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Reise nach Methusalem
Grau und schwer hängen die Wolken über der Arche, und das endlose Wasser hat alles verschlungen, was ich einst kannte. Die Menschen der neuen Welt werden sich kaum vorstellen können, wie es war, in einer Familie aufzuwachsen, in welcher der Großvater sein erstes Jahrtausend noch vor sich hatte. Sie werden nicht verstehen, wie man den schleichenden Verlust übersehen konnte, weil für jedes welke Blatt zwei neue sprossen. Wie der Herbst so sanft verlief, dass wir den Winter nicht kommen sahen.
Ein Stuhl aus Goferholz steht vor mir - dasselbe Holz, aus dem ich die Arche baute. In seinen Jahresringen ruht noch das Echo jener Tage, als Großvater uns sein Spiel lehrte.
'Familie', pflegte Großvater zu sagen, 'ist wie ein Baum. Je älter er wird, desto tiefer reichen seine Wurzeln.' Dann strich er sich meist über den Bart, der so lang war, dass er ihn zweimal um den Hals wickeln konnte.
Ich war kaum älter als zwanzig Jahre - in einer Familie, deren Zeit in Jahrhunderten floss, war ich noch ein Kind, das mit seinen Gewändern kämpfte. Die Familientreffen fanden in Großvaters Haus statt, einem weitläufigen Bau aus Zedern, dessen Balken sich unter der Last der Jahrhunderte bogen wie alte Äste.
Das Spiel war Methusalems Erfindung. 'Ein Stuhl weniger als Spieler', erklärte er, während er die Stühle im Kreis aufstellte. 'Und wenn die Musik aufhört, muss jeder versuchen, einen Platz zu finden.'
Seine Augen funkelten dabei wie die eines Kindes. 'Die Reise nach Jerusalem', nannte er es. Ein Wort, das keiner von uns verstand. Jerusalem? Wir kannten keine Stadt dieses Namens, keine Straße, die dorthin führte. Aber so war Großvater - manchmal sprach er von Dingen, die noch nicht waren. Ich aber, klein wie ich war, konnte dieses fremde Wort nicht aussprechen. 'Reise nach Methusalem', sagte ich stattdessen, wieder und wieder, bis alle es so nannten. Nur Großvater lächelte dann still.
Die Familientreffen waren wie Jahreszeiten - jedes anders und doch vertraut. Im Frühjahr brachten die Verwandten aus dem Süden würzigen Honig mit, im Sommer kam Onkel Tubal mit neuen Bronzeschalen, die er selbst geschmiedet hatte. Der Herbst gehörte den Geschichtenerzählern aus dem Osten, und im Winter drängten wir uns um das große Feuer in Großvaters Halle.
Die Treffen selbst waren wie ein eigener Kosmos. Tante Sarah, die trotz ihrer vierhundert Jahre noch rot wurde, wenn einer ihrer Witze zu gut ankam. Onkel Henoch, der seine Geschichten immer mit 'Damals, als die Welt noch jung war' begann, als hätte er den ersten Sonnenaufgang selbst gesehen. Die kleinen Zwillinge von Tante Naema - wobei 'klein' bedeutete, dass sie gerade erst ihr erstes Jahrhundert vollendet hatten. Und natürlich die Cousins, jeder mit seiner eigenen Art, sich einen Stuhl zu ergattern.
Für die Musik sorgte damals Onkel Tubal mit seinen Bronzeschalen. Oft wechselte er mitten im Spiel das Tempo, was besonders die älteren Familienmitglieder zur Verzweiflung brachte.
Großvater bewegte sich immer mit der gleichen Würde, egal wie schnell das Tempo war. Sein Bart schwang im Takt, und manchmal verfing sich ein jüngerer Cousin darin, was stets für Gelächter sorgte. 'Seht ihr', sagte Methusalem dann, 'mein Bart fängt die Unvorsichtigen, wie die Zeit die Eiligen fängt.'
Die Jahrhunderte glitten dahin wie Blätter auf einem Strom. Mit jeder Generation wurde der Kreis um die Stühle größer, die Musik lauter, das Gelächter vielstimmiger. Die Bronzeschalen meines Onkels, einst Herzstück unserer Treffen, gerieten an den Rand – erst kamen Trommeln hinzu, dann Flöten, bis die Schalen verstaubten, stumme Zeugen einer vergangenen Zeit.
Mit vierhundert Jahren begann ich die Zeichen zu sehen. Nicht nur die der kommenden Flut – die Bosheit der Menschen, der sich verdunkelnde Himmel. Nein, ich sah auch die feinen Risse in unserem Familiengefüge. Wie wir die Stühle unmerklich näher zusammenrückten, 'damit die Älteren nicht so weit laufen müssen.' Wie aus Tubals fließender Musik ein wilder Rhythmus wurde, bei dem die Alten die Köpfe schüttelten, während die Jungen ungeduldig mit den Füßen wippten. Wie Tante Sarah eines Tages nicht mehr kam, weil ihr 'die Reise zu beschwerlich' geworden war. Wie Onkel Henoch 'einen anderen Weg' ging. Euphemismen, die wir uns erzählten, während unser Familienbaum sich wandelte – die alten Äste verdorrten und neue Zweige in alle Richtungen trieben.
Nur Methusalem schien zeitlos, ein Fels in diesem Strom der Veränderung. In seinen Augen tanzte noch immer derselbe Funke wie am ersten Tag.
Unser letztes Familientreffen fiel in den Herbst. Die Luft war schwer vom Duft reifer Früchte, und goldenes Licht fiel durch die hohen Fenster in Großvaters Halle.
Zum ersten Mal sah ich Methusalem seinen eigenen Rhythmus verlieren. Er, der sich all die Jahrhunderte mit der gleichen Würde bewegt hatte, folgte nun mühsam dem Takt – sein Stock tastete über die Dielen wie ein Zeitzeiger, der plötzlich zu schwer geworden war.
Als die Musik aufhörte, geschah etwas Merkwürdiges. Wie eine einzige Welle bewegten sich alle auf Großvater zu. 'Hier, Großvater!', rief meine Schwester und sprang von ihrem Stuhl auf. 'Nein, hier!', rief mein Cousin und tat es ihr gleich. 'Dieser ist besser!', drängte eine Tante, 'nicht so weit zu gehen!'
Plötzlich standen mehr Leute, als Stühle frei waren. Cousins, die sich um die besten Plätze stritten, wichen zurück. Enkel, die eben noch um die Stühle gerannt waren, standen still. Methusalem, inmitten dieses Sturms der Fürsorge, lächelte. Die eine Hand den Stock fest umklammert, die andere ausgestreckt nach der nächsten Lehne. Alle waren so beschäftigt damit, ihm zu helfen, dass ich für einen Moment vergaß, dass auch ich noch einen Platz brauchte.
'Noah', sagte er später beim Essen, 'bring wieder von diesem guten Wein mit.' Er griff nach seinem Becher. 'Der macht meine alten Knochen geschmeidig.'
Der Regen kam wie ein Dieb in der Nacht. Methusalem, der Älteste der Alten, war eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Der große Saal stand fortan leer. Kein Kreis aus Stühlen mehr, keine Musik, kein Gelächter. Nur der Wind, der durch die Ritzen pfiff und mit Methusalems alten Schriftrollen spielte. Neunhundertneunundsechzig Jahre. Fast ein Jahrtausend voller Geschichten, und am Ende blieb nur Stille.
Vater überlebte ihn nur kurz. Er half noch beim Bau der Arche, hämmerte und sägte. 'Die Fugen müssen dicht werden', sagte er. 'Und vergiss nicht, die Stühle festzuzurren, wenn es losgeht.' Es sollten die letzten Worte sein, die ich von ihm vernahm.
"Opi?" Eine kleine Hand zupft an meinem Ärmel und reißt mich aus den Gedanken. Meine Enkelin steht vor mir, das Gesicht strahlend wie der Morgenstern über dieser Wasserwüste. In ihren Augen sehe ich denselben Funken, der einst in Methusalems Blick tanzte.
"Die Taube ist zurück! Mit einem Ölzweig!"
Langsam erhebe ich mich von meinem Stuhl. Der alte Goferholzstuhl knarrt dabei wie früher die Dielen in Großvaters Halle. Die Musik ist noch nicht verklungen - sie hat sich nur verändert, wie sich alles verändert.
"Willst du ein Spiel spielen?", frage ich sie.
Sie nickt eifrig. "Wie heißt es?"
"Reise nach Jerusalem."
"Was ist Jerusalem? Ich kenne nur– Methusalem", sagt sie.
Ich lächle.
Der große Familienbaum hat seine alten Äste verloren, aber hier, auf diesen schwankenden Planken, treiben neue Knospen aus. Der Sturm hat die Krone zerzaust, doch die Wurzeln reichen tief.