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Proxima Centaury

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11.09.2003
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Proxima Centaury

Dieses Haus hat viele Treppen.
Manchmal scheint es so, als bestünde es nur aus Stufen und Absätzen. Angepasst an die durchschnittliche menschliche Schritthöhe führen sie hinauf und hinab, hierhin und dorthin und wieder zurück. Sie winden sich in die Höhe und hinterlassen in ihrer Mitte den Abgrund der Treppenschlucht.

1...2...der Anfang war getan, nur weiter...

Er ist ein Junge von sieben Jahren, ein wahrer Wirbelwind.
Jeder Stuhl fesselt ihn und der Gedanke still sitzen zu müssen bereitet ihm nervöse Übelkeit. Die Stufen werden unter seinen Füßen zu flüchtenden Holzbohlen, deren Knarren durch das Treppenhaus schallt, begleitet vom anschwellenden Metronom aufschlagender Schuhsohlen. Keuchend und lachend spurtet er voran.

99...100...weiter, immer höher und weiter...

Das Gefühl ist unbeschreiblich. Der Junge ist ein Kosmonaut auf dem Weg in die Kommandokapsel, ein vor Antrieb und Kraft strotzender Bergsteiger, der die gefürchtete Nordwand bezwingt, eine gut geölte Maschine, die auf Hochtouren läuft und deren Treibstoff nie verebben wird. Unter ihm bleibt der Staub zurück, auf dem Boden haftend, zu ewiger Bewegungslosigkeit verdammt und sich über der Welt ausbreitend wie ein grauer Schleier, dem er entkommen ist. Endlich.

167...168...schneller der Takt, höher...

Auf dem Dach des Hauses musste man eine herrliche Aussicht haben, denkt der Junge. Ein Haus, das so viele Treppen und Stockwerke hatte, musste bis in die Wolken ragen, oder noch höher. Wenn es einen Platz auf der Welt gab, auf dem man Gott sehen konnte, dann mit Sicherheit dort. Der Junge rennt schwitzend und keuchend die Stufen hinauf, hinauf, weg vom Boden, weg vom Stillsitzen, weg vom Staub, nur weg.

232...233...höher...

Am Ziel. Alle Stufen sind erklommen, jedes Stockwerk passiert.
Er steht vor der Tür zum Dach. Zitternd und erwartungsvoll legt er die Hand auf die Klinke, doch dann nimmt er sie wieder weg und dreht sich um. Das Loch, das den Gesang der Tiefe wispert, begrenzt vom Handlauf der Treppen, blickt ihn an und er blickt zurück. Mit zusammengekniffenen Augen versucht er etwas in der Schwärze des Abgrundes zu erkennen, als dort unten das Licht einer Taschenlampe angeht. Dort sitzt jemand in einem Stuhl, der aus Lehnen, Fußstützen und Rädern besteht. Jemand, der sein Gesicht trägt.

0...

Der Junge blickt hinauf in das Antlitz, das ihn von dort oben anstarrt und es ist ein Mond am Himmel der Treppenschlucht. Sein Blick ist sehnsüchtig und hoffnungslos.
Dieses Haus hat viele Treppen und er weiß nicht, wohin sie führen, denn er hat nicht eine Stufe erklommen und wird es nie tun. Das Dach gleicht dem Stern, welcher der Erde am Nahesten ist und ist genau wie der Stern selbst, zum Greifen nah doch unendlich weit entfernt. Unerreichbar und mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Da ist nur die Finsternis der Treppenschlucht, eingekreist von Treppen, die sich nach oben winden und hierhin und dorthin führen, hinauf und hinab und wieder zurück, doch nicht für ihn. Sein Platz ist der Boden, inmitten des Staubs, der sich abgesetzt hat und alles bedeckt.
Mit einem tiefen Seufzen rollt er zurück in die Küche.

 

Servus,

eine sehr traurige Geschichte.
Beim Lesen war ich darauf gefasst, dass die mitreißende Begeisterung des Jungen ihn geradewegs in eine Katastrophe laufen lässt - ein Sturz vom Dach des Hauses. Aber am Ende, und das geht wirklich unter die Haut, stellte ich fest, dass die Katastrophe schon längst passiert ist, um nicht zu sagen: noch immer passiert. Was ein Sturz vom Dach für das neugierige, rastlose Leben des Jungen bedeuten würde - dass es nämlich endet - ist eigentlich die normale Lebensrealität des Jungen. Gesehen vom Standpunkt seiner Sehnsüchte ist der Junge tatsächlich schon lange tot.

Dein Stil ist sehr ausgefeilt und du arbeitest mit vielen sehr schönen Konstruktionen, wie zu Beispiel "deren Treibstoff nie verebben wird" - die Assoziation zum Ozean verschafft dieser Metapher die Kraft, die sie bei einer "herkömmlichen" Formulierung nie erreichen würde.
Auch die Geschichte an sich ist sehr gut konstruiert, du greifst die Motive vom Anfang (Staub, an den Stuhl gefesselt sein etc) wieder auf und baust sie direkt (der Staub) oder indirekt (Assoziation mit "an den Rollstuhl gefesselt sein") in die Auflösung des Textes ein.
Der letzte Absatz ist mir für sich genommen beinahe etwas zu pathetisch geraten, aber betrachtet man ihn auf der Ebene der geschichtskonstruktion, ist er goldrichtig.

Einen kleinen Kritikpunkt habe ich:

Das Dach ist der am weitesten von der Erde entfernte bekannte Stern, unerreichbar und nicht mit bloßem Auge zu erkennen.
Das ist eine schöne Idee, da du hier bezug auf den Titel deiner Geschichte nimmst. Das Problem: Proxima Centauri ist der Stern mit der geringsten Entfernung zur Erde.
Das ist nicht wirklich schlimm, nur wenn man das weiß, fällt es einem vielleicht auf. Wenn du vorhast, die Geschichte nochmal irgendwie zu bearbeiten, dann könntest du vielleicht so etwas wie "so nahe und doch so fern" in Bezug auf den Stern benutzen... Schließlich ist Proxima Centauri auch zum greifen Nahe an der Erde, aber nur mit unserer Phantasie können wir ihn erreichen. Was wirklich dort ist, können wir, wie der Junge, der die Tür zum Dach nicht öffnet, aber nicht herausfinden, da wir an unsere Welt gefesselt sind wie an einen Rollstuhl...

Gruß
Artnuwo

 

Hi Art.
Ups. Da hab ich was mit der Entfernung des Sterns falsch verstanden. Das wird sogleich korrigiert. Vielen Dank für Deine Vorschläge.
MfG.
Alex

 

Hallo alex!


MIr hat Deine Geschichte eigenlich gut gefallen, die ganze Energie, Hoffnung, Freude und Traum kann man fühlen. Die Pointe nur als ein unspektakuläerer Satz kommt gut, knapp, und aht mcih voll erwischt.
Dein Stil ist zum größten Teil angenehm und flüssig - ich hab die Geschichte gern gelesen. :)

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Alex,

du hast eine schöne traurige Geschichte geschrieben. Der Junge, der an dem Rollstuhl gefesselt ist, ist nur in seiner Wunschvorstellung die Treppen zum Dach hinaufgestiegen. Deine Sprache ist flüssig. Nur der letzte Absatz hat mir nicht ganz so gut gefallen. Ich finde du erklärst hier zu viel. Mir würde die Geschichte besser gefallen, wenn sie mit "Sein Blick ist sehnsüchtig und hoffnungslos." enden würde.

Gruß,
Ellen

 

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