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Rückkehr in die Heimat
Sie mussten im Morgengrauen gekommen sein. Sie brachen die Tür auf und nahmen Matthias mit. Celia hatte versucht, sie aufzuhalten. Sie lag im Flur, still. Ein Tropfen Blut hing noch in ihrem Mundwinkel.
Ab jetzt ist er alleine in dem großen Haus, sitzt alleine am alten Eichenholztisch, wenn es Mittagszeit ist und trinkt in der Bibliothek seine Tee. Ab und zu streicht die Katze um seine Beine, lässt sich kraulen und verlangt nach Futter. Wenn die Uhr halb zehn schlägt, klappt er sein Buch zu und knipst das Licht aus. Von montags bis freitags geht er wie gewohnt in die Firma, spricht mit seinen Mitarbeitern und Kollegen von der Börse. Gewissenhaft wie all die Jahre zuvor führt er ‚Oppermann International‘. Niemand weiß, dass er alleine ist. Aaron Oppermann hatte seine kleine Familie verloren, an dem Tag im September, im Morgengrauen. Hätte er sie aufhalten können, wenn er nicht auf Dienstreise gewesen wäre? Manchmal stellt er sich vor, was genau passiert sein mochte. Dann schließt er die Augen und sieht drei Männer mit Sonnenbrillen und muskulösen Oberarmen, wie sie schweigend die Treppe hoch gehen und den Flur entlang, vorbei an der Bibliothek und in Matthias‘ Zimmer. Er springt von seinem Stuhl auf, sie packen ihn und betäuben ihn mit Chloroform. Das letzte, was er sieht, ist die mit Stuck verzierte Decke. Engel lächeln ihn an aus ihren rundlichen Gesichtern. Sie schleppen ihn ins Erdgeschoss, da kommt ihnen Celia entgegen. Sie schreit auf, hilflos. Einer der Männer hat plötzlich eine Waffe und schießt auf sie. Während seine Schwester in sich zusammensinkt, gehen sie immer noch schweigend und ohne Hektik den Gartenweg entlang.
Von Zeit zu Zeit hat Aaron ein Stechen in seinem Herzen. Wenn es besonders schlimm ist, schluckt er eine Tablette, manchmal zwei. Während er auf ihre Wirkung wartet, sitzt er dann in seinem Sessel in der Bibliothek und blättert, begleitet vom schwachen Licht der einzigen Lampe, Matthias‘ Bücher durch. Längst kennt er sie auswendig. Alle Bilder studiert er genau, obwohl er sie jede Nacht im Schlaf vor sich sieht.
Die Frau wiegte ihr Baby und die Tränen flossen ihr über die sonnenverbrannten Wangen. „Bajar“, flüsterte sie, „verzeih mir. Du wirst es besser haben. Vielleicht kommst du nach Amerika oder sogar nach Europa.“ Sie vergrub ihren Kopf in den Decken, in die Bajar gehüllt war. Er betatschte glucksend ihre Haare.
Die letzten Monate trug sie weite Kleider, um die Schwangerschaft zu verdecken. Niemals sollte Bajar in einer Welt voller Korruption und Mord aufwachsen. Hoffentlich hatte keiner dieser Männer sie gesehen. Vorsichtig legte sie den Korb mit ihrem Sohn auf den Stufen ab, küsste ihn noch ein letztes Mal auf die Stirn und ging mit schweren Schritten davon. Es fühlte sich so falsch an, ihn einfach zur Adoption freizugeben. Es war, als könnte sie seine vorwurfsvollen Augen in ihrem Rücken spüren.
Sie war schon fast zuhause, als sie die beiden bemerkte. Das Gesicht wütend verzogen, traten sie vor. „Was hast du mit ihm gemacht?“, donnerte der Größere von beiden. Seine Haare klebten ihm in Gesicht und verdeckten einige seiner Narben. „Er gehört zu uns, das weißt du“, zischte der Kleinere. „Wir lassen unsere Mitglieder nicht einfach so gehen.“
Ohne lange nachzudenken rannte sie los. Durch die nächste Gasse. Staub wirbelte auf, rieb in ihren Augen und vermischte sich mit den Tränen. Bald hatte sie den Marktplatz erreicht. In Schlangenlinien lief sie zwischen den Ständen durch, vorbei an stinkenden Yaks mit zerzaustem Fell, vorbei an Menschen, die ihr Chuuschuur anpriesen. Trotz der Hektik nahm sie alles wahr. Aber die Männer waren dicht hinter ihr und schwangen ihre Schwerter. Sie rannte immer weiter, durch kleine Nebenstraßen, vorbei an Kindern, die im Sand spielten. Dann war sie raus aus der Stadt, zögerte kurz und lief weiter in die Wüste. Hier holten ihre Verfolger sie ein.
Frau Schmidt schüttelte den Kopf. „Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.“
Aaron sieht sie verständnislos an. „Natürlich können Sie das, Sie sind gut in ihrem Job.“
„Ich habe Informationen, aber sie ergeben keinen Sinn…“
Sie nippt an ihrem Tee, während Aaron sie erwartungsvoll ansieht.
„Meine Informanten… sie haben gesagt…“ Sie schluckt. Inzwischen trommelt ihr Gegenüber ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch.
„Sie sagten, es waren Ausländer. Asiaten, wahrscheinlich aus der Mongolei.“
Seine Finger beenden den Rhythmus schlagartig und er senkt den Kopf. Frau Schmidt fährt fort.
„Sie gehören zu einer Organisation. Das ist so was wie die Mafia. Angeblich haben sie sehr viel Macht.“
Aaron beginnt leise zu schluchzen, aber es sind keine Tränen da. Sein Körper verkrampft sich.
„Matthias ist bloß adoptiert“, flüstert er.
Frau Schmidt ist empört. „Das sagen sie jetzt erst?“, meckert sie. „So kann ich doch nicht arbeiten!“
Aaron sieht sie an, fixiert ihre Augen mit seinen leuchtend grünen. „ Er war noch so jung, als er es herausfand. Er fand Dokumente, ich hatte vergessen, sie wieder in den Safe zu schließen. Können sie sich seine Enttäuschung vorstellen? Aber da war auch ein Leuchten in seinen Augen. Er begann, eine Sammlung über seine Heimat zusammen zu stellen.“ Er macht eine ausschweifende Bewegung mit seiner Hand und stößt dabei seine Tasse um. Es interessierte ihn nicht. „Das Regal dort, und noch die Hälfte von dem. Er verschlang sie wie ein Abhängiger seinen Alkohol und wurde ebenso unglücklich.“ Sein Tonfall wird immer verbitterter. Nervös rutscht Frau Schmidt auf ihrem Sessel herum.
„Also…“, beginnt sie.
„Also machen sie sich endlich an die Arbeit, für die sie jede Menge Geld bekommen“, schreit Aaron. „Und kein Wort zu irgendjemandem.“
Hastig packt sie ihre Handtasche, wirft ihrem Auftraggeber einen unsicheren Blick zu und verlässt den Raum. Ihre klackernden Absätze verursachen ein Echo, werden immer leiser und verhallen schließlich. Er vergräbt seinen Kopf in den Händen und jetzt erst laufen die Tränen.
Aaron blickt hinaus in den Garten. Es ist stürmisch, das Wasser in dem kleinen Teich wirft Wellen und die Gardine neben der geöffneten Tür bauscht sich auf. Überall liegen Blumentöpfe, Opfer des sich anbahnenden Gewitters. Die Kerze, die er für seine Schwester aufgestellt hatte, ist längst erloschen. Frau Schmidt hat die Suche aufgegeben. ‚Schalten sie die Polizei ein‘, hatte sie gesagt. ‚Die haben Sondereinheiten für so etwas.‘ Was das für eine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit auslösen würde. Die ganze Organisation hochnehmen konnte man nicht einfach. Für seine Firma wäre das nur negative Presse. ‚Das Unternehmen geht über alles.‘ So hatte sein Vater ihn geprägt. Ohne seine Arbeit bliebe ihm gar nichts mehr. Das Risiko war so groß. Die meisten Leute würden es nicht verstehen. Der Schein muss gewahrt bleiben. Er sieht zu, wie die ersten Tropfen den Rasen durchnässen. Mit der zarten Hoffnung, sein Sohn könnte zurückkehren. Eines Tages.
Matthias lehnt sich in seinem Sitz zurück und lächelt. Noch drei Stunden Flug, dann wird er endlich dort sein, wo er hingehört. In dem Land, in dem er noch nie gewesen war, dass er aber Heimat nennt. Die, die sich für seine Familie ausgaben, hatten für all ihre Lügen bezahlt. Sein Plan war aufgegangen. Nun würde er das Leben haben, für das er bestimmt war. Sich bis ganz nach oben arbeiten. Er würde der Beste sein. Erwartungsvoll schloss er die Augen.