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Raus
Ich mache ein Selfie mit der Spinne, die hinter mir über die Tapete läuft. Mein Grinsen wirkt unecht, die Wimperntusche ist verschmiert. Das muss besser werden.
Die Spinne ist groß.
Ronald baut gerade den Fahrradträger aufs Auto. Nachher besuchen wir Emma und bringen ihr die letzten Kartons und das Rad.
Zu groß, um sie einfach zu erschlagen.
Spinnen soll man nicht töten!
In den Hohlräumen, dort, wo sich die Tapete von der Wand gelöst hat, lauern Gesprächsfetzen, leises Atmen und dünnes Gekicher.
Bis zum Mond und wieder zurück, Mama!
Ich dich auch, Em, ich dich auch.
Die Spinne überschreitet den Schmutzrand, der übrig geblieben ist, als Emma ihren Banksy-Druck abgenommen hat.
Ich könnte sie einsprühen. Mit Graffitispray an der Wand fixieren: vier Beine innerhalb, vier Beine außerhalb des Dreckrahmens. Ein Kunstobjekt von unschätzbarem Wert.
Tiere darf man nicht …
Egal. Es gibt keine Farbspraydosen mehr in diesem Haus. Kein Gras, keine Überraschungen, nichts mehr davon, was vielleicht hinten in den Fächern gelegen hat, in die ich nie hineingesehen habe.
Ronald und ich,
wir werden
anfangen zu kiffen,
den New-York-Marathon laufen,
Didgeridoo spielen,
ein paar Hunde kaufen.
Können wir einen Hund haben?
…
Aber im Tierheim …
…
Aber Müllers …
Immer wieder feuchte ich die Spitze meines Zeigefingers an, streiche Luftblasen aus der Tapete, drücke sie fest an die Wand. All die kleinen Lols und Fucks und Keine Ahnungs und die Namen von Jungs, die blöd waren oder cool.
Ich hoffe, die nassen Punkte sind trocken, bevor Ronald hochkommt.
Wir haben uns versprochen, nicht komisch zu werden.
Sie ist stehengeblieben, verharrt mit einem pelzigen Bein in der Luft und dreht mir den Kopf zu. Aus zwei Fingern forme ich eine Pistole und ziele der Spinne mitten ins Herz. Wir blicken uns an und mir wird klar, sie hat hier Dinge gesehen, für die meine Augen zu groß und zu wenige waren.
Frau Schulz hat gesagt, im Staubsauger ersti…
Himmelherrgott, Frau Schulz war eine dämliche Kuh!
Mit einem Stück Stoff, vielleicht … Wir müssen uns umziehen, bevor wir losfahren, am besten Klamotten, in denen wir aussehen, als hätten wir hinterher etwas Großartiges vor: Möchtet ihr einen Kaffee? Ach danke, lass‘ mal, Em, wir machen uns auf den Weg. Wir wollen noch zum Filmfestival nach L. A.
Lol.
HA! HA! HA!
Die HAs prallen von den Wänden ab wie Squashbälle und lassen die Härchen auf den Beinen der Spinne vibrieren. Wir atmen ein und aus.
Ich puste eine Strähne aus der Stirn, knacke mit den Fingern, öffne das Fenster, lösche das Selfie und laufe auf Zehenspitzen in den Flur, um Kehrschaufel und Handbesen zu holen.
Mit angehaltenem Atem fege ich die Spinne aufs Blech. Werfe blitzschnell ein T-Shirt darüber, das ganz oben im Karton liegt.
Doch! Es muss von Nike sein! Alle …
...
Beste Mama der Welt!
Ich weiß.
Das Kehrblech fliegt aus dem Fenster.
Ich blicke ihm hinterher, wedele mit dem T-Shirt, rufe: „Raus! Raus hier!“, höre es scheppern, schüttle den Stoff wild herum wie ein schlechter Torero, atme aus.
„Alles klar da oben?“, fragt Ronald, das Gesicht voller Schmieröl.
„Yep.“
Ich kann sie nicht mehr sehen, aber ich denke, es geht ihr gut.