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Rafflesia
Er ließ oft ein Stück Honigbrot auf dem Teller zurück.
»Für die Bienen«, sagte er dann. Nur er tat so etwas.
Ich öffne den schwarzen Müllbeutel und lasse Brotreste und Hühnchenknochen von den Tellern gleiten. Der eingetrocknete Honig glänzt wie Lack. Danach folgen Olivenkerne aus Tonschalen, Zahnstocher und Serviettenknäule. Mit der Hand fege ich die Zeit hinterher, die sich in den letzten zwei Wochen auf dem Fliesentisch angesammelt hat. Trockene Feigenblätter, ein paar tote Wespen, Staub.
Es ist warm im Gewächshaus, selbst jetzt noch. Ich ziehe mein Hemd aus und werfe es über die Stuhllehne. An den Pflanzen zeigt sich der frühe Herbst. Es sind Kleinigkeiten, die nicht jedem auffallen. Mir schon.
*
»Die Aloe vera kriegt dunkle Spitzen«, sagte ich, brach ein Stück ab und rieb sein rotes Genick mit dem Gel ein. »Und der Johannisbrotbaum verliert mehr Früchte als sonst. Siehst du?« Ich hob einen der aufgebrochenen Fruchtkörper vom Boden auf. Weilvin lächelte als Antwort. Ein Honiglächeln. Er hieß natürlich nicht Weilvin, aber als er sich mir vorstellte, hörte ich nicht richtig zu. Seine Lippen formten ein »w« und ein »n« und es lag etwas Süßes dazwischen, an das ich mich bis heute nicht erinnern kann. Ich mochte meinen Kosenamen für ihn. Weilvin, das klang wie Wind und Verweilen und beides schien angemessen. Ich lächelte immer, wenn ich daran dachte. Natürlich erfuhr er nichts davon. Er hätte es vermutlich nicht gut gefunden. Junge Menschen benutzen keine albernen Kosenamen. Es wird immer mein Geheimnis bleiben.
*
Ich muss mich beeilen. In ein paar Stunden treffen die Gäste ein und es gibt viel zu tun. Vor zwei Wochen ging Weilvin. Seither überließ ich Haus, Garten und sogar das Gewächshaus sich selbst. Nicht, dass ich mich zuvor penibel um alles gekümmert hätte, aber ich tat, was nötig war, um den Zustand der Dinge zu wahren. Ich kehrte den Hof, goss die Pflanzen, brannte das Unkraut zwischen den Fließen nieder und versorgte die Möbel mit Walnussöl. Ich tat, was Papa auch getan hätte, bevor er krank wurde.
Mit dem Gewächshaus war es komplizierter. Einfache Instandhaltung genügte nicht. Jede exotische Pflanze hatte ihre eigenen Bedürfnisse. Sie liebten Hitze, aber vor allem liebten sie es, wenn ich mich ihnen ausgiebig widmete. Also zupfte ich verdorrte Blätter aus dem Lebendigen heraus, schnitt Abgeblühtes zurück und düngte. Ich tauschte die Sprühköpfe der Beregnungsanlage aus, damit die Luftfeuchtigkeit stimmte. Auf Kalk reagierten sie mit Verachtung und gelben Blättern. Dann sahen sie aus wie Leberkranke und es dauerte, bis sie sich wieder davon erholten. Papa verstand, was ein solches Anwesen braucht, um zu gedeihen. Meine Mühen waren bislang nur ein Schatten dessen, was er damals tat. Aber die Pflanzen wuchsen.
*
Die Disteln reihen sich entlang des Gewächshauses auf und strecken ihre Köpfe ins Sonnenlicht. Ich schneide sie nicht ab, sondern reiße gleich die Wurzeln mit aus. Die Fäden ihrer Samen schimmern wie Haare alter Menschen und verteilen sich mit dem Wind im Garten. Weiteres Unkraut folgt. Ich habe vergessen, die Gartenhandschuhe anzuziehen. Was soll’s. Ich ziehe Löwenzahn aus den Fugen, entferne lilafarbenen Klee und drahtige Blätter, die ich nicht kenne. Ihre Fasern schneiden in die Haut. Vermutlich sollte ich die Handschuhe holen, sonst habe ich heute Abend Ränder unter den Nägeln und braune Schnitte, die nicht mehr wegzuwaschen sind. Das wäre nicht angemessen. Nicht mir, nicht meinem Alter oder diesem Anwesen. Später werde ich mich dem frisch gepflegten Garten anpassen. Duschen, die Haut versorgen, die Nägel kürzen, Zahnseide verwenden. Ich werde mit Schaumfestiger die kahlwerdende Stelle kaschieren. Auch die Kleidung liegt schon bereit: ein maßgeschneidertes Sakko in taillierter Passform und mit schmalem Reviers. Ein gestärktes Hemd, weiche Leinenhosen und Budapester. Dieselben Schuhe, die neben dem Pool lagen, als Weilvin sich hat hineinfallen lassen und ich ihm nachstürzte, wie so oft.
*
»Er ist nicht gereinigt!«, rief ich, aber er lachte nur, breitete die Arme aus wie ein Heiliger. Sein Körper durchschlug die breiige Oberfläche aus Johannisbrotbaumfrüchten und den nachtblauen Blüten der Anagallis, die seit einiger Zeit im Pool gärten. Das Wasser widerte mich an. Warum war ich ihm überhaupt nachgesprungen? Der süßliche Gestank ließ mich würgen. Ich sah Weilvin zufrieden im Wasser treiben, mit geschlossenen Augen als wäre es das Meer. Ich schwamm zu ihm und strich ihm den braunen Schleim aus dem Gesicht. »Hast du extra die Schuhe ausgezogen?«, fragte er. Sein Blick glitt über meine Haare, ich strich sie zurück und wusste, dass er die Kopfhaut darunter sehen konnte.
»Sie sind aus Leder, sie wären jetzt sonst kaputt.«
»Oh. Okay«, sagte er. Ich küsste ihn. Alles an ihm schimmerte, seine dunklen Haare, das glatte Gesicht, seine Zähne. Später lagen wir auf den warmen Fließen vor dem Gewächshaus und ließen uns von der Abendsonne trocknen. Ich öffnete sein Hemd und verband in Gedanken die Leberflecken zu Sternenkonstellationen. Er lag da, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, sanft brummend im Halbschlaf.
*
Die Poolfilteranlage dröhnt und spuckt schwarzes Wasser über meine Hose. Ich springe einen Schritt zurück, verärgert über diesen Eingriff in meine Gedanken. Mit einer Hand taste ich nach der Rohrzange, während ich mit der anderen das abgesprungene Rohr in die Fassung drücke. Ich schließe die Augen, versuche zurückzukehren zu den langen Junitagen, an denen ich selbstgemachtes Himbeereis von seinen Lippen küssen konnte. Zu dem Moment, an dem ich ihn das erste Mal sah.*
Es klingelte länger als sonst. Da war er auf einmal, trank Limonade mit Minze aus dem Garten, neben ihm die Ledertasche voller eingerollter Zeitungen. Er war auf diese besondere Weise unfertig, wie es nur Zwanzigjährige sein können. Beigefarbene Tennissocken und eine fleckige Jeans, die er hochkrempelte, damit man die Neon-Applikationen auf seinen Turnschuhen sehen konnte. Ein T-Shirt von einer Band, die ich nicht kannte. Eine zitronengelbe Armbanduhr aus Plastik. Alles an ihm passte nicht hierher. Er ließ sich tiefer in den Brokatsessel sinken und stützte seinen Kopf auf. Ich konnte den Staub der Polster im Sonnenlicht aufsteigen sehen. Er sah mich an.»Was für eine Band ist das?«, fragte ich. »Joy Division?«
Er nickte und lächelte, aber antwortete nicht. Alles wurde still. Nicht einmal der Wind in den Bäumen oder die üblichen Kinderrufe waren zu hören. Er sah sich die Möbel an, den Stuck an der Decke und die aufgereihten Gläser in der Vitrine. Ich folgte seinem Blick.
»Das Haus gehörte meinem Vater. Ich wohne hier nur seit er ...«
Weilvin nickte.
»Du hast einen Wintergarten hinterm Haus, oder? Man kann ihn von der Querstraße aus sehen.«
»Ja, eigentlich ist es ein Gewächshaus«, sagte ich.
Weilvin lächelte. Cremefarbene Zähne blitzten auf. Ein Eckzahn schief. Er stand auf.
»Zeigst du ihn mir?«
Ich nickte nur. Mein Herzschlag ließ mich nichts mehr sagen.
*
Noch zwei Stunden. Ich muss noch den Bart trimmen. Das kostet mich weitere fünfzehn Minuten. Ich hole alle Schüsseln aus dem Kühlschrank, damit die Cremes zum Abendessen angenehm temperiert sind. Unter der Frischhaltefolie schimmern Tautropfen. Fischrogen, Pastinake, Guacamole. Frischkäse mit Safran und Dijonsenf. Thunfisch. Glücklicherweise ist der Teig für die Fladenbrote schnell gemacht. Wasser, Mehl, Salz. Eine weitere Zutat war es noch, aber welche? Ich kann mich nicht erinnern. Die Gedanken an seine braune Haut lassen keinen Platz für etwas anderes. War es Kümmel? Die Schwere von nasser Erde in der Luft. Gescheckte Schulterblätter. Weilvins Lippen, die nach Vanille schmecken. Aas.
*
»Hier riecht’s komisch«, sagte er und hob erwartungsvoll seine dunklen Brauen.»Das liegt an der Rafflesia.«
Ich zeigte auf eine riesige Blüte, die zwischen der Aloe Vera und den lianenartigen Auswüchsen einer Kletterpflanze thronte. Sie besaß den Durchmesser einer Radkappe und ihre dicken Blätter glänzten wie roher Speck.
»Wow«, sagte Weilvin.
»Sie stinkt nach Verwesung, um Fliegen anzuziehen. Jetzt ist sie schön, aber in ein paar Tagen ist nur noch schwarzer Matsch übrig.«
Er fuhr mit den Fingerspitzen über eines der Blätter und ich stellte mir vor, dass er auf diese Weise meinen Nacken streichelte. Ich wollte seine Hand nehmen, ihm alles zeigen, das Haus, den Hof, die Orte, die ich am liebsten mochte. Ich sah nur noch ihn.
Der Sommer verdichtete sich um uns. Wir fotografieren uns gegenseitig mit einer alten Polaroidkamera, suchten besondere Stellen an unseren Körpern. Ich sammelte Bilder seines fischförmigen Muttermals am Unterarm und seiner braunen Augen. Er las mir Studienlektüre vor, den Kopf in meinem Schoß gebettet, während ich ihn nach jedem Absatz mit Himbeereis und Macarons fütterte. Der alte Mann und das Meer.
»Einmal stand er da und urinierte über die Seite des Boots und sah zu den Sternen auf und kontrollierte seinen Kurs.«
Zitronen-Macaron.
»Niemand sollte im Alter allein sein.«
Eiscremelöffel.
Er las auch aus Sternstunden der Menschheit und aus Schachnovelle, während ich mit den Augen den Schatten der Schwalben folgte, die über dem Gewächshaus nach Insekten jagten. Abends zündeten wir Kerzen an und aßen, was wir in der Feinkostabteilung eingekauft hatten. Eingelegte Artischocken. Schafskäse in Salzlake. Gefüllte Weinblätter. Weilvin probierte alles, was ich ihm hinhielt und öffnete den Mund wie ein Vogelküken.
»Du bist unerschrocken«, lachte ich. Er lachte auch, während ihm Öl das Kinn hinunterlief. Nie war ein Sommer für mich lebendiger. Vibrierend und warm wie Weilvins Körper, wenn wir uns auf der Sonnenliege aneinanderdrängten, während das rote Licht des Sonnenuntergangs alle Farben zu schlucken schien.
*
Der Spiegel ist beschlagen. Ich lasse ihn, wie er ist und reibe die Hände aneinander, um den Duft der Gesichtscreme einzuatmen. Sandelholz, Rose und Limettenöl. Gegen Falten. Ich weiß nicht, ob die Creme etwas für mich tun kann, außer zu duften. Viele Dinge erfüllen ihren Zweck nur, wenn man sie nicht hinterfragt. Wie Krawatten, Serviettenringe oder Kerzenlöscher.*
»Es tut gut, mit dir zusammenzusein«, sagte ich. Die Luft duftete nach trockenem Gras und dem Rauch eines nahen Lagerfeuers, das jemand entzündet hatte. Wir lagen auf dem Rücken, Kopf an Kopf, und sahen uns die wenigen Sterne an, die nicht im Lichternebel der Stadt untergingen. Die Grillen schienen ihre bekannte Sommermusik an den frühen Herbst anzupassen und klangen dunkler als sonst.
»Wieso?«, fragte er. Er sah mich an und ich starrte auf seinen Wangenknochen, auf das Kerzenlicht, dass sich darin spiegelte wie auf den Steinfliesen im Gewächshaus.
»Ich mag es, dir zuzusehen. Alles versetzt dich ins Staunen. Ich erinnere mich, wie es war, die Welt so zu sehen.«
Weilvin schwieg, schien nachzudenken.
»Wie siehst du denn die Welt?«, fragte er. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Wind kam auf und schüttelte die Birken. Nur zwischen uns bewegte sich nichts. Später stand er auf und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
»Danke«, sagte er und ging nach Hause. Am nächsten Morgen kam er nicht wieder.
*
Es klingelt. Ich ziehe ein letztes Mal die Fusselrolle über das Jackett. Ein rötlicher Fleck auf der Hose. Zu spät, um sie zu wechseln.»Ich komme«, rufe ich und befeuchte die Finger. Auf dem Weg zur Tür reibe ich über die schmutzige Stelle in der Hoffnung, dass der Stoff schnell genug trocknet. Ein großes Hallo. Umarmungen und Körbe voller Rauchfleisch, Delikatessen in goldfarbenen Dosen, Wein und noch mehr Wein. Das wäre doch nicht nötig gewesen. Zwei Sitzplätze bleiben leer, neun Freunde sind gekommen. Sie lächeln mich an, ihre Haut glänzt durch die angestaute Wärme unter dem Dach des Gewächshauses.
In der Küche duftet es nach Muscheln und Kaffee. Ich öffne eine Schublade nach der anderen.
»Hey, alles gut?« Isabell legt die Hand in meinen Nacken, wie sie es schon früher tat, wenn sie glaubte, ihren Bruder beruhigen zu müssen.
»Ja, ich kann bloß den Korkenzieher nicht finden.«
»Du bist dünn geworden. Wo warst du die letzten Wochen?«
»Hier.«
Neben den Öl- und Essigflaschen steht der Korkenzieher.
»Es war seltsam, nichts von dir zu hören.«
Sie keucht überrascht, als ich sie umarme. Zunächst scheint sie in meinen Armen unterzugehen, aber dann spüre ich ihre Hände auf meinem Rücken. Eine Weile stehen wir so da. Ich atme ihr pudriges Parfum ein. Draußen klirren Gläser.
»So wird’s gemacht!«, ruft Lèon laut. Vermutlich zeigt er den anderen, wie Bodenseefelchen richtig entgrätet werden.
»Kannst du ein bisschen bei mir bleiben?«, frage ich. Ein Blick in ihre Augen genügt, um zu wissen, dass es nicht geht.
»Du weißt, dass das nicht geht. Wegen der Kleinen.«
Für einen Moment verlieren die Fußbodenkacheln ihre Kanten und werden weich. Weilvin wie er Löwenzahn in Streifen zieht, um dabei zuzusehen, wie sie im Poolwasser zu Locken werden. Weilvin, der mich auf den rechten Wangenknochen küsste, weil er glaubte, das sei meine schönste Stelle. Weilvin, der das Wort Dragonfly liebte und mir, jedes Mal wenn er eine entdeckte, erzählte, dass man Libellen so in England nennt.
»Kein Problem«, sage ich. Sie küsst mich ein Stück unterhalb meiner schönsten Stelle. Dann kehrt sie zurück zur Feier, zu ihrem Stuhl, zu ihrem Leben. Ich ziehe ein zerknülltes Taschentuch aus der Hose und wische mir die Träne ab, die sich am Kinn gesammelt hat. Es wird ein langer Abend werden. Ich bin noch nicht bereit dazu, wieder zurückzukehren. Ich will bleiben. In der Sonne. Ein wenig von meiner Zeit mit ihm teilen. Er hat genug davon. Es kann noch nicht vorbei sein.
Neben den Geschenkkörben liegt ein cremefarbener Stapel Briefumschläge, aus deren Gleichförmigkeit eine bunte Ecke hervorsticht. Ich ziehe sie hervor. Auf der Karte ist ein pinkfarbenes Eis am Stiel zu sehen, umrandet von Sonnenstrahlen. Auf der Rückseite stehen nur wenige Worte. Blaue Gelschrift.
»Der alte Mann oben in seiner Hütte schlief wieder. Er schlief immer noch auf seinem Gesicht und der Junge saß neben ihm und gab auf ihn acht.«
Ich stürze zum Telefon und tippe zweimal die falsche Zahl, bevor ich meine zitternden Finger kontrollieren kann.
»Was ist los?«, fragt Isabell. Sie steht als Silhouette in der Tür, die zum Gewächshaus führt, beleuchtet vom warmen Licht der Kerzen.
»Er hat mir geschrieben.«
»Wer?« Sie nimmt mir die Karte aus der Hand. Ich lache über ihre großen Augen.
»Weilvin natürlich. Das ist aus der alte Mann und das Meer.«
Es läutet.
Dreimal.
Viermal.
Mein Herz schlägt, wie es im Juni schlug.
»Würdest du noch einen weiteren Teller decken? Er hat sicher Hunger und probiert gern von allem etwas.«
Ich lächle meiner Schwester zu, damit sie weiß, dass alles gut ist.