Wodka in den Schädel, Rico trank wie immer nichts. Dafür hatte er an diesem Tag bereits zwei Lines gezogen, und damit war er uns betäubungstechnisch wohl um Welten voraus. Kurz bevor wir dann ankamen, flüsterte Rico Nicole etwas ins Ohr. Sie kicherte, sah mich kurz an, zwinkerte mir mit ihren glasigen Augen zu... und beugte sich dann in Ricos Schoß hinunter. Obwohl die Musik höllisch laut war, glaubte ich, das ratschende Geräusch des Reißverschlusses zu hören.
Das war echt ´ne Show. Marvin fuhr seine Karre, und Nicole lutschte neben mir an dem Schwanz eines Psychopathen. Ich hab die ganze Zeit hingestarrt. Irgendwie war´s geil, aber dann hat´s Marvin mitbekommen. Er hat ´nen Blick über die Schulter geworfen, und dann hat sich sein Gesicht ziemlich häßlich verzogen und er hat auf´s Gas gedrückt. Wie die Irren sind wir durch die Nacht geprescht. Rico hielt den Kopf im Nacken und lachte und stöhnte, während er Nicoles Kopf immer wieder ganz tief zwischen seine Beine drückte.
Dann waren wir auch schon am Parkplatz. Ziemlich finstere Gegend da, nur ein paar Laternen. Marvin hielt den Wagen an. Ich dachte erst, er würde sofort die hintere Tür aufreißen. Aber er rannte daran vorbei. Der Kofferraum ging auf, und dann tauchte Marvin an Ricos Fenster auf, mit ´nem Baseballschläger in der Hand.
Er riß die Tür auf.
`Komm raus, du Schwein, jetzt bist du dran. Dafür mach ich dich fertig.`
Nicole hatte mit dem Blasen aufgehört, und Rico saß jetzt mit seinem Steifen da und lachte Marvin an, als wäre der sein Lieblingsbruder, der gerade Geburtstag hat.
Marvin hat mit voller Wucht zugeschlagen, und ich dachte erst, Ricos Kopf wär für´n Eimer. Aber das hat den nicht mal gejuckt. Der hat einfach sein Ding eingepackt und ist lachend aus dem Wagen raus. Da hat er sich gleich noch eins eingefangen. Aber genausogut hätte Marvin auch auf Asphalt schlagen können.
Den dritten Schlag wehrte Rico ab, dann hielt er plötzlich den Schläger in der Hand. Er schubste Marvin nach hinten weg, und ich konnte nichts mehr sehen.
Gleichzeitig sind Frank und ich aus dem Wagen gesprungen. Ich war von dem verdammten Suff ziemlich wackelig auf den Beinen, daher war Frank schneller bei den Beiden. Er sprang Rico in den Rücken, der gerade mit dem Schläger ausgeholt hatte, um dem am Boden liegenden Marvin eins überzuziehen.
Nicole saß immer noch im Wagen, hatte die Hände vor´s Gesicht gepreßt und schrie wie am Spieß. Am liebsten hätte ich ihr da eine gescheuert, das war echt kaum auszuhalten.
Frank war mit Rico zu Boden gefallen. Marvin rappelte sich auf und humpelte auf die Beiden zu. Es war ein zu großes Durcheinander, ich konnte nicht genau sehen, wen Marvin traf, aber er trat wie von Sinnen auf die Körper ein.
Dann plötzlich kreischte Frank wie ein Irrer. Er wälzte sich zur Seite. Rico hatte ihm ins Gesicht gebissen. Seine Nase war zur Hälfte weg. Einfach nicht mehr da. Als Marvin erneut zutreten wollte, hielt Rico mit dem Baseballschläger dagegen. Es knirschte übel. War aber nicht das Holz; Marvins Schienbein war hin.
Das ganze Geschreie ging mir echt an die Nerven. Ich wollte Marvin und Frank noch helfen, aber blöderweise bin ich gestolpert und auf den Boden gestürzt. Danach hatte ich Sendepause. Ich weiß nur, wie ich auf ´ner Trage wieder zu mir gekommen bin. Hab noch einen Blick auf Marvins Karre werfen können. Die Scheiben waren voller Blut. Dann haben sie mich in den Krankenwagen verfrachtet.
Ich glaub fast, der Alkohol hat mir das Leben gerettet.“
Einige Sekunden war es still in dem Raum.
„Das also ist an diesem Abend geschehen?“ ergriff Spengler schließlich das Wort.
„Ja... das ist alles, was ich weiß.“
„Hm...“ Spengler blätterte wieder in seiner Akte. „Völlig frei erfunden scheint die Geschichte nicht zu sein. Die Leichen Ihrer Freunde – ich will sie mal so nennen – waren ziemlich übel zugerichtet. Überall Frakturen, Schädelbasisbrüche... stumpfer Gegenstand, steht hier. Der wurde aber nicht gefunden. Merkwürdig nur, daß Sie am Leben gelassen wurden. Finden Sie nicht auch?“
„Hören Sie, Mr. Spengler. Ich weiß auch nicht, warum er mir nichts getan hat. Vielleicht ist er gestört worden. Aber es war Rico. Ich hab damit nichts zu tun. Klar? Rico!“
„Man hat aber keine Spuren von diesem...“
Es war Rico! Und der Scheißkerl ist hinter mir her. Deswegen brauche ich Ihre Hilfe. Und zwar sofort. Ich brauche Schutz.“
„Sie sind hier sicher.“
„Sicher?“ Kevin schnaufte geräuschvoll. „Das glaube ich nicht. Ich habe Ihnen noch nicht alles erzählt. Wollen Sie´s hören? Ja?“
Spengler schien eine scharfe Antwort auf der Zunge zu liegen, aber dann nickte er nur.
„Gut, Mr. Spengler, das Ganze klingt vielleicht ein bißchen abgedreht, aber es ist die Wahrheit. Ich hab Ihnen doch von dem Koks erzählt, das Rico immer dabei hatte. Es war zwei Tage, nachdem wir den Penner getroffen hatten. Wir hatten uns im Schuppen verabredet, und da der nie abgeschlossen war, konnte jeder rein. Ich war ein bißchen früh dran. Bin also rein und hab mich auf ´nen Holzschemel gesetzt. Dann hab ich so ein komisches Geräusch gehört, hinter der Trennwand. Ich bin hingeschlichen und hab durch ein Loch gespäht. Da saß Rico. Eigentlich hätte er mich hören müssen, aber er war wohl zu konzentriert auf seinen Kram. Er hockte vor einem kleinen Tischchen, und darauf lagen in einer Schale Knochen. Menschenknochen. Rico hat so ´ne klare Flüssigkeit drübergeschüttet. Na ja, das ging alles ziemlich schnell. Aus dem Knochen wurde ´ne dickliche Brühe. Die hat er dann in ein Tuch gegossen, und da tropfte die Feuchtigkeit heraus. Was übrigblieb, war sein verdammtes Koks. Noch pappig, aber das Zeug trocknete sicher schnell. Er hat´s in sein braunes Säckchen geschüttet. Und dann gab es noch Nachtisch. Erst dachte ich, es wäre sowas wie ´ne Qualle, was er in einem kleinen Plastiktütchen dabei hatte. Aber es war Gehirn, und ich will nicht mehr Kevin heißen, wenn das nicht von einem Menschen war. Er hat reingebissen, als wäre es sein Leibgericht. Ich bin sofort abgehauen, so leise wie möglich, und scheinbar hat er mich nicht gehört. Seit dem Tag hatte ich ´ne grausige Angst vor dem Typ. Ich hatte mir so fest vorgenommen, die Leute so bald wie möglich zu verlassen. Aber dann kam schon diese Nacht...
Verstehen Sie, Mr. Spengler? Rico hat nicht nur Tote gegessen, der hat sie auch noch geschnupft. Inhaliert oder so... Vielleicht war der Typ selbst schon tot.“
Spengler lächelte Kevin an.
„Mr. Cornell... ich habe ja in vielen Jahre schon eine Menge dummes Zeug gehört, aber das hier ist mit Abstand das Schärfste. Rico ist so eine Art Zombie, richtig? Und er ist der Mörder? Woher hatte er denn die schönen Knochen, hm? Und das Gehirn? Sie sollten...“
„Sie glauben mir nicht, was?“ Kevins Stimme überschlug sich fast.
„Nein, ehrlich gesagt, nicht so wirklich. Bei allem Verständnis für Ihre Situation, aber das dürften Sie dem Richter nur... hm, sagen wir, mühsam beibringen können.“
Kevin sprang auf.
„Gut, ok, ich verstehe. Tun Sie mir nur einen Gefallen... bitte!“
„Welchen?“
„Begleiten Sie mich zu meiner Zelle. Nur eine Minute.“
„Wieso...“
„Bitte, ich muß Ihnen da was zeigen. Etwas, das ich nach dem Morgenrundgang entdeckt habe.“
Spengler überlegte kurz, dann stimmte er zu. Ein Wärter begleitete sie durch die Anstalt.
Kevin betrat seine spartanisch eingerichtete Zelle. Spengler warf einen Blick hinein.
„Und? Was gibt es hier zu sehen?“
„Sie sagten, ich sei hier sicher, richtig?“
Spengler tauschte mit dem Wärter einen amüsierten Blick aus.
„Ja, Mr. Cornell, hier sind Sie sicher.“
Kevin trat an das Bett und zog die Decke mit einem Ruck zur Seite.
„Und was zum Teufel ist dann das hier?“
Spengler warf einen Blick auf das weiße Laken.
„Was denn, Mr. Cornell?“
„Verfluchte Scheiße... Ich bin doch nicht bescheuert!“
Mit einem Satz sprang er auf Spengler zu, packte ihn an der Krawatte und schüttelte ihn durch.
„Da war vorhin ein Baseballschläger. Holen Sie mich verdammt noch mal hier raus. Rico wird...“
Der Wachmann brach Kevin fast das Handgelenk, als er ihn mit einem geübten Griff von Spengler fortriß und auf das Bett stieß.
„Holen Sie mich hier raus, Sie Arschloch!“
Dann war die Tür zu.

Zwei Tage später war Kevin Cornell ein nervliches Wrack. Die letzten Nächte hatte er nicht mehr geschlafen, die Rundgänge und das Essen verweigert.
Jetzt saß er auf seinem Bett, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke.
Der Anstaltsarzt hatte ihm ein Beruhigungsmittel injiziert. Kevin fühlte die bleierne Müdigkeit in jeder Faser seines Körpers, aber er versuchte verzweifelt, nicht einzuschlafen. Rico war nicht Freddy Kruger, dennoch schien das Wachsein die bessere Alternative zu sein; besser jedenfalls, als völlig wehrlos dazuliegen.
Kevin verlor den Kampf. Seine Augenlider senkten sich so unwiderstehlich, als wären sie ferngesteuert. Die Wange juckte. Er wollte sich kratzen, aber das ging nicht mehr – er hatte sich die Fingernägel bis auf das Nagelbett abgekaut, und der blutverkrustete eitrige Schorf der Entzündungen war nur ein mangelhafter Ersatz.
Während seine Finger noch wie die schlaffen Glieder einer Marionette über sein Gesicht streiften, kippte er vollkommen erschöpft zur Seite. Er war bereits eingeschlafen, als sein Kopf das Kissen berührte.
Als er erwachte, war es Nacht. Der schmale Lichtkorridor, den der Mondschein durch das vergitterte Fenster warf, konnte die Zelle kaum erhellen; er wirkte wie ein auf den Boden gemalter Fleck.
Kevin richtete sich auf und lehnte sich gegen die Wand. Der Schwindel kam so überraschend wie er heftig war.
„Scheiße!“ keuchte er.
„Sollst du fluchen?“
Die helle Stimme preßte ihm das Urin aus der Blase. Seine Hände krallten sich in den weichen Stoff des Bettbezugs.
„Kevin, hey, ich bin´s doch nur, Rico. Kein Grund zur Panik.“
Das Dunkel der hinteren Zimmerecke verlor seine starre Anmut; eine Gestalt löste sich heraus und trat in den Lichtspalt. Die Schatten der Gitterstäbe hinterließen auf der hellen Sommerjacke ein Muster, das Kevin an alte Sträflingsanzüge erinnerte.
„Rico... du?“
„Wer sonst? Freut mich, dich zu sehen, alter Junge.“
Rico hockte sich neben Kevin auf das Bett und lächelte ihn an.
„Überrascht? Weißt du, mein Freund, du hast mir von den Jungs am meisten gefallen. Ganz ehrlich. Schön, jetzt bei dir sein zu können.“
Rico legte seinen rechten Arm um Kevin.
„He“, lachte er, „du zitterst ja. Ist dir etwa kalt?“
Kevin starrte auf seine Knie. Der Atem von Rico roch nach vergammeltem Blumenkohl.
Vielleicht waren es ja gar keine Gehirne... vielleicht war es nur Blumenkohl...
Rico lehnte seine Stirn an Kevins Schläfe.
„Du sagst ja gar nichts. Na komm schon, zier dich nicht so. Hm?“
Kevin wollte zur Seite rutschen, aber Ricos Arm hielt ihn davon ab.
„Wo willst du denn hin? Magst du mich denn nicht?“
„Rico... bitte... Scheiße, Mann, wie bist du hier... was willst du?“
„Ich will dich.“
Ricos Zunge glitt über Kevins Wange und hinterließ einen klebrigen Speichelfaden auf der Haut.
„Ich brauche dich, Kevin. So wie all die anderen vor dir.“
„Rico, ich... bitte... bitte...
„Jaaa“, hauchte Rico beinahe zärtlich in Kevins Ohr, „ich mag es, wenn sie betteln. Ich mag es, wenn du bettelst. Fleh mich an! Tu es! Das zeugt von Demut und macht es so... besonders. So würdelos und häßlich.“
Rico griff unter seine Jacke, zog einen Baseballschläger hervor und legte ihn auf seine ausgestreckten Beine. Auf dem Holz waren dunkle Flecken.
„Warum versteifst du dich? Keine Angst, ich werde dich nicht erschlagen. Das wäre zu gewöhnlich.“
Wieder griff er unter seine Jacke. Diesmal brachte er eine kleine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit zum Vorschein. Mit einer Hand schraubte er den Verschluß ab und besprenkelte Kevins Bein mit der wässrigen Substanz. Das Zeug fraß sich wie Säure durch den Schlafanzug. Als es in die Haut eindrang, öffnete Kevin den Mund zu einem Schrei.
Rico war schneller. Er preßte seine Lippen auf Kevins Mund. Seine Zunge glitt in den Rachen des Zuckenden, rauh und heiß, länger und immer länger werdend, den Hals hinunter, Gewebe zersetzend, in das Herz hinein...
Auf dem Gipfel seiner blasphemischen Lust stöhnte Rico auf. Das Leben mochte voller Emotionen sein, aber das Sterben war unvergleichliche Ekstase. Nichts kam dem gleich. Mit einem Gefühl der Allmächtigkeit vollendete er sein Werk.

David Spengler kam gerade aus der Mittagspause zurück in sein Büro, als er den Anruf aus dem Innenministerium erhielt. Kevin Cornell war tot. Eine verdammte Schweinerei, wie Staatssekretär Johnson in den Hörer geschrien hatte.
Der träge Bürokratenapparat war in heller Aufruhr. Das Schafott der Verantwortlichkeiten wurde aufgestellt – es würden Köpfe rollen.
Niemand konnte sich den Zustand der Leiche erklären. Von der Hüfte abwärts war Cornell einfach nicht mehr existent gewesen, als hätten sich seine Beine in Luft aufgelöst. Erste Untersuchungen am Fundort deuteten zudem auf starke innere Blutungen hin. Das Bettzeug und die Bodenfliesen wiesen säureähnliche Verätzungen auf. Unter dem Fenster hatte ein Baseballschläger an der Wand gelehnt.
„Der Bursche braucht dann keinen Freigang mehr, was?“ hatte Johnson getobt. „Wenn ich den zu fassen bekomme, der da Bockmist gebaut hat, dann hack ich ihm die Finger eigenhändig ab.“
Spengler atmete erleichtert auf, als das Gespräch beendet war. Er lockerte seine Krawatte und lehnte sich im Sessel zurück. Schweiß perlte auf seiner Stirn, das Fischragout in seinem Magen schien wieder lebendig zu werden. Er verspürte den Drang, auf die Toilette zu rennen und sich einen Finger in den Hals zu stecken.
Dafür verklag ich dich, du schmieriger Koch. Wahrscheinlich war der Lachs verdorben. Hoffentlich bist du gut versichert.
Ein Geräusch riß Spengler aus seinen Gedanken. Es hatte sich angehört wie jemand mit einem starken Schnupfen, der die Nase hochzieht. Aber außer ihm selbst war doch niemand in diesem Raum...
Gehetzt blickte er sich um. Nichts, alles nur Einbildung.
(Hören Sie das? Ich steh mächtig unter Strom, müssen Sie wissen...)
Er war allein in seinem Büro. So wie immer. Ganz allein.

 

Erstens würde ich davor noch kurz Kevins Gedanken bringen, was er gesehen hat auf seinem Bett,
wird hiermit zurückgezogen, weil du haben richtig :dozey: habs übergelesen. Nur würd ich vorschlagen, dass sich dein Prota daran erinnert, dass der Baseballschläger blutig war *horrorblickkrieg* :D

 

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