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Rabenschwarz
Bevor ich erzähle, was am Abend des 13. März 1983 geschah, möchte ich erst einmal meine Familie vorstellen und sagen, daß ich es mir nie ausgesucht hätte in ausgerechnet diese Familie hineingeboren zu werden. Hätte mich irgendjemand gefragt, so hätte ich um eine Familie mit hohen Idealen und entsprechendem Intellekt gebeten. Meine Mutter ist eine einfache Hausfrau ohne Abitur. Sie trägt ihr gelbstichiges Haar meist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Im Alter von gerade mal 18 Jahren lernte sie meinen Vater auf einer Kirmes kennen, sie waren wohl schon etwas betrunken und trieben es hinter einem Karussel. Auf diese wenig romantische Art entstand mein Bruder und kurz vor seiner Geburt, als meine Mutter schon kugelrund war, wurde geheiratet. Es ist mir unbegreiflich, wie mein Vater jemals zu solch einem Übermaß an Leidenschaftlichkeit imstande war. Er war ein riesiger, behäbiger Mann, der sich in erster Linie dadurch auszeichnete ein abwesender Vater zu sein. Kaum kann ich mich daran erinnern ein gemeinsames Wochenende mit ihm verlebt zu haben. Sowas wie Grillabende im Garten oder Ausflüge an Seen gab es in unserer Familie nicht.Alkohol hat er auch nie wieder angerührt, zu sehr schien der Kirmesfehltritt in seiner Erinnerung verhaftet zu sein. Wenn er überhaupt mal zu Hause verweilte, saß er auf dem Sofa, schaute fern und wenn mein Bruder oder ich ihm über den Weg liefen, schüttelte er den Kopf und seufzte kaum hörbar „Meine besten Jahre!“, um sich gleich wieder dem Fernseher zu widmen. Manchmal kam es meiner Mutter in den Sinn zu schreien, er solle nicht so viel arbeiten, sich um uns kümmern, doch diese Ausbrüche waren recht selten. Meistens ging sie ihm aus dem Weg wie er uns. Nun zu meinem Bruder, ich schämte mich für ihn am meisten. Er ist sechs Jahre älter als ich . Die Blüte der Pubertät hat bei ihm eine Menge Moder hervorgebracht. Er dachte nicht daran jemals zu duschen oder auch nur seine Klamotten zu wechseln. Stets lief er in der selben abgewetzten Jeans und dem löchrigem Manowar-T-Shirt herum. Die Bürgersteige waren es gewohnt von ihm bespuckt zu werden. Sein klappriges Mofa verpestete die Gegend, wenn er es nicht gerade auf den Gehweg geworfen hatte, um irgendeinen anderen Idioten zu verprügeln oder mit einem , der wenigen Mädchen herumzuknutschen, die blöd genug waren, sich mit diesem stinkendem Kerl abzugeben, der Comichefte für literarische Ergüsse hielt und dessen Bettlaken Mutter wöchentlich wechselte ohne zu murren. Meine Mutter war ihm ohnehin in nahezu blinder Hingabe und Zuneigung verfallen. Niemals hätte sie es gewagt ihn zu kritisieren. Ich vermute, daß diese gnadenlose, verblendete Liebe darin wurzelte, daß mein Bruder einfach der zweite Mann in ihrem Leben ist, ein anwesender endlich, der sie mit seinen Bedürfnissen beschäftigt hält. Ich selbst war ein blasses Mädchen von 10 Jahren. Blass, unterernährt mit rabenschwarzem, langem Haar. Das sollte sich ändern am Abend des 13.März, doch davon berichte ich später. Meist saß ich in meinem Zimmer und las alles, was ich in die Finger bekommen konnte. In unserem Haus war das nicht viel, also verbrachte ich viele Nachmittage in der Stadtbibliothek, um meine Bücher sorgfältig auszuwählen. Ich liebte Melville und Jack London, weil sie mich in andere Welten entführten, die so viel aufregender waren als die muffige Enge meiner Familie. Manchmal saß ich auch nur auf der Fensterbank und stellte mir vor ein Orkan würde unser Haus wegfegen mit allem, was darin war, während ich beim Einkaufen war und später würde ich arme Waise von einem gebildetem, kinderlosem Ehepaar adoptiert werden. Solche Gedanken trösteten mich. Der Abend des 13. März war so ein Gedankenfluchtenabend, nur daß ich irgendwann Durst bekam und in die Küche gehen wollte, um mir ein Glas Orangensaft zu holen. Mein Weg führte an der halbgeöffneten Zimmertür meines Bruders vorbei, ich warf einen halbgelangweilten Blick hinein, war sicher nur das gewöhnliche Chaos zu erblicken, doch was ich sah, ließ mich erstarren, den Orangensaft vergessen. Was ich sah, verwandelte von einem Moment zum anderen mein rabenschwarzes Haar in silbriges Grau. Erst starrte ich nur stumm, dann schrie ich und rannte in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und schluchzte. Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein. Das plötzliche Ergrauen meiner Haare bemerkte ich erst am nächsten Morgen genauso wie meine Mutter, die äußerst erstaunt darüber war. Immer wieder erklärte, sie könne dies nicht verstehen, ich sei doch noch ein Kind. Sie zwang mich mit Mütze in die Schule zu gehen und kaufte in meiner Abwesenheit Haarfärbemittel, welches sie mir abends ins Haar kämmte. Es ziepte, aber nach dem Auswaschen waren meine Haare wieder schwarz. Allerdings hielt dieser Zustand nicht lange an, denn am nächsten Tag waren meine Haare wieder grau. Meine Mutter erbleichte, als sie mich sah. Ich sagte, ich wüßte, warum das so sei, ich trüge die Schande auf meinem Haupt. Darauf erreichte die erste Ohrfeige meines Lebens klatschend meine Wange, mein Bruder, der dies beobachtet hatte, lachte schelmisch. Als ich wieder in meinem Zimmer war, überlegte ich abzuhauen, aber wo sollte ich hin. Ich wußte es nicht. Erst 7 Jahre später fand ich einen Ort und ging fort. Grau sind meine Haare noch immer.