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"Rebell"/Julian

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21.04.2004
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"Rebell"/Julian

„Rebell“/Julian

„Rebell“, schrie der Vater ihm hinterher als Julian die Treppen des Mehrfamilienhauses hinunterstürzte. Julian war so wütend auf ihn, dass er ihm den Tod an den Hals wünschte. Er lief die Treppen hinunter als hätte die Schwerkraft doppelte Autorität über seine Schritte, riss die Eingangstür des Gebäudes auf und trat ins Freie; die überwältigende Freiheit schmeckte ihm nicht sonderlich, sie roch eher nach Gefängnis. Zu viele Möglichkeiten sind manchmal einengender als zu wenige, wurde es ihm schlagartig bewusst.

Julian blickte nach oben und sah den hellblauen Himmel am Horizont sich langsam verfärben zu einem Orange, das Weit und Breit Seinesgleichen suchte. Es war Herbst und es war kalt. Bäume waren mit dichtem Braun behangen und warfen ihre Kinder von sich, damit diese sie nicht durch ihren unstillbaren Hunger zum Sterben bringen konnten. Die Straßen waren Gesäumt von ihnen; sie wehten um seine Füße und knirschten wie Glassplitter als er die lange Straße entlanglief, die fast auf direktem Wege ins Stadtzentrum führte. Viele Menschen waren auf ihr nicht zu sehen und wenn, dann hatten sie dicke Mäntel an, mit Kapuzen und Fell. Sie igelten sich ein als wollten sie ihm zu verstehen geben, sie werden ihm nicht helfen, nicht heute, nicht morgen und niemals, solange die Zeit noch fließt. Er rannte und achtete deswegen nach einigen Begegnungen mit ihnen nicht mehr auf sie. Vaters Worte hallten noch in seinem Kopf nach. „Rebell“, hatte er geschrieen; das stimmte auch, er war Rebell. Hauptberuflich und ehrenamtlich. Rebell aus Leidenschaft. Vor allem deswegen, weil er mit den Anschauungen der Alten nicht viel anzufangen wusste. Sie präsentierten ihm die Welt auf einem vergammelten Teller als Rostnägel, die er gefälligst zu schlucken hatte, auch wenn er daran zu Grunde gehen würde. Er kam sich dabei irgendwie als Nutte vor, die sich ein Stück temporärer Sicherheit und Frieden erkaufte indem sie das tat, was ihre Freier von ihr verlangten. Und immer wieder zerplatzten Sicherheit und Frieden wie ausgetrocknete Seifenblasen. Doch Nutten hatten oft keine Wahl, er schon. Auch wenn er an dieser Entscheidungsfreiheit erst recht zugrunde gehen würde, so wäre es doch ein Tod in Ehren; ein Tod, wie es dem Rebellen gefiel.

Es wurde rasch dunkler und bald schon fingen die Straßenlampen an zu brennen. Von Nacht war noch nicht die Rede. Man setzte das Licht eher als Präventivschlag gegen die vielen Ängste ein, die die Dunkelheit manchmal gebar. Julian entwickelte während seiner Flucht eine gewisse Sympathie für sie, denn sie waren so wie er: Kämpfer gegen das schlechte und allumfassende Etwas, das viele Namen trägt. Und plötzlich schossen Tränen in sein Gesicht. Der vorhergehende Schock war überwunden (er hatte seinen Vater nie so voller Wut erlebt und das hatte einen starken, unauslöschlichen Eindruck in seinem Kopf hinterlass); nun versuchte sein Gehirn, das Erlebte durch Tränen auszuscheiden. Hauptsache weg damit, vielleicht kommt es ja nie wieder. Wie oft es wiederkehren sollte, wusste Julian noch nicht. Genauso wenig wohin er eigentlich am besten gehen sollte. Er sah hoch zu einem Fenster, wo er kurz davor etwas Seltsames aus den Augenwinkeln bemerkte. Es war eine Plastikpuppe, deren Rücken zur Straße zeigte. Auf ihm hatte jemand das Wort „Society“ mit großen, zerhackten Buchstaben geschrieben.

Es war wie ein Wink des Schicksals, dass seine Gedanken ihm so deutlich entgegen sprangen und ihn auf seinem Weg bekräftigten. Es herrschte Krieg zwischen Julian und dem Etwas und es sah so aus, als würde er ihn gewinnen. Seine Schritte steuerten unaufhörlich auf das Einkaufszentrum zu.
In dessen Nähe setzte Julian sich erstmal auf eine Bank um etwas zu verschnaufen. Dort sitzend sah er eine alte Frau auf sich zukommen. Sie hatte ein zusammengefallenes Gesicht. Julian wollte aufstehen und gehen, doch er tat es nicht, einem widerspenstigem Gefühl folgend. Sie blieb vor ihm stehen, sah ihm direkt in die Augen und sagte dann mit ruhiger Stimme: „Junger Mann, setzten Sie sich da lieber nicht drauf, das kann Ihnen eine gehörige Erkältung einbringen.“ Er nickte wortlos und sie ging kopfschüttelnd davon. Wenn sie wüsste, dachte er. Was kümmert mich eine beschissene Erkältung im Vergleich zu dem, was vorher passierte? Was kümmert es mich? Nichts, antwortete eine leise Kinderstimme in seinem Inneren, solange du keine hast. Er hörte ihr kaum zu. Eine Zigarette glühte zwischen Zeigefinger und Daumen und er zog hastig daran, als wäre es Balsam für seine Seele.

Urplötzlich und ohne Vorwarnung brach eine Kältewelle über die Stadt herein. Der Wind begann grausam laut aus allen Ecken und Ritzen zu pfeifen und Julian fing an zu zittern. Es fror ihn so sehr, dass selbst die Kippe aus seiner Hand fiel und geräuschlos weggeweht wurde. Er blickte ihr einige Augenblicke nach, sah, wie Fetzten aus glühendem Tabak aus ihr heraus flogen und sich auf der Straße verteilten, sofern der Wind sich erbarmte und ihnen die Landung erlaubte. Er stand auf, packte seine Sachen und lief weiter. Durch eine nie aufhörende Häuserschlucht, tief, dunkel und verlassen. Hinter jedem Fenster verbargen sich eine Geschichte, ein Gesicht und tausende Gedanken. Und er maßte sich an, für sie alle bestimmen zu können. Dies wirkte auf ihn im Augenblick ziemlich anmaßend.

Dann trat er ins Freie. Ein großer Platz erstreckte sich vor ihm. Er war mit Menschen gefüllt. Alle hatten sie dicke Jacken an, mit Kapuzen und Fell. Er hasste es, wie sie ihn alle ansahen. Mehr als vorher hatte er das durchdringende Gefühl der eisigen Ablehnung, die aus ihren versammelten Gesichtern sprach. Außerdem schienen sie alle irgendwie wütend zu sein, ihre Gesichter hingen ihnen schräg im Schädel. Du hast hier nichts verloren, flüsterten sie quer über den Platz. Julian fühlte sich als eine Leuchtboje unter Lampenschein, meilenweit sichtbar und irgendwie hässlich. Getrieben von den vielen Blicken, gehetzt wie ein Tier, rannte er weiter und stellte sich vor, sich irgendwo in einem stinkenden, tiefen Loch zu verkriechen wie Spinnen es meistens tun. Dort konnte er abwarten, nachdenken und zuschlagen, wenn sich die Möglichkeit bot. Aber wonach sollte er denn Ausschau halten? Wann würde der richtige Augenblick gekommen sein, um zuzuschlagen? Gerade in einem solchen Augenblick fiel es ihm so unendlich schwer, Freund von Feind zu unterscheiden. Er hatte fürchterliche Angst, beide zu verwechseln.

In seinen Augen hatte eine Revolution begonnen und gewissermaßen sah er sich als ihr Führer an. Deswegen konnte und durfte er sich vor allem nicht verkriechen. Er musste standhaft bleiben. Doch langsam wurde ihm bewusst, dass er Hunger hatte, Bärenhunger. Julian hätte sogar Insekten und Ratten gegessen; stellte er sich vor. [] Das System der Alten schlug laut und eindringlich an seinen Schädel; es war mit Baseballschlägern und Pistolen bewaffnet. Eine vernichtende Welle der Ironie breitete sich aus, die alle Hoffnungen im Keim zu ersticken versuchte.

Aus seinen Gedanken und Sorgen aufwachend, sah er in einiger Entfernung ein dürres Packet auf dem Boden liegen. Er ging, einer seltsamen Unruhe folgend, langsam darauf zu und merkte bald, dass es ein Obdachloser war, der mit zittrigen, knochigen Händen die vielen Monster mit ihren dicken Mänteln um Almosen bat. „Etwas Geld“, kam es aus seinem Mund gekrochen. „Etwas Erbarmen“. Er hätte genauso gut in einer anderen, völlig fremden Sprache bibbern können, der Effekt wäre derselbe gewesen. Alle gingen an ihm vorüber, als gehörte er irgendwie zum Mobiliar. Julian aber ging näher und kramte währenddessen das letztes bisschen Geld aus seiner Tasche. Er fühlte wieder Zorn heiß in ihm aufsteigen. Doch, als er vor dem Penner stand, blickte er ihm ins Gesicht; und er konnte kaum den Schrei unterdrücken, der sich in seinem Inneren ausbreitete. Das Geld fiel klirrend auf dem Boden. Der Schrecken überkam ihn in so heftiger Weise wie eine Wasserflut, die nach einem Dammbruch ein kleines Städtchen mit all seinen Autos und Häusern und Straßenlampen mit sich reißt. Er sah in sein eigenes hinein!

 

Erstmal ein großes "Hallo" an euch alle. Das ist meine erste Kurzgeschichte hier. Ich hoffe sie ist nicht zu lang oder irgendwie obszön, so dass die Moderatoren einen Grund hätten sie rauszuschmeißen. Über Kritik würd ich mich freuen

 

Hi Dust, herzlich willkommen auf kurzgeschichten.de :)

Weil du neu bist, kritisiere ich hier auch mal fremd (und weil deine Geschichte so schön kurz war, und weil du einen huebschen Namen hast, und...):

Zu lang oder zu obszön ist deine Geschichte sicher nicht. Sie hat mir sehr gefallen. Trotzdem gibt es Kritikpunkte.

Am Anfang - "Rebell" würde der Vater seinem Sohn, der beschließt, von zuhause abzuhauen, niemals hinterherrufen. Eher etwas wie "Ja, geh ruhig, in ein paar Tagen bist du wieder da" oder "Undankbares Balg! Und so etwas hat man siebzehn Jahre durchgefüttert!", je nachdem, was er für ein Mensch ist.

Der Mittelteil gefällt mir sehr gut. Deine Sprache ist da wunderschön bildhaft :) Die Reaktion der Frau, die Julian auf der Bank wegen einer Erkältung ermahnt, geht dagegen völlig unter. Hast du sie nicht beschrieben? Habe ich sie überlesen? Reagiert sie gar nicht?
Der Teil, in dem die Kippe über die Straße weht, gefällt mir supergut. Dann sackt es in meinen Augen wieder ab.

Der Teil, in dem er auf dem Platz voller Menschen ist, ist mir zu hastig. Da sollte ein Absatz rein, um die Lesbarkeit zu verbessern, und eventuell solltest du es ein wenig strecken. Beschreiben, wie ihn alle ansehen. Vielleicht, wie er ausgelacht wird. Deiner Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Stolperstein: "Kapuzen und so Zeug". Umgangssprachlich. Schreib lieber "solches Zeug"
Das mit dem Geld kommt mir ebenfalls zu plötzlich. Hat er kein Geld dabei? Wenn er sich für einen so tollen Rebellen hält, dann hat er doch sicher vorgeplant, oder?

Das Ende ist mir zu plakativ. Und zu real. Immerhin träumt er nur, oder? In Gedanken schaufelt er das Grab, aber plötzlich steht er daneben und sieht sich selbst als Penner... "Etwas Geld“, kam es aus seinem Mund gekrochen. „Etwas Erbarmen“. Das ist eine wunderbare Formulierung. Aber wenn er für Julian ebensogut eine andere Sprache sprechen könnte, warum will er ihm dann Geld geben? Hier ist es mir wieder zu plötzlich. Klar, es ist ein Traum, aber so im Hungerdelirium, dass er Halluzinationen hat, ist er noch nicht. Also kommt mir auch sein Stimmungsumschwung zu plötzlich... Hier solltest du strecken. Oder lass ihm in der Realität einen Obdachlosen treffen. Er will ihm das Geld geben, merkt da, dass er keins über hat. Woraufhin ihm der Obdachlose sagt, dass er auch mal so angefangen hat. Als jugendlicher Rebell. Das würde die Geschichte noch dichter machen, ihr Ende logischer.

Meiner Meinung nach würde auch ein offenes Ende der Geschichte nicht schaden. Julian erkennt, dass er bald auf der Straße sitzen und betteln wird... CUT!

GLG, vita

 
Zuletzt bearbeitet:

@Vita: dir habe ich ja damals eine PM geschickt mit meiner Antwort und habe die Geschichte nochmals überarbeitet. GLG = Ganz Liebe Grüße?

@Beide: Die Szene auf dem Platz ist in der Tat hastig, aber das sollte nur die Zuspitzung der Geschichte auf den Schluss, wo es davor nochmals richtig absackt, sein. Julian fühlt sich auf dem Platz "gehetzt" und "getrieben" von den anderen Menschen. Deswegen hastig.

Vielen Dank für die positive Resonanz und die Kritik :)

Gruß,

Dust

 

genau @dust

ich finde, die überarbeitung hat der geschichte nicht geschadet. trotzdem solltest du die szene auf dem platz vielleicht ein wenig strecken.

glg
vita:bounce:

 

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