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Replika
Ich stand etwas abseits, unter einer kahlen Eiche, deren Äste mit Raureif überzogen waren, und zuckte zusammen, als Krähen hinter mir davonstoben. Es roch nach Schnee und nasser Erde. Blassrote Schlieren am Himmel wie Narben von Peitschenhieben.
Die Grabrede des Pfarrers war nicht zu hören – ganz gleich, wie sehr ich mich auch konzentrierte. Meine Hände spürte ich kaum mehr, ballte sie zu Fäusten, pustete hinein und suchte die Trauergemeinde nach bekannten Gesichtern ab. Ich fragte mich, ob ich den Mann wiedererkennen würde, der inzwischen in seinem bitterkalten Loch lag, und musste an diesen Film denken: 'Fireman', nein, 'Backdraft – Männer, die durchs Feuer gehen'.
Die Sonne war gut gelaunt, strahlte mit mir um die Wette und verwandelte den Mittwoch in einen echten Sommertag. Mutter hatte Eintrittskarten besorgt, ich durfte die Schule schwänzen, und wir feierten meinen Geburtstag in einem Freizeitpark.
Wenn ich in der Achterbahn an ihr vorbeisauste – Tränen vom Fahrtwind in den Augen –, riss sie die Hände nach oben, rief laut meinen Namen und johlte.
Am Abend sollte ich ihr eine weitere Flasche Wein aus dem Keller holen, da fand ich ein Polaroid in einer Schuhschachtel. Ein Mann war darauf zu sehen. Grübchen auf dem Kinn, schwarzes Haar – offenkundig schwer zu bändigen – und rote Augen, als blickte er nicht auf das Objektiv der Kamera, sondern in ein glühendes Inferno. Wie ein Firefighter in Amerika, der Buschbrände bekämpfte oder Feuersbrünste in New York. Einer der 'Männer, die durchs Feuer gehen'. 'Backdraft', der Film hatte mich damals gefesselt und wir Jungs unterhielten uns oft in der Schule darüber.
Als ich meiner Mutter das Foto zeigte, riss sie es mir aus der Hand, zerfetzte es und warf es in den Abfall.
Meine Zehen wurden taub, ich rieb sie am glatten Leder der Einlegesohlen. Mir war nach einer Zigarette, ich hatte genug von all dem hier – was sollte das auch bringen! Ein Mann löste sich aus der Gruppe und steuerte auf mich zu. Wie ein Signal zum Aufbruch war das. Ich wandte mich ab und marschierte Richtung Ausgang, trat durchs rostzerfressene Tor, steckte mir eine an und hielt auf die nächste Haltestelle zu.
»Jorma?«
Ich drehte mich um. Der Mann stieß Dampf aus wie eine alte Maschine, hielt die Hände in den Hüften und sagte: »Du bist es, oder?«
Ich nahm noch einen Zug, schmiss die Kippe zu Boden und drückte sie mit dem Absatz aus. »Wer will das wissen?«
Er pumpte noch ein-, zweimal nach Luft. »Dieselbe Statur wie dein Vater.« Er lächelte. »Als er in deinem Alter war, versteht sich.«
Was ich erst für einen Leberfleck neben dem rechten Auge gehalten hatte, entpuppte sich nun – bei näherem Hinsehen – als eintätowierte Spinne.
»Und du siehst ihm verdammt ähnlich«, sagte er. »Bei Gott! Wirklich wahr!« Er streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin der Harald. Hab' dir geschrieben.« Die Spinne begann zu tanzen, während sein Lächeln noch breiter wurde.
Am dunklen Tresen saßen nur wir beide, John Coltrane blies im Hintergrund das Sopransaxofon.
»Pils?«, fragte Harald.
»Wasser, wenn es hier so was überhaupt gibt.«
Seine Stirn legte sich in Falten, ich zuckte mit den Schultern. Dann lächelte er. »Das hier war eine der Stammkneipen deines Vaters.«
Harald bestellte, ich sah mich um. Rauchschwaden hingen in der Luft, vergilbte Film- und Konzertplakate zierten die Wände. Das Mobiliar sah aus, als sei es Stück für Stück zusammengetragen worden, vielleicht vom Sperrmüll – so wie die Gäste hier.
»Nett«, sagte ich, Coltrane setzte zum 'Olé' an.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Harald, Schaum vom Bier hing an seiner Oberlippe. Er wischte ihn mit dem Jeansärmel ab und schob das Wasser in meine Richtung.
»Die kennen Sie auch?«
»Du.«
Ich stutzte.
»Sag doch du zu mir – also Harald, okay? Lass einfach diese Siezerei-Scheiße.«
»Alles klar. Harald, ja?« Wir stießen an.
Er spitzte den Mund und nickte kaum merklich. »Also, ich kenne sie nicht persönlich, deine Mutter, aber dein Vater hat von ihr erzählt.«
»Und du kanntest meinen Vater ... woher? Aus dem Knast?«
Die Spinne tanzte wieder. »Nein, nein.« Er winkte ab. »Alte Freunde.«
»So«, sagte ich. »Alte Freunde.«
»Das will ich meinen.«
Das Wasser war lauwarm, schmeckte nach Eisen. Ich spuckte es ins Glas zurück, winkte den Wirt herbei und bestellte ein Export. »Ich hatte mal ein zerfleddertes Foto von ihm.« Mein Blick wanderte wieder zur Spinne, ich konnte mich nicht dagegen wehren.
»Deinem Vater?«
Ich nickte. »Hab' es oft heimlich angesehen. Im Bett. Als ich noch klein war.« Meine Finger tasteten nach der Zigarettenschachtel in der Jackentasche. »Mutter hat's zerrissen und ich hab’s aus dem Müll gefischt. Mit Tesa zusammengeklebt. Mann! Wenn ich sie im Flur gehört hab' ... Das Foto war dann so was von schnell unter der Decke.« Ich zündete mir eine Kippe an, Rauch stieg auf, ich kniff ein Auge zusammen. »Richtig Herzrasen hatte ich. Und immer das Gefühl, was falsch gemacht zu haben.«
Harald stützte sein Kinn auf die Hand, mit der anderen ließ er die Biertulpe um die eigene Achse drehen.
»Manchmal hat sie gesagt: Du bist wie dein Alter.« Ich schüttelte den Kopf. »Konnte nicht wirklich was damit anfangen, Sie verstehen, warum – du verstehst, warum. Und als ich sie letzte Woche im Heim besuche, sagt sie echt, sie wär’ stolz auf mich.« Ich lachte kurz auf. »Naja, sie wird's beim nächsten Mal vergessen haben. Vergisst alles. Alzheimer.«
»Hm. Das tut mir leid«, sagte Harald.
»Das muss es nicht.«
»Thorsten hat auch seinen Alten verloren – deinen Opa. Allerdings durch einen Unfall, da war er noch kaum auf der Welt. Ich weiß nicht, ich hatte manchmal das Gefühl, er wär’ nie darüber hinweggekommen.«
Ich schnaubte. »Wie kann man was vermissen, das man kaum kennt?«
»Keine Ahnung«, sagte Harald, »war halt so ein Gefühl.«
Mir war Osteuropa gut vertraut, ich war in China unterwegs und im Urlaub schon sonst wo, aber Berlin hatte ich nie zuvor besucht. Dabei kannte ich die meisten Großstädte Deutschlands recht gut – das brachte der Job so mit sich. Ausgerechnet die Beerdigung meines Phantom-Vaters führte mich hin – ich hatte gleich mehrere Übernachtungen eingeplant. Wollte mir eine Auszeit gönnen, wusste nicht, was die ganze Geschichte mit mir machen würde. Also war ich damit einverstanden gewesen, mich ein weiteres Mal mit Harald zu treffen. »Ich hab' da noch was, das dich interessieren wird«, hatte er gesagt und ein Café zwischen Berliner Dom, der Alten National- und Gemäldegalerie vorgeschlagen. Vielleicht mochte ich ja Museen, hatte er auf meine hochgezogene Augenbraue erwidert und ins Schwarze getroffen. Das Pergamonmuseum interessierte mich. Vor allem die Rekonstruktionen – Markttor von Milet, die Mschatta-Fassade – , die Statuen.
Das Fenster des Cafés reichte bis zum Boden. Ich beobachte das Treiben ringsum, löffelte Milchschaum und gabelte Kuchen in mich rein. Eine Frau mit eisengrauem Dutt raschelte mit der Zeitung, hinter mir zischte die Siebträgermaschine und ich genoss den Duft nach Kaffee.
Klassisch in Schwarz – Ringelhemd, weiße Handschuhe und Barrett – heftete sich ein Pantomime draußen an die Fersen der Fußgänger. Einen Mittfünfziger im Businessmantel spiegelte er präzise wider. Der Imitierte blieb stehen, sah auf seine Armbanduhr und der Mime rempelte ihn von hinten an.
»Jorma?«
Der Teelöffel fiel mir aus der Hand und fiel klappernd auf die Untertasse. Die Frau mit Dutt blitzte mich über die Schulter hinweg an. »Entschuldigung«, sagte ich, dann: »Harald.« Der sah mir fragend in die Augen, ich erhob mich und reichte ihm die Hand, deutete mit der anderen eine einladende Geste an.
»Alles in Ordnung?«
Ich nickte. »Ja, klar, alles gut.« Dann setzten wir uns.
»Okay.« Er lehnte sich im Stuhl zurück. »Haste Lust auf Biedermeier? Was Zeitgenössisches?« Harald ließ den Blick umherschweifen, der Laden war geschmackvoll aus- und eingerichtet. Kleine Details, in Anlehnung ägyptischer Kultur hier und da. »Wir wär's mit Antike?«
»Nimm's nicht persönlich«, ich tupfte mir den Mund mit einer Serviette ab, schob den leeren Kuchenteller an den Tischrand, »aber, dass du so ein Kunstmensch bist, hätte ich ehrlich gesagt nicht vermutet.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, wieder schlug mich die Spinne in ihren Bann. »Tja, manchmal steckt eben mehr in Menschen, als man glaubt. Stimmt's?«
»Die Spinne«, sagte ich und nickte in die Richtung.
Harald traf sie exakt mit dem Zeigefinger und kniff kaum merklich das Auge zusammen. »Die? Sie erinnert mich an ein anderes Leben. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sehe.«
»Verstehe.« Ich nickte. »Was willst du trinken?«
Harald kramte in seinen Hosentaschen und legte einen Schlüsselbund auf den Tisch, ein billig aussehender silberner Totenschädel hing daran. »Wir können auch gleich aufbrechen.«
»Was ist das?«
»Ich hab' einen Zweitschlüssel von Thorstens Wohnung. Ich dachte ... Vielleicht willst du mal sehen, wie dein alter Herr so gehaust hat, bevor sie die Bude ausräumen.«
Die Schlüssel lagen vor uns – die Bedienung trat an den Tisch – und ich fragte mich, welcher wohl in die Wohnungstür meines Vaters passte. »Zahlen, bitte.«
Harald spitzte die Lippen, griff nach den Schlüsseln und steckte sie ein.
Keine Hochglanzfassade – roter Backsteinklinker, aufgesprühte Schriftzüge –, ein Wohnhaus, wie es für Berlin wohl typisch ist. Vaters Reich befand sich im zweiten Obergeschoss. Der Name ‘Bode’ neben dem Klingelknopf irritierte mich.
Harald schloss die schwere Holztür auf und verschwand im Inneren. Ich folgte nicht gleich.
»Na, was denn? Kommst du?« Er stand wieder im Türrahmen.
»Ich weiß nicht. Was soll ich hier?«
Harald gab den Weg frei, verbeugte sich leicht und machte eine Geste, wie sie ein Hotelboy machen würde. Ich schüttelte den Kopf, trat aber ein.
»Na, also«, sagte er und klopfte mir von hinten auf die Schulter, »war doch gar nicht so schwer.«
Der Flur war hell. Abgeschliffener, geölter Dielenboden, hohe Decke, Stuckrosette und Industrielampe. An der Wand hingen Banksy Kunstdrucke – ‘Follow your dreams’, ‘Don’t forget to eat your lunch’.
Harald ging voraus, Richtung Küche. Ich setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, sah nach rechts ins Wohnzimmer. Die antikbraune Ledercouch hatte schon bessere Tage gesehen, Bücherregale gaben kaum was von der Wand frei. Links das Schlafzimmer, Holzbett – vermutlich selbstgezimmert –, weißer Bauernschrank, floral bemalt.
In der Küche saß Harald bereits am kleinen Tisch. »Und?«
»Nett«, sagte ich.
»Setz dich doch, oder sieh dich um – irgendwas.«
»Hör zu, mir kommt das irgendwie nicht richtig vor, okay. Er hat meine Mutter geschwängert, hat einen umgelegt und das war’s dann. Ich hab’ den Mann nie kennengelernt und hier ist nichts, das irgendwas mit mir zu tun hätte. Außer dem Namen an der Tür vielleicht. Also ...«
»Warte mal einen Moment, ja?«
Ich schnaubte, setzte mich aber. Harald verschwand im Wohn-, gleich darauf im Schlafzimmer und kehrte mit ein paar eingerahmten Fotografien zurück, die er vor mir auf den Tisch drapierte. Da war ich, vielleicht drei Jahre alt und kickte gegen einen dieser aufblasbaren Wasserbälle mit Regenbogenmuster. Ein Klassenfoto daneben, kurz nach der Einschulung aufgenommen – ich konnte mich gut an die Schultüte erinnern, die ich zusammen mit meiner Mutter gebastelt hatte. Ein Foto von ihr war auch zu sehen. Eine noch kinderlose Frau strahlte in die Kamera. Sie war jung. Blonde Haarsträhnen und ein blaues Tuch um ihren schmalen Hals wehten wie Gebetsfahnen im Wind. Graue Gischt im Hintergrund, der Himmel wie aus Marmor.
»Woher hat er die?«
»Von deiner Mutter, schätze ich.«
»Das glaub’ ich nicht.«
Harald zuckte mit den Achseln.
Ich stapelte die Bilder zu einem schiefen Turm auf und schob ihn in die Tischmitte. »Was hat er eigentlich gemacht?«
Harald runzelte die Stirn.
»Nachdem er rauskam, meine ich.«
»Hat einen Job bei der Stadt bekommen. Straßendienst, Grünarbeiten und so.«
»Und du? Was machst du so – beruflich?«
»Bin ein waschechter Berliner Taxler und Ex-Fernfahrer.«
Ich nickte.
»Ich hab’ deinen Namen gegoogelt. Spedition Bode. Bist du das?«
»Spedition und Großhandel, ja, das bin wohl ich.«
»Hast es zu was gebracht, hm?« Harald sah auf meine Cartier am Handgelenk.
Man nannte mich 'der Finne', klar, wegen 'Jorma', und tatsächlich hatte ich einen finnischen Urgroßvater, der genauso hieß. Ich spreche allerdings weder die Sprache, noch habe ich das Land je besucht. Schon Mutter verstand kein Suomi mehr.
‘Finnische Ware’ bedeutete für meine Abnehmer: gute Qualität, unter falschem Label, zu einem fairen Preis. Die Hersteller saßen in Indien, Afrika und China. Ich bevorzugte die Chinesen. Die dachten so: Wer wenig Geld hatte, bekam Schrott. Wer mehr hinblätterte, bekam auch ordentliche Ware. Und die Chinesen liebten Geld ebenso wie ich.
Ich hatte Schrott auf Flohmärkten und Kleiderbörsen verkauft, einiges auf eBay. Dem Verbraucher ging es ausschließlich um die Marke – Material und Verarbeitung waren ihm egal. Heuer belieferte ich, neben Auftragsbestellungen, sogar Einzelhändler. Die achteten auf Qualität und die bekamen sie halt auch, und wenngleich meine Gewinnmarge nicht mehr wie früher bei dreihundert, sondern nur noch um die zweihundert Prozent lag, ich hatte es vom Kleindealer zum Großhändler und Spediteur gebracht und gutes Geld damit verdient. War sogar lukrativer, als mit Drogen zu dealen, und niemand konnte sagen: Der da hatte seine Million mit Rauschgift gemacht. Höchstens: Der da hatte sie mit Klamotten und Taschen eingefahren. War schon ein großer Unterschied. Wer auf gefälschte Mode umstieg, veränderte sein ganzes Leben. Er musste nicht fürchten, bei Revierkämpfen eine Kugel einzufangen, und wenn man ihn erwischte, fuhr er höchstens für ein paar Jährchen ein.
Harald hatte mir mehrere Mails geschickt, noch einen Brief geschrieben. Wie hätte ich anders können, als ihn einzustellen? Die Schnauze voll von Taxen, Berlin, dem ganzen Scheiß um sich herum, hatte er darin zum Ausdruck gebracht. Er wollte neu anfangen, und ich respektierte das, mir war klar gewesen, dass sich da einer an mich ranmachte, der den Tod meines Alten dazu benutzt hatte. Aber hey, etwas am Schopf ergreifen war ja auch mein Ding. Wie gesagt, ich respektierte das und besorgte ihm sogar eine Bleibe für den Anfang.
»Hier holst du den Container, und da«, mein Finger wanderte zu der Adresse auf dem Schriftstück, »fährst du den Kram hin.«
»Kann ich ... Ärger bekommen?«, fragte er.
Ich runzelte die Stirn, einer meiner MAN fuhr heran, der Fahrer hupte, ich hob die Hand zum Gruß. »Wieso solltest du?« Die Papiere rutschten mir aus der Hand, ich stöhnte, als ich mich danach bückte, hob sie auf und ließ Harald erneut reinsehen. »Die Fabrik hier, nein, ich spreche das jetzt nicht aus, jedenfalls aus Zhengzhou«, er lachte auf, »liefert bestellte Ware an diese Firma in Marsdorf. Clemens August Heckmann heißt der Unternehmer. Meine Spedition hat dazu den Auftrag erhalten, und du, Harald, fährst nur den Laster. Wo liegt das Problem?«
»Kein Problem, ich dachte nur ... Keine Ahnung, ich hab’ hier ein bisschen was mitbekommen, und ...«
»Mach dir nicht so viele Gedanken, okay? Dir wird nichts passieren.«
Harald wuchs mir ans Herz, ja, hätte ich anders nicht sagen können. Er hatte sogar meine Mutter besucht und sie zum Lachen gebracht. Meine Mutter und Lachen. Keine Ahnung, wie er das geschafft hatte, Mutter übrigens auch nicht. Die konnte sich natürlich an nichts mehr erinnern.
Ich erzählte Harald bald, wie ich mich von ganz unten hochgearbeitet, ein Unternehmen gegründet hatte; dreißig, vierzig Mitarbeiter, zudem mehrere Firmen, auch wenn sie nicht immer auf mich eingetragen waren.
»Clemens August Heckmann?« Ich lachte. »Schau mal auf Wikipedia. War ein Verwaltungsarsch, längst verbuddelt.«
Er sprach über meinen Vater, wie ihn der Knast verändert hatte, dass er nach der Entlassung so was wie ein Geläuterter gewesen sei. Ich hörte mir das alles an, aber eigentlich interessierte es mich nicht.
»Sag mir, warum hat er den Mann umgelegt, Harald, hm? Hätte er ihm nicht ins Knie schießen können oder so was?«
»Ich weiß nicht. Der Mann stand halt zufällig zwischen Thorsten und dem, was er sich erhofft hat.«
»Und dafür einfach abknallen? Mann! Wusstest du, dass der Feuerwehrmann war? Der wollte ihn halt aufhalten. Muss man sich dafür gleich den Kopf wegschießen lassen? Ich versteh’s nicht.«
Harald hob nur die Schultern. Mein Blick war auf die Spinne gerichtet, sie blieb völlig regungslos.
Harald fuhr bald nicht mehr im Dreißigtonner, sondern neben mir im Benz. Er trug weiße oder schwarze Hemden – kein Denim, kein Fake, echte Ware – und seit Neuestem so eine lächerliche Texas-Krawatte, ein Bolotie, auf dessen Brosche ein silberfarbener Stern strahlte. Na ja, ihm gefiel das eben.
Er flippte schier aus, als ich ihn mit nach Hongkong einlud, auch wenn ich ihm klar gemacht hatte, dass kaum Zeit für eine Besichtigungstour sein würde. Es ging um eine größere Sache, ich kaufte Waren im Wert von dreihunderttausend Dollar ein. Harald war nicht nur bei den Vorgesprächen, sondern auch in der Sauna mit dabei. Immerhin musste ich dort die Schnürsenkel-Krawatte nicht ertragen. Wenn er wenigstens waschechter Texaner gewesen wäre. Egal. Details besprachen Chinesen jedenfalls stets in der Sauna, und mir gefiel das, ich mochte Saunen, schließlich war ich ja auch ‘der Finne’.
Der Deal wurde abgeschlossen. Hochwertige No-Name-Taschen, edle No-Name-Schuhe. Lief wie am Schnürchen.
Das nächste Geschäftsgespräch führten wir gleich am darauffolgenden Abend im hoteleigenem Dampfbad – dort ging es um Labels: Gucci, Prada. Der Mann verlangte zu viel, letztendlich einigten wir uns dann aber doch. Sogar die Strichcodes waren perfekt, ich musste einfach zuschlagen.
Zurück in Deutschland wurde gefeiert. Nur die engsten Mitarbeiter. Ich ließ mich nicht lumpen, es gab Schampus, Langusten, französischen Wein – und leichte Mädchen.
In der Bar fragte Harald: »Wieso hast du eigentlich keine Frau an deiner Seite?«
Ich drückte die Brünette in schwarzen Seidenstrümpfen noch enger an mich heran: »Hab ich doch!«
»Nein, du weißt schon.«
»Ich hab’s einfach nicht so mit Frauen, okay?«
Etwas gefror in Haralds Gesicht, er sah beinahe so ausdruckslos aus wie eine dieser Statuen im Museum. Dann verstand ich, lachte auf und schlug ihm aufs Knie; die Mädchen kicherten. »Nicht so wie du meinst, Mann! Ich bin kein Beziehungsmensch, wollte ich sagen.«
Und dann der Samstag. Alles war unter Dach und Fach und verkauft und überhaupt. Die Gewinnmarge lag nicht wie sonst bei etwa zweihundert, sondern dreihundert Prozent! Ich hatte mich in Schale geworfen, stolzierte leichtfüßig übers Firmengelände und rief Harald ins Büro.
»Hier«, sagte ich, der Umschlag war prall gefüllt, »dein Anteil. Gönn’ dir mal was Schönes!« Ich schob ihn Harald in die Innentasche des Sakkos, dann trat ich einen Schritt zurück. »Oh Mann! Jetzt vermisse ich doch tatsächlich schon deine Scheiß-Krawatte. Ist das zu glauben?« Ich prustete los, doch er verzog keine Miene, griff nach der Kohle und schmiss sie auf den Schreibtisch.
»Ich will dein Scheiß-Geld nicht, okay!«
Mir stand der Mund offen, ich schüttelte den Kopf, Harald drehte sich um und verschwand. »Hey!«, rief ich ihm noch nach, dann kreischten Bremsen und Blaulicht flackerte durch mein Büro.
Die Akte vor ihnen war dick, sie zeigten mir Videos: Lagerhäuser, Geschäftspartner, Waren, Labels. Auch von den Chinesen, die mich nicht gleich ernst genommen hatten, ein spöttisches Grinsen hier, eine gönnerhafte Geste da – mir fiel das erst jetzt auf, während ich mich selbst und die Asiaten auf einem Tablet betrachtete. Und all das aus einer kindlichen Perspektive heraus, als könnte ich die Filmszenen aus den Augen eines Sohnes oder einer Tochter mitansehen. Dann kapierte ich, die Scheiß-Krawatte! Der lächerliche Halsschmuck!
Ich hätte auf meinen Anwalt warten sollen, ich wusste das, konnte aber nicht widerstehen. »Fünfhundert Milliarden werden jährlich auf dem Schwarzmarkt umgesetzt, ich bin da bloß ein kleines Licht. Und«, ich legte die Hände auf den Tisch, die Handschellen klirrten, »ich hab’ niemandem wehgetan. Im Gegenteil.«
»Der Schwarzmarkt ist parasitär, ich muss da kotzen! Wissen Sie, wie viel Steuereinnahmen dadurch verloren gehen? Was das ihn«, der Scheiß-Beamte zeigte auf Harald, »und mich kostet?«
»Dreiunddreißig Angestellte arbeiten für mich. Alle zahlen Steuern, alle haben ein Auskommen, bestellen Kram im Internet und gehen bei Aldi einkaufen – oder bei Prada.« Ich zwinkerte den Männern zu.
Der Beamte schüttelte den Kopf, erhob sich und ging Richtung Tür, Harald, wenn er überhaupt so hieß, im Schlepptau.
»Hey!«, sagte ich.
Harald drehte sich um, den Mund wieder lächerlich zugespitzt.
»Eine Frage noch, Scheißkerl!« Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Kanntest du meinen Vater überhaupt?«
Der Judas erwiderte nichts, nur die Spinne regte sich.