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Reise ins Nichts
Sie wusste, sie wird sterben. Sehr bald. Sie lag auf der Palliativstation des Krankenhauses und strich müde über die Stoppeln auf ihrem Kopf. Seit sie mit der Chemo aufgehört hatte, begannen ihre Haare wieder zu wachsen. Zögerlich, aber immerhin. Auf einer Seite des Bettes sass ihre Mutter und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, auf der anderen schaute ihr Vater versteinert ins Leere. Kurz vor dem Erwachsenwerden hatte es sie erwischt. Krebs, fortgeschritten, ohne Aussicht auf Heilung. Am Anfang war die Gewissheit der Unheilbarkeit ihrer Krankheit ein Schock und hatte sie wütend und traurig gemacht. Wobei sich die Wut und die Trauer abwechselten, manchmal im Minutentakt. Sie zog sich zurück, wollte ihre Ruhe haben, schnauzte ihre Eltern und Freunde an und wurde noch wütender, wenn alle sie behandelten, als müsste sie in Watte gepackt werden. Danach traf sie die Angst mit voller Wucht. Mitten in einer schlaflosen Nacht lief sie aufgewühlt durch das Haus. Ihr Herz raste, sie zitterte und fror, obwohl es eine laue Sommernacht war, und brach schluchzend zusammen. Damals durfte sie noch zu Hause bleiben. Das war die Phase, als sie auf ein Wunder hoffte. Bald darauf verbrachte sie immer mehr Zeit im Krankenhaus. Die Behandlungen, die sie über sich ergehen lassen musste, ertrug sie tapfer. Als nichts half, resignierte sie. Sie sprach weniger, lachte kaum noch und wich den Blicken ihrer Freunde und Verwandten aus.
Als schliesslich klar war, dass sie nicht mehr nach Hause zurückkehren konnte, begann sie alle, die sie im Krankenhaus besuchten, zu fragen, wie das war mit dem Tod und die meisten schauten verlegen weg und stammelten etwas vom Himmel und Jenseits und dass sie sich wieder sehen würden. Und immer verliessen sie so schnell wie möglich das Krankenhauszimmer. Ausser ihrem Onkel, der sagte ihr, dass er denke, nach dem Tod sei einfach alles vorbei. Das grosse Nichts nannte er dies und lachte, als hätte er einen Witz erzählt. Dabei tätschelte er seinen dicken Bauch. Sie starrte ihn fassungslos an und versuchte sich das grosse Nichts vorzustellen, was natürlich nicht ging, ohne sofort tausend Bilder im Kopf zu haben. Ihr Herz raste. Sie fühlte, wie sie in Panik geriet. Unerträgliche Panik, die sie ohnmächtig werden liess. Sie bekam nicht mehr mit, wie ihr Onkel hinausrannte, um Hilfe zu holen.
Später, sie hatte nach ihrer Ohnmacht ein wenig geschlafen, erwachte sie. Die Mutter sass an ihrem Bett auf dem bequemen Sessel, die Beine auf einem Hocker und schlief. Leise schnarchend mit offenem Mund und zur Seite geneigtem Kopf. Wie wird mir das fehlen, wenn ich im Nichts versinke, dachte sie und umarmte ihre Plüschkatze, die fast so aussah, wie ihre Katze zu Hause. Alles was ich kenne, aber vor allem alles, was ich nicht erleben werde, wird mir fehlen. Tränen liefen über ihre Wangen. Unendlich traurig war sie und dachte gleichzeitig: Wie dumm von mir, wenn nichts mehr ist, werde ich auch nichts vermissen. Sie drehte sich auf die Seite und stupste ihre Mutter an, so dass diese erwachte. Sie ertrug es nicht, in diesem Moment alleine zu sein.
Die Tage vergingen und sie wurde immer schwächer. Auf ihrer Löffelliste blieben nur noch wenige Wünsche, dann würde sie ihren Löffel endgültig abgeben können. Häufig döste sie in ihrem Bett und war froh um die vielen Schmerzmittel, die ihr ohne Kommentar verabreicht wurden. An das Nichts dachte sie so wenig wie möglich, denn sie spürte, wie es sie schwächte. Manchmal, wenn es ihr sehr schlecht ging, sie sich vor Schmerzen kaum noch bewegen konnte, schlich sich der Gedanke ein, dass sie froh sein würde, wenn alles vorbei war. Und schliesslich dachte sie, dass sogar das Nichts besser war, als das Leiden, das sie aushalten musste.
Doch noch immer hatte ihr niemand eine befriedigende Antwort darauf gegeben, wie das war mit dem Sterben und dem Tod, obwohl sie hartnäckig fragte. Auch die Sterbebegleiterin nicht, die nun häufig vorbeikam und sich zu ihr setzte. Sie war eine nette Frau, die sich redlich bemühte, ihr den Gedanken an das Nichts erträglicher zu machen. Sie gab ihr Berichte zum Lesen von Menschen, die bereits klinisch tot waren und wieder zurückgeholt wurden. Alle diese Menschen erzählten von einem Licht, das sie im Moment des Sterbens sahen, von innerem Frieden. Nach einem kurzen Blick in die Berichte warf sie diese achtlos in die Schublade ihres Nachttisches, setzte sich mit grösster Mühe im Bett auf und schaute nachdenklich in den Garten hinaus. Sie war überzeugt, dass die beschriebenen Sensationen eine Täuschung des Gehirns waren. Ausserdem glaubte sie nicht an einen Gott oder sonstige höhere Wesenheiten wie Engel oder ähnliches, obwohl sie ahnte, dass das Sterben für sie leichter wäre, gäbe es die Gewissheit des ewigen Lebens oder der Seelenwanderung. Doch da dies nicht ihrer Natur entsprach, unterhielt sie sich mit der Sterbebegleiterin weiter über das Nichts. Und diese runzelte die Stirn und strich sich über ihre kurzen, blonden Haare.
Kurze Zeit später erwachte sie aus einem traumlosen Schlaf und spürte, wie schwach sie war. Sie hatte kaum noch die Kraft, alleine aufzustehen. Ihre Mutter stützte sie, damit sie ein paar Schritte gehen konnte, und versuchte sie aufzuheitern. Und sie probierte zu lächeln, denn es tat ihr unendlich leid, was ihre Mutter aushalten musste. Doch ausser einer gequälten Grimasse brachte sie nichts zustande. Sie sah, wie sich ihre Mutter abwandte und verstohlen ein Taschentuch aus der Tasche nahm.
Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass sie wegen der Medikamente vom Sterben nichts mitbekommen. Das wollte sie jedoch auf keinem Fall. Sie wollte bis zum letzten Moment alles miterleben. Dies war der einzig verbliebene Wunsch auf ihrer Löffelliste.
Sie versuchte so zu liegen, dass sie wenig Schmerzen hatte. Ihr Rücken wurde von einer langen Kissenschlange gestützt, zwischen ihren Knien ruhte ein weiches Kissen und sie lag so entspannt wie möglich da. Seit zwei Tagen konnte sie kaum noch essen, häufig war ihr übel und sie musste erbrechen, obwohl sie nichts im Magen hatte. Sie würgte, bis nur noch Galle kam, bitter und grün. Ein Plastikbecken stand immer griffbereit neben dem Bett. Es war ihr unangenehm, wenn die Pflegerinnen das Becken leeren mussten und sie entschuldigte sich jedes Mal. Danach drehte sie sich verschämt weg und versuchte nicht zu weinen.
Wie häufig in letzter Zeit dachte sie, wie absurd es war, dass sich ihr Körper noch immer gegen das Sterben wehrte, obwohl nichts mehr zu machen war. Doch sich versenken lassen, wollte sie nicht, denn dann wäre sie bereits im Nichts, obwohl ihr Körper noch da war und dieser Gedanke war unerträglich für sie.
In der nächsten Nacht lag sie alleine im Krankenhauszimmer, weil ihre Mutter ausnahmsweise nach Hause gegangen war. Ausser ihr schienen alle zu schlafen auf der Palliativabteilung, es war sehr ruhig. Sie hatte ihre Mutter nach Hause geschickt, denn sie sollte sich ein wenig ausruhen. Vorher versprachen sie einander, dass sie sich am nächsten Morgen wieder sehen würden. Vorsichtig hatte die Mutter sie in die Arme genommen, ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt, wie damals als kleines Kind, und war aus dem Zimmer gegangen.
Sie versuchte ruhig zu atmen, was kaum gelang. Verzweifelt rang sie nach Luft und bekam Angst. Ihre Augen weiteten sich. Sie wollte nicht ersticken. Panisch drückte sie den Knopf, der Alarm auslöste und kurze Zeit später kam ihr Lieblingspfleger in das Zimmer gelaufen. Mit weit aufgerissenen Augen schnappte sie nach Luft. Schnell war der nette Pfleger bei ihr, strich ihr beruhigend über den Kopf. Dann injizierte er zwei Ampullen mit verschiedenen Medikamenten in ihren Venenkatheter. Sie empfand augenblicklich, wie sich eine angenehme Ruhe in ihrer Brust ausbreitete. Sie schloss die Augen und fühlte sich klein und schwach. Tränen der Trauer und Erleichterung kullerten über ihre hohlen Wangen und sie wusste, dass dies nun das Ende war. Sie fühlte sich unendlich müde und dachte gleichzeitig, dass es das Nichts nicht gab, denn Energie konnte nicht zerstört werden, hatte sie irgendwo einmal gelesen und dieser Gedanke tröstete sie. Das Letzte, was sie spürte, war die Hand des netten Pflegers, der ihre Hand hielt. Dann glitt sie still in ein Koma, aus dem sie nicht mehr erwachte.
Ein paar Tage später, an einem warmen Frühsommertag, hörte sie auf zu atmen und ihr Herz blieb stehen. Die trauernden Eltern standen am Bett ihrer Tochter, als der nette Pfleger das Fenster öffnete. Diesen Brauch hatte er von einer älteren Pflegerin übernommen, die ihm erklärt hatte, dass durch das offene Fenster die Seelen der Verstorbenen ihren Heimweg antreten. Nachdenklich blickte er hinaus in den Garten und wischte verstohlen eine Träne weg.