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Probezeit

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15.10.2015
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Probezeit

Lisas Fahrrad ist hinten platt, steht auf der kleinen Schiefertafel neben dem Kühlschrank. Bitte reparieren. Dahinter ein Smiley.
Seit wir nur noch schriftlich kommunizieren, können wir uns anscheinend wieder anlächeln. Dabei hätte ich mich noch vor wenigen Monaten einfach nur über den Kreidestaub auf dem Küchenboden geärgert und darüber, dass Jule zum Tafelwischen immer den Abwaschlappen benutzte. Ich habe nie etwas dazu gesagt, weil ich weiß, dass sie meine Sauberkeitsansprüche nicht teilt. Aber selber habe ich demonstrativ Post-Its verwendet, das konnte ihr ja nicht entgehen. Trotzdem schrieb sie weiter auf der dämlichen Tafel, als wäre ihr mein Ärger egal.
Neben Jules Smiley hat Lisa eine rote Blume gemalt. Ich lächele zurück.

„Du interessierst dich überhaupt nicht für mich“, sagte Jule. „Hast du mich ein einziges Mal gefragt, wie meine Therapiesitzung war?“
So langsam wusste ich keine Antworten mehr. „Natürlich interessiere ich mich, ich will dich nur nicht bedrängen. Außerdem hast du mir das ja immer von selbst erzählt.“
„Ja, irgendwann. Aber das ist doch nicht dasselbe! Und es hat ja wohl nichts mit Bedrängen zu tun, wenn man seine Frau mal fragt, wie es ihr geht!“ Jules Schminke war zerlaufen, zehn Minuten am Stück hatte sie mir ihr Leid geklagt. „Ich komme mir vor wie ... ein Möbelstück. Ich bin einfach da, total selbstverständlich, und du nimmst mich kaum noch wahr. Kein freundliches Wort, keine Aufmerksamkeit – nichts.“
„So ist das nicht.“ Mehr fiel mir nicht ein.
Jule presste die Handballen auf die Augen und verharrte einen Moment. Während sie dann tief Luft holte, hatte ich plötzlich das Gefühl, als wäre ich in ihrem Kopf und könnte im Zeitraffer alles sehen, was sie in den letzten Monaten gemacht hatte. Wie sie mit ihrem Therapeuten zusammensaß und in vielen kleinen Schritten die Ursache ihrer Depression ergründete. Wie sie gemeinsam die möglichen Lösungen erörterten. Und wie sie bei der unvermeidlichen Maßnahme ankamen ...
„Ich möchte, dass wir uns für eine Weile trennen.“ Sie nahm die Hände von den Augen und sah mich an. „Erst mal vorläufig, auf Probe. Um zu sehen ... ob da noch Liebe ist.“ Sie weinte nicht mehr.

„Ein Schlag in die Magengrube, das kann ich dir sagen.“ Ich saß mit Lorenz beim Italiener und hatte das dritte Bier halbleer. Meine angefangene Pizza wurde kalt.
„Und?“, fragte er. „Hat sie Recht?“
„Womit?“
„Na, mit der Aufmerksamkeit, dem Wahrnehmen und so. Wann hast du ihr zum Beispiel das letzte Mal Blumen mitgebracht?“
„Ich war noch nie der Blumentyp, und das weiß sie, solange sie mich kennt. Was hat es denn mit Wertschätzung für den anderen zu tun, wenn man ihm tote Pflanzen schenkt?“
Lorenz seufzte. „Okay. Womit zeigst du ihr dann dein Interesse?“
„Na ja ...“ Ich überlegte. „Ich bin halt immer für sie da. Wenn sie was will oder braucht, muss sie es nur sagen. Ich bin doch der Letzte, der Nein sagt, wenn man ihn um irgendwas bittet. Und ich höre zu, wenn sie mir was erzählt.“
„Und wenn sie nichts sagt und um nichts bittet?“ Er sah mich herausfordernd an. „Überraschst du sie dann manchmal?“
Ich schwieg.
„Wann war sie das letzte Mal beim Friseur?“, fuhr Lorenz fort.
„Was weiß ich denn, soll ich etwa in ihrem Terminkalender schnüffeln?“ Dann begriff ich, was er meinte. „Ich bin eben mehr so fürs Praktische. Ich hab ihr zum Beispiel dieses Blumenregal gebaut, weißt du noch?“
„Oh ja, ein Riesenteil, das war echt toll! Vor ... vier Jahren ungefähr?“
„Drei“, korrigierte ich. „Oder fünf, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sie ein so beschissenes Bild von mir – wenn sie mich beschreibt, komme ich mir wie das letzte Monster vor! Ein paar positive Eigenschaften werde ich ja wohl auch noch haben.“
„Monster ist vielleicht zu hart, aber ein ziemlicher Beziehungslegastheniker bist du schon.“
„Na danke! Für einen Sozialpädagogen kannst du ein ziemlicher Arsch sein, weißt du das?“
Lorenz lachte. „So was würde ich dir nicht sagen, wenn wir nicht seit zwanzig Jahren Freunde wären.“ Dann wurde er wieder ernst. „Du bist ganz sicher kein Monster, das weiß Jule auch. Und eine Depression hat meistens nicht nur eine einzige Ursache. Aber so, wie das für mich aussieht, bist du auch nicht der, der sie in dieser Phase aufbaut. Für sie bist du eher ... Teil des Problems.“
Ich schluckte. „Ich wäre aber lieber Teil der Lösung.“
Lorenz sah mich nur an und nickte langsam.
„Fuck“, sagte ich. „Wenn das ein Traum ist, dann möchte ich jetzt bitte aufwachen.“

Sehr effektiv zum Wachwerden ist es, sich einen Schraubenzieher in den Handballen zu rammen, nachdem man von einer Fahrradfelge abgerutscht ist. Schon ewig wollte ich mir einen vernünftigen Reifenheber zulegen. Es ist nur eine Schramme, doch es brennt und will kaum aufhören zu bluten. Aus meinem Alptraum befreit hat es mich nicht.
So kann es gehen: Wenn man sich nicht die richtigen Werkzeuge für eine Aufgabe aneignet, endet die Sache schmerzhaft. Ich habe in letzter Zeit einen grimmigen Sport daraus gemacht, in alltäglichen Missgeschicken eine Metapher für meine Beziehungsunfähigkeit zu finden. Vielleicht führt mich das ja eines Tages zu einem echten Erkenntnisfortschritt.
Als ich in Lisas Alter war, konnte ich mein Fahrrad selbst flicken. Tobias könnte seiner Schwester ruhig einmal helfen, aber er ignoriert sie nach Kräften, seit sie auf der Welt ist. Habe ich bei der Kindererziehung eigentlich genauso viel falsch gemacht wie in meiner Ehe?
Auf einmal ist mir alles klar: Tobias hat diese Nichtwahrnehmung am Vorbild seines Vaters gelernt. Meine Schuld.

„Schuld ist die völlig falsche Kategorie“, sagte Lorenz. Wir führen in letzter Zeit viele Gespräche, er ersetzt mir den Therapeuten. „Du hast getan, wozu du in der Lage warst, also hast du dir nichts vorzuwerfen.“
„Ich war also nicht mal in der Lage, ein besserer Ehemann zu sein? Du kannst einen ja wirklich aufmuntern.“
„Sagt ja keiner, dass du dich nicht verbessern kannst. Es hat bloß keinen Sinn, sich über die Vergangenheit selbst zu zerfleischen. Das verstellt dir nur den Blick darauf, wie du die Zukunft angehen kannst. Ganz zu schweigen davon, vielleicht der Gegenwart ein bisschen was Gutes abzugewinnen.“
„Mann, hast du schon mal überlegt, ein Buch zu schreiben?“ Ich meinte das nur halb ironisch. „Du haust echt einen klugen Spruch nach dem anderen raus.“
Lorenz grinste. „Nö, das ist nicht mein Ding. Aber gelesen habe ich schon viele. Ich kann dir ja mal ein paar davon leihen.“
Am nächsten Tag gab er mir eine Handvoll Bücher, ein Best-of der Psycho-, Ehe- und auch Scheidungsratgeber. Ich begann zu lesen. In der Hälfte der Fallbeispiele erkannte ich uns wieder, nur die Namen variierten. Offenbar war ich der Prototyp des kommunikationsunfähigen und gefühlsgestörten Ehemanns, und vermutlich hätte es mich trösten sollen, dass es viele Menschen mit ähnlichen Problemen gab. Doch statt einer Menge hilfreicher Ratschläge, wie ich es künftig besser machen konnte, sah ich vor allem eine niederschmetternde Auflistung meiner Fehler.
Jule hatte Recht.
Vielleicht war es ein Anfang, wenn ich mir das eingestand.

Ich habe meine Wunde versorgt und werfe einen Blick in die leeren Kinderzimmer. Lisas ist wie immer ein einziges Chaos, Tobias' Raum dafür penibler aufgeräumt denn je.
Jule und ich haben abgemacht, dass ich eine Zeitlang lieber vormittags komme, wenn die beiden in der Schule sind. Es belastet sie zu sehr, mich erst kommen und dann wieder gehen zu sehen. Tobias verkriecht sich dann meistens in seinem Zimmer, um mir gar nicht erst über den Weg zu laufen; Lisa dagegen hängt sich beim Abschied an meinen Hals und heult. Ich heule jedes Mal mit.
Ich hatte nicht mehr richtig geweint, seit ich selbst noch klein war. Nicht einmal, als Tobias vor zwei Jahren mit Hirnhautentzündung auf der Intensivstation lag und wir drei Tage lang bangten, ob er das hohe Fieber ohne bleibende Schäden überstehen würde. Weil Jule ein Häufchen Elend war, tat ich mein Bestes, Kraft und Zuversicht auszustrahlen und den Alltag am Laufen zu halten. Ich wollte der Fels in der Brandung sein.
Aber Felsen sind auch hart, und in der Brandung werden sie glitschig. Jule fand keinen Halt an mir. Stattdessen zog sie sich zurück und klammerte sich umso stärker an den Jungen, nachdem er wieder genesen war. War die Distanz zwischen uns vorher nur latent zu spüren, trat sie von da an offen zutage – vielleicht, weil Jule mir die scheinbare Teilnahmslosigkeit übelnahm. Darüber gesprochen haben wir nie, wie über so vieles.

Im Flur steht meine saubere Wäsche. Die mitgebrachte schmutzige sortiere ich in die Körbe im Badezimmer: vierzig Grad, sechzig Grad. Manche würden es sicher ungewöhnlich finden, dass Jule trotz der Trennung meine Sachen wäscht, auch wenn ich das Bügeln selbst übernehme. Doch das Ein-Zimmer-Apartment, das ich in aller Eile bezogen habe, hat nun mal trotz seines saftiges Preises keine Waschmaschine. Und gewöhnlich wollten Jule und ich ohnehin nie sein.
Ich wollte auch nie wie mein Vater sein. Oder wie sein Vater. Oder wie mein Bruder. Allesamt geschieden, allesamt mit Kindern – Scheidungskindern, die später weitere Scheidungskinder zeugen. Ich war mal entschlossen, diese unselige Familientradition zu durchbrechen, und wie weit habe ich es gebracht?
Ich weigere mich mir einzugestehen, dass ich gescheitert bin und mich in die Ahnengalerie einreihen kann. Ich will verdammt noch mal kämpfen. Aber wie?

Als meine Mutter meinen Vater nach zwanzig Jahren Ehe in die Wüste schickte, gratulierte ich ihr zu dem Entschluss. Doch das abschreckende Beispiel eine Kindheit lang vor Augen zu haben, hat nicht verhindert, dass ich genau wie er meine Gefühle verdrängte und an irgendeinen Ort verbannte, zu dem ich selber keinen Zugang habe, geschweige denn jemand anderes. Egal ob Glück oder Schmerz, Liebe oder Abscheu, Freude oder Ärger.
Vor allem Ärger. Nie habe ich laut gesagt, dass mich der Kreidestaub auf dem Küchenboden stört. Oder die Wasserflecken am Besteck, der Kratzer am Kotflügel, die Fußstapfen im Beet, die Leere auf dem Konto, der Kitsch auf der Anrichte. In der Gewissheit, diese Dinge seien unwichtig und mein Missmut unangebracht, habe ich den Groll in mir aufgestaut und seinen Pegel ansteigen lassen. Wie ein Staubecken voll mit giftigem Klärschlamm, durch dicke Mauern gesichert, damit er sich nur nicht in die Umgebung ergießt wie bei dem Bergwerksunglück in Brasilien letztes Jahr. Mein Damm war stärker als jener am Rio Doce, er war unüberwindlich, und Jule stand sprachlos außen davor, während ich in der ätzenden Flüssigkeit schwamm, die sich immer tiefer in mein Inneres brannte. Wertschätzung und Aufmerksamkeit für Jule? Sie wurden von der Säure aufgefressen.
Nach der Trennung verbrachte ich Wochen damit, mich für mein Unvermögen zu geißeln; Wut und Scham wechselten sich ab. Inzwischen fühle ich nur noch Trauer über die verpassten Chancen.

„Mindestens drei Monate“, hatte Jule gesagt. „Ich muss erst mal in Ruhe rausfinden, was ich überhaupt empfinde.“ Noch so ein Schlag, diesmal mitten ins Gesicht. „Und das solltest du auch.“
Aus den drei Monaten sind inzwischen fünf geworden – und elf Tage und anderthalb Stunden. Ich wüsste gerne, wann sie wohl zu einer Entscheidung kommt. Ist das auch wieder so ein Ding, nach dem ich einfach fragen sollte? Ich darf sie doch nicht unter Druck setzen.
Für mich war die Bedenkzeit mehr als ausreichend. Wenn ich noch einen Moment der Erkenntnis gebraucht hätte, wäre er vor zwei Wochen gewesen, als ich Jule in der Einkaufspassage sah. Ich blieb hinter einer Säule stehen, beobachtete sie und kam mir albern dabei vor.
Jule saß mit einer Freundin – wie hieß die noch? – an einem der Cafétische mitten auf dem Gang. Sie wirkte gelöst, die ungesunde Blässe war verschwunden, dafür war die lebhafte Gestik von früher zurückgekehrt, mit der sie ihre Cappuccinotasse immer in tödliche Gefahr brachte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange ich das nicht gesehen hatte. So gut geht es dir ohne mich? Beschämt schob ich den Gedanken zur Seite. Und dann lachte sie endlich wieder dieses laute, ausgelassene Lachen, für das ich schon damals jeden Mord begangen hätte. Ich hätte an Ort und Stelle vor ihr niederknien und noch einmal um ihre Hand anhalten mögen.

„Warum hast du's nicht gemacht?“, fragte mich Lorenz später.
„Was?!“
„Im Ernst. Woher soll sie denn wissen, was du für sie fühlst?“
„Aber ich kann doch nicht ...“ Die Idee sprengte meine Vorstellungskraft.
„Nee“, sagte Lorenz, „das kannst du nicht. Und genau das ist dein Problem.“

Ich bin bereit zum Gehen, stehe noch unschlüssig in der Küche. Zögernd nehme ich den Abwaschlappen und wische die Tafel neben dem Kühlschrank ab. Vorsichtig, um Lisas Blume nicht zu verschmieren. Keine Ahnung, warum die Kreide in meiner Hand so blöde zittert.
Wie geht es dir?
Noch ist viel Platz auf der Tafel. Ich hole tief Luft.
Gehen wir mal zusammen einen Kaffee trinken?
Mein Smiley wird ein wenig schief.

 

Hallo Holg,

Ho-Ho-Holg (achso, ist ja noch nicht soweit) :Pfeif:

Dann wollen wir mal.

, dass Jule zum Tafelwischen immer den Abwaschlappen benutzte. Ich habe nie etwas dazu gesagt, weil ich weiß, dass sie meine Sauberkeitsansprüche nicht teilt.
Und da fängt das Problem schon an.
Mir fällt da die Geschichte ein, wo der Mann sagt, dass er eigentlich keinen Sauerbraten mag, den ihm seine Frau schon seit 50 Jahren jeden Sonntag macht.
Also ich sage meiner Frau fast jeden Tag, dass die Spültrockentücher nicht auf die Arbeitsplatte gelegt werden, sondern am Haken aufgehängt werden … Ob das besser ist ... :confused:

Trotzdem schrieb sie weiter auf der dämlichen Tafel, als wäre ihr mein Ärger egal.
Da das zweite Problem: Er bildet sich was ein. Woher soll seine Frau denn wissen, dass er sich darüber ärgert.
Das konnte ja nur schief gehen … :shy:

„Du interessierst dich überhaupt nicht für mich“, sagte Jule. „Hast du mich ein einziges Mal gefragt, wie meine Therapiesitzung war?“
So langsam wusste ich keine Antworten mehr. „Natürlich interessiere ich mich, ich will dich nur nicht bedrängen. Außerdem hast du mir das ja immer von selbst erzählt.“
Seine Reaktion kommt mir irgendwie bekannt vor. Klingt wie eine Ausrede, da er ihren Termin einfach nur vergessen hat :Pfeif:

Ich hab ihr zum Beispiel dieses Blumenregal gebaut, weißt du noch?“
„Oh ja, ein Riesenteil, das war echt toll! Vor ... vier Jahren ungefähr?“
„Drei“, korrigierte ich. „Oder fünf, ich weiß es nicht.
Das finde ich übertrieben. Er hat also in den letzten 3 bis 5 Jahren sonst nichts mehr für sie getan?

Doch das Ein-Zimmer-Apartment, das ich in aller Eile bezogen habe, hat nun mal trotz seines saftiges Preises keine Waschmaschine. Und gewöhnlich wollten Jule und ich ohnehin nie sein.
Was meinst du damit, dass sie nie gewöhnlich sein wollten?

Ich wollte auch nie wie mein Vater sein.
Wer will das schon? :D

Mein Damm war stärker als jener am Rio Doce, er war unüberwindlich, und Jule stand sprachlos außen davor, während ich in der ätzenden Flüssigkeit schwamm, die sich immer tiefer in mein Inneres brannte.
Wieso stand sie sprachlos davor? Was hat sie denn versucht, zu überwinden? Was ist passiert, was konnte sie nicht, was hat nicht geklappt?

Eine Geschichte ohne richtigen Spannungsaufbau, einem Höhe- oder krassen Wendepunkt.
Halt eine Geschichte aus dem Leben.
Gewohnt sauber und flüssig geschrieben. Die Dialoge mag ich auch.

Hat mir gefallen. :thumbsup:
(Jetzt muss ich heute Abend erst mal schnell einen Blumenstrauß kaufen)

Liebe Grüße,
GoMusic

 

Hallo GoMusic,

lieben Dank für deinen Kommentar. Für "ohne richtigen Spannungsaufbau, einem Höhe- oder krassen Wendepunkt" komme ich mit "hat mir gefallen" erstaunlich gut weg. :D Es ist eben eine Alltagsgeschichte im engeren Sinne.

Mir fällt da die Geschichte ein, wo der Mann sagt, dass er eigentlich keinen Sauerbraten mag, den ihm seine Frau schon seit 50 Jahren jeden Sonntag macht.
Ich kenne die von dem Ehepaar, das sich seit fünfzig Jahren immer die Frühstücksbrötchen teilt. Der Mann schneidet sie auf und gibt seiner Frau immer die obere Hälfte, weil er die lieber mag und davon ausgeht, dass es ihr genauso geht. Erst bei der goldenen Hochzeit erfährt er, dass die Frau lieber die Unterseite isst und nie was gesagt hat, weil sie dachte, ihr Mann mag die auch so gern ...

Also ich sage meiner Frau fast jeden Tag, dass die Spültrockentücher nicht auf die Arbeitsplatte gelegt werden, sondern am Haken aufgehängt werden … Ob das besser ist ...
Glaub ich nicht ... Wenn du das jeden Tag sagst und es nichts ändert, hätte ich es an deiner Stelle aufgegeben ...

Da das zweite Problem: Er bildet sich was ein. Woher soll seine Frau denn wissen, dass er sich darüber ärgert.
Das konnte ja nur schief gehen …
Ja, von außen sieht man das ziemlich klar. Aber ich komme aus einer Familie, die genau so tickt. Das ist unglaublich anstrengend - und ja, das geht dann auch schief.

Seine Reaktion kommt mir irgendwie bekannt vor. Klingt wie eine Ausrede, da er ihren Termin einfach nur vergessen hat
Interessante Beobachtung. Darauf war ich gar nicht gekommen, ich hatte meinen Prot da als völlig ehrlich im Sinn. Aber es kann natürlich auch bei Jule genau so ankommen wie bei dir.

Ich glaube, diese Zweideutigkeit gefällt mir; das lasse ich mal so.

Das finde ich übertrieben. Er hat also in den letzten 3 bis 5 Jahren sonst nichts mehr für sie getan?
Nein, so war das nicht gemeint. Das Blumenregal war nur das letzte Große (und vielleicht Überraschende), was ihm in diesem Dialog einfällt. Aber auf alle Fälle kommt so etwas nicht übermäßig häufig vor.

Was meinst du damit, dass sie nie gewöhnlich sein wollten?
Ja, dieser Satz hängt ein bisschen in der Luft. Es sollte eine Andeutung sein, dass sie beide mal anders sein wollten, nicht dieses dröge Nebeneinanderherleben wollten. Irgendwann war mal ein Feuer in der Beziehung, das sie gerne erhalten hätten.

Ich habe das an der Stelle dann nicht ausgebaut, weil es mich zu weit weggeführt hätte von dem, was danach kommt. Der eine Satz ist dann übriggeblieben als Kontrapunkt zu dem "manche würden es ungewöhnlich finden" weiter oben im Absatz. Vermutlich sollte ich mich entscheiden: ausbauen oder ganz weglassen.

Ich wollte auch nie wie mein Vater sein.
Wer will das schon?
Aber wer schafft es schon, nicht so zu werden? :eek:

Wieso stand sie sprachlos davor? Was hat sie denn versucht, zu überwinden? Was ist passiert, was konnte sie nicht, was hat nicht geklappt?
Hm, da hatte ich auf den Kontext gesetzt. Sie ist ja selbst depressiv (vermutlich nicht erst seit gestern und sicherlich auf Basis einer gewissen Veranlagung oder Vorprägung) und konnte wohl genauso wenig wie ihr Mann die Initiative aufbringen, dagegen anzugehen. Sie hätte ihm schon längst mal gehörig den Kopf waschen müssen, aber das ist einer depressiven Persönlichkeit eben nicht möglich.

Von der Erzählperspektive her schien es mir aber nicht passend, wenn der Prot seine Frau genauso analysiert hätte wie sich selbst. Außerdem denkt er an der Stelle ja über sich nach und nicht über sie. Deshalb habe ich es in dem Moment bei seiner Beobachtung belassen, dass sie eben gegen sein Bollwerk nicht ankam.

Gewohnt sauber und flüssig geschrieben. Die Dialoge mag ich auch.
Hat mir gefallen.
Danke dafür! (Den letzten Satz nehme ich gerne ein zweites Mal mit ... ;))

(Jetzt muss ich heute Abend erst mal schnell einen Blumenstrauß kaufen)
Besser ist das! Ich hoffe, ich muss nicht jedes Mal erst so eine Geschichte schreiben, um dich daran zu erinnern ... :lol:

Grüße vom Holg ...

 

Lieber Holg

Mach dich auf einen völlig unnützen Kommentar gefasst.

Schon während des Lesens haben die klassischen Alarmglöcklein geklingelt. Mehr Show, weniger Stereotypie, mehr Individualität, mehr Aktivität des Protagonisten. Muss ich keine Stellen angeben, das haben andere ja schon gut herausgearbeitet.

Und dann habe ich mir gedacht, verdammt, der Holg will das sicher so. Das ist ja das Thema, die Passivität des Protagonisten, der will das allgemein halten (hat sich dann in deinen Antworten bestätigt), der will halt diese Gespräche führen lassen, viel erzählen, viel Selbstreflexion. Darum geht's.

Und ich bin durch die Geschichte geglitten, habe das aufmerksam verfolgt, wie der so über die Beziehung denkt, und es hätte ein Kumpel von mir sein können und ich hätte dem gern zugehört, und ich merke, dass ich den Text eigentlich ganz gern lese. (Dass er in üblicher Manier sehr sauber erzählt ist, hilft natürlich zusätzlich.)

Und dann haben die Alarmglocken geklingelt und ich dachte mir, Mensch, ich will was Besonderes lesen, mehr Show.

Und dann ...

Fazit: Ich habe keine Ahnung, was ich von der Geschichte halten soll.
Hilfreich?

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

danke für deinen Kommentar. Hilfreich? Ja, durchaus. Ich entnehme ihm, dass meine Geschichte zu unentschieden ist, dass die Intention nicht klar genug wird.

Und dann habe ich mir gedacht, verdammt, der Holg will das sicher so. Das ist ja das Thema, die Passivität des Protagonisten, der will das allgemein halten (hat sich dann in deinen Antworten bestätigt), der will halt diese Gespräche führen lassen, viel erzählen, viel Selbstreflexion. Darum geht's.

Ja, das stimmt im Wesentlichen, vielleicht bis auf das "allgemein halten". Auch wenn der geschilderte Konflikt mit Absicht ein recht verbreiteter ist, wäre es mir trotzdem lieber, wenn ich die Charaktere etwas individueller hinbekäme. Also gewissermaßen ein allgemeines Phänomen am individuellen Beispiel geschildert. Und zumindest ein bisschen szenischer will ich es schon noch machen.

Mehr Show, weniger Stereotypie, mehr Individualität, mehr Aktivität des Protagonisten.

Insofern ziehe ich mir hiervon die Schuhe 1 und 3 an, in den zweiten stecke ich meine Zehen, und den letzten lasse ich im Regal. :)

Das wird umgesetzt, sobald ich tatsächlich die Zeit dazu finde. (Wie kam ich eigentlich auf die Idee, über den Jahreswechsel viel Zeit zu haben ...?) Inwieweit das dann eine Geschichte ist, die viele Leute lesen wollen, ist mir sekundär; zumindest meinen eigenen Ansprüchen möchte ich aber gerecht werden.



Hallo maria.meerhaba,

vielen Dank auch für deinen Komm.

„Wenn das ein Traum ist, dann möchte ich jetzt bitte aufwachen.“
Ich finde, das ist ein Statement, das nach einem starken Absatz kommen sollte. Doch der Dialog davor ist nicht wirklich stark, auch nicht wirklich voller Gefühle, sondern wirkt für mich etwas flach und wie ein nebensächliches Gespräch zwischen zwei Kumpel. Der Effekt entfaltet sich hier nicht.
Ich finde nicht, dass der zitierte Satz irgendetwas Starkes vorweg braucht. Das sollte eher so etwas wie eine resignierende Zusammenfassung der Gefühle des Erzählers sein, nachdem im Dialog davor sozusagen das Problemfeld abgesteckt wurde. Nebensächlich? Hm, das mag auf die unbeteiligte Zuhörerin natürlich so wirken, aber dem Prot zerfällt gerade sein Lebensplan zwischen den Fingern ...

Ich weiß jetzt nicht, ob das so schlimm ist, aber mir kam es so vor, als wären die beiden eher seit einigen Jahren verheiratet und kinderlos. Dann taucht plötzlich ein Kind auf und dann noch ein zweites. Ist nicht soooo schlimm, aber hat mich eben überrascht.
Hm. Gleich zu Beginn taucht doch schon Lisa mit dem platten Fahrradreifen und der roten Kreideblume auf ...?

Das geht mir alles um eine Spur zu schnell.
(...)
Und wieder geht alles so schnell.
(...)
Da vergehen Monate spurlos vorbei und plötzlich hat man glatt fünf, sechs Monate hinter sich und kann nicht ganz fassen, was da alles passiert ist.
Ich springe natürlich in der Zeit: Die Küche und das Fahrrad sind in der Gegenwart und der Rest sind Rückblenden in nicht-chronologischer Reihenfolge. Mag sein, dass ich den Leser da etwas besser mitnehmen muss.

Und es kommt mir so vor, als würde der Prot selber diese Gefühle fühlen, ohne uns daran teilhaben zu lassen.
(...)
Es passiert hier viel, es vergeht sehr viel Zeit, aber doch bleibt kaum etwas von den Figuren hängen. Sie sind ziemlich blass geworden. Der Freund von dem Typen bekommt kaum Farbe, obwohl der doch eine wichtige Rolle spielt. Die Frau bekommt nur am Anfang und am Ende ein Gesicht, die Kinder sind Randfiguren (was eigentlich in diesem Fall nicht so schlimm ist), der Erzähler aber wird keinen Moment sympathisch und alles, was er zu fühlen scheint, wirkt auf mich gar nicht.
Okay, ich habe dich mit dem Text also emotional nicht erreichen können. (Das erklärt aus meiner Sicht auch die Missverständnisse etwa bzgl. der Kinder; ich konnte deine Aufmerksamkeit nicht binden.) Das sollte natürlich anders sein, und da sich dein Komm in dieser Hinsicht mit den meisten anderen deckt, muss ich mir das selbst ankreiden.

Was die Farbe der Charaktere angeht: Jule und der Erzähler sollten natürlich deutliche Konturen bekommen, Freund Lorenz und die Kinder sind da eher Stichwortgeber. Lorenz ist natürlich für den Prot wichtig, sollte es aber m.E. nicht so sehr für den Leser sein.

Es kommt mir einfach so vor, als hättest du den Text zuerst geschrieben, voll lang und vielleicht auch liebevoll, und dann hast du gleich mehrere Absätze brutal gelöscht und die Geschichte dann so gepostet. So wirkt der Text auf mich.
Es ist wohl unnötig zu sagen, dass es so natürlich nicht abgelaufen ist. Aber wenn das die Wirkung auf dich ist, dann schließe ich daraus, dass der Text einfach noch zu viel offen lässt, zum Teil in der Handlung, aber vor allem wohl in der Charakterzeichnung. An der Deadline für die Challenge liegt das aber nur bedingt, das kann ich dir versichern. Ein paar zusätzliche Absätze und vor allem mehr szenische Beschreibungen hätte ich wohl spendiert, aber sooo grundlegend anders wäre der Text auch mit mehr Zeit nicht geworden.



Also, Ärmel hochkrempeln und den Text überarbeiten. Lieben Dank euch beiden!

Grüße vom Holg ...

 

Hallo The Incredible Holg,

die Geschichte klingt wie eine Entschuldigung, wie der Versuch, sich einer Annäherung an eine zerrüttete Beziehung, manchmal triefend vor Selbstmitleid, manchmal anrührend, als könne dein Prot durch den Nebel seiner Gefühle etwas verstehen. Der Text selbst ist mir zu statisch, da passiert nix, da wird viel erklärt, anstatt szenischer zu bleiben. Zum Beispiel diese Szene, als er Jule im Café beobachtet, die ist stark, da wird sie zum ersten Mal sichtbar, vorher ist sie ein Schatten seiner Gedanken. Solche Szenen bringen was, zeigen was. Die Gespräche mit seinem Freund bleiben dagegen vage, klingen nach Hauspsychologie. Die Tafel mit den Kreide-Smileys finde ist eine klasse Idee, da kommt was rüber. Das müsste als Bild leuchtender werden, ausladender beschrieben werden. Du bemerkst, ich bin ein bisschen hin und hergerissen. Vom Kern her ist das ein guter Text, aber ich glaube da könnte man mehr draus machen, viel mehr. Du hast doch mal ziemlich gut mit Zeitsprüngen gespielt, würde sich hier anbieten.

Der Sound der Geschichte, so wie er jetzt ist, gefällt mir nicht, aber auch daran ließe sich arbeiten (siehe oben), sprachlich und stilistisch hast du doch alles, was es dafür braucht.

Bisschen was zum Text:

So langsam wusste ich keine Antworten mehr. „Natürlich interessiere ich mich, ich will dich nur nicht bedrängen. Außerdem hast du mir das ja immer von selbst erzählt.“
„Ja, irgendwann. Aber das ist doch nicht dasselbe! Und es hat ja wohl nichts mit Bedrängen zu tun, wenn man seine Frau mal fragt, wie es ihr geht!“
mm, bis auf den letzten Satz klingt das nicht sehr natürlich.

Meine angefangene Pizza wurde kalt.
lies den Satz mal allein :lol: was ist eine angefangene Pizza?

„Ich war noch nie der Blumentyp, und das weiß sie, solange sie mich kennt. Was hat es denn mit Wertschätzung für den anderen zu tun, wenn man ihm tote Pflanzen schenkt?“
OMG: tote Pflanzen, so ein Null-Empath. :hmm:

Für sie bist du eher ... Teil des Problems.“
Ich schluckte. „Ich wäre aber lieber Teil der Lösung.“
das meine ich mit Hobbypsychologie, klingt nach Ratgeber

Ich wollte der Fels in der Brandung sein.
Aber Felsen sind auch hart, und in der Brandung werden sie glitschig.
stark :Pfeif:

dass ich genau wie er meine Gefühle verdrängte und an irgendeinen Ort verbannte, zu dem ich selber keinen Zugang habe, geschweige denn jemand anderes.
:Pfeif:

Gehen wir mal zusammen einen Kaffee trinken?
Mein Smiley wird ein wenig schief.
schönes Bild :thumbsup:

liebe Grüße
Isegrims

 

Hallo The Incredible Holg,

ich fange mal mit dem Einfachsten an und das ist das Challengethema, das unzweideutig erfüllt ist. Besser geht es fast nicht, sogar mit Kreide. ;)

Der Titel ist mehr als nur passend, obgleich er mir nicht wirklich als der Renner in puncto "Diese Geschichte will ich nun unbedingt lesen" erscheint, dazu ist er zu sehr mit der arbeitlichen Probezeit verbunden und das ist ein Thema, das man doch nicht immer lesen will.
Aber ich könnte dir keinen Verbesserungsvorschlag machen.


Deine Geschichte ist so eine, die mich weniger textlich dran lässt, sondern sogleich meinen Kopf mit Statements über deine Figuren füllt. Ich möchte an so vielen Stellen widersprechen, dazwischenfahren und den beiden "die Welt" erklären, dass ich kein Auge dafür hatte, was vielleicht stilistisch noch verbessert werden könnte.

Insoweit, weil mich das Thema auf der Gefühlsebene packt, eine spannende Geschichte.

Man ist so ein wenig Voyeur und der sozusagen überlegene Leser, der teils innerlich die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, weil sich beide Figuren so derartig antibeziehungsmäßig verhalten, wie es nur geht.
Ja, ich meine beide und genau das provoziert deine Geschichte hervor, dass ich eher Jules Verhalten kritisieren würde als dasjenige des Protagonisten und natürlich dann auch des sog. Beraters Lorenz.

Ich provoziere jetzt einfach mal mit folgender Frage:

Was bitteschön veranlasst Jule, derartige Forderungen an ihren Mann zu stellen?

Wenn sie unbedingt wahrgenommen werden möchte, dann ist das ein Vorgang der in ihrem Inneren geschehen muss. Sie selbst muss sich wertschätzen, wahr- und für wichtig nehmen. Wenn sie es nicht packt, dann kann sie ja wohl kaum anderen, insbesondere ihrem Mann vorwerfen, dass er es nicht schafft.
Irgendwie werden Opfer und Täter verwechselt.
Aber das ist exakt das, was in unserer Gesellschaft gesellschaftsfähig ist.

Nämlich stets die Sprachlosigkeit und Gefühlsunterdrückung der Männer anzuprangern. Warum eigentlich?
Weil es sich als wirklich ??? besser herausgestellt hat, dass eine gute Beziehung nur funktioniert, wenn man sich gegenseitig (ich übertreibe jetzt mal) totsabbelt und mit Gefühlen zudrückt bis der andere kaum noch atmen kann?
Es ist doch nicht von vorne herein beziehungskillend, wenn der eine mehr Redebedürfnisse hat als der andere und auch mehr seine Emotionen nach aussen geben möchte, als es dem anderen möglich ist.

Wirklich beziehungstötend ist, wenn man meint, dass die Beziehung nur funktioniert, wenn es einen Gleichklang gibt, also jeder gleich viel von allem dem anderen gibt.

Eine gute Partnerschaft besteht nicht darin, aus völlig unterschiedlichen Charakteren eineiige Zwillinge zu machen.

Ich denke, es ist eher wichtig, eigene Bedürfnisse zu erkennen und sie zu befriedigen. Was hindert Jule daran, den Teil der Bedürfnisse, die ihr ihr Mann nicht erfüllt, woanders zu befriedigen? Und natürlich umgekehrt, was hindert ihn daran, ebenfalls gut für sich zu sorgen? Muss deswegen gleich eine Beziehung auseinanderbrechen? Nur, weil man nicht deckungsgleich handelt, fühlt, redet?

Mir gefällt also Jules Ansatz nicht. Was für ein Recht nimmt sie sich heraus, von ihrem Mann all das zu fordern?

Du beschreibst, wie schon gesagt, etwas durchaus Typisches in unserer Gesellschaft.
Wie oft ist es immer einer der Partner, von dem etwas erwartet wird? Kann denn eine Beziehung zwischen Menschen überhaupt funktionieren, wenn ich von dem anderen verlange, dass er sich ändert?
Was für schwierige Voraussetzungen!
Was für unmögliche Voraussetzungen!

Dieses ewige "Wenn er sich ändert, dann..." und "Wenn sie sich ändert, dann..." das empfinde ich als höchst hinterfragenswert.

Was soll an diesem Verhalten korrekt sein und insoweit, ist es eigentlich noch viel mehr Lorenz, den ich angreifen würde, als Jule, die zu einem großen Teil ja schon ihre eigene Gesundung in die eigenen Hände genommen hat?
Aber wenn wir in unserer Gesellschaft nicht hinterfragen, nicht kritisieren, dass Partner sich gegenseitig vorhalten, dass sie sich nicht genügend angepasst und verändert hätten, was hält uns dann eigentlich davon ab, einfach den Nachbarn, die Nachbarin zu heiraten? Nach der Heirat käme dann ja sowieso das, was jetzt in dieser Beziehungsgeschichte passiert: man verlangt jeweils vom anderen, dass er sich an die eigenen Bedürfnisse anpasst. Man muss also unser derzeitiges Gesellschaftsprinzip, das deine Geschichte wunderbar verkörpert, einfach nur weiterdenken. Dann würde es auch mit dem Nachbarn klappen. :D

Du siehst, lieber Autor Holg, was deine Geschichte alles in meinem Kopf lostritt und mich zum Provozieren veranlasst.

Fazit:
Deine Geschichte hat mir sehr gefallen, sie regt dazu an, sich mit diesem allbekannten Problem der Sprachlosigkeit innerhalb einer Beziehung auseinander zu setzen und führt zu jeder Menge anderer Ideen und Gedanken.
Nicht jeder Autor kann von seiner Geschichte so einen Erfolg vermelden.

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo Isegrims,

vielen Dank für deinen Kommentar.

die Geschichte klingt wie eine Entschuldigung, wie der Versuch, sich einer Annäherung an eine zerrüttete Beziehung, manchmal triefend vor Selbstmitleid, manchmal anrührend, als könne dein Prot durch den Nebel seiner Gefühle etwas verstehen.
Hm, als Entschuldigung war es nicht gedacht, eher eine Art Ursachensuche. Liegt vielleicht dicht beieinander. Ja, manche Stellen sind arg wehleidig, das sollte ich noch (ein wenig) reduzieren. Die anrührenden Stellen sind mir logischerweise lieber.

Der Text selbst ist mir zu statisch, da passiert nix, da wird viel erklärt, anstatt szenischer zu bleiben. Zum Beispiel diese Szene, als er Jule im Café beobachtet, die ist stark, da wird sie zum ersten Mal sichtbar, vorher ist sie ein Schatten seiner Gedanken. Solche Szenen bringen was, zeigen was.
Ja, ich werde sehen, dass ich noch ein paar mehr solcher Szenen produziere. Die Selbstreflexion des Prot wird damit aber nicht verschwinden, das sage ich jetzt schon mal voraus. Zu einem gewissen Grad ist der Text mit Absicht statisch, weil die Situation des Prot statisch ist.

Die Gespräche mit seinem Freund bleiben dagegen vage, klingen nach Hauspsychologie.
Ja, viel mehr kann so ein Freund wohl nicht bringen, er ist ja kein Spezialist. Aber ein bisschen weniger platt wäre besser, da hast du schon Recht. Mir ist im nachhinein aufgefallen, dass viele seiner Aussagen zu allgemein sind und nur einen sehr schwachen Bezug zum individuellen Fall haben. Das trägt wohl zu diesem Küchenpsychologie-Eindruck bei (und ist eines Freundes auch nicht würdig, nur Platitüden abzusondern).

Die Tafel mit den Kreide-Smileys finde ist eine klasse Idee, da kommt was rüber. Das müsste als Bild leuchtender werden, ausladender beschrieben werden.
Hm, ich habe etwas Hemmungen, dieses eine Bild auszubauen; ich möchte nicht das totreiten, was funktioniert. Dann lieber ein paar weitere Bilder hinzufügen (die hoffentlich ebenfalls funktionieren).

Du bemerkst, ich bin ein bisschen hin und hergerissen.
Na, dann habe ich dich zumindest emotional erreicht! :D

Du hast doch mal ziemlich gut mit Zeitsprüngen gespielt, würde sich hier anbieten.
Hm. Hier sind doch auch Zeitsprünge drin? Falls du auf die Kälteschlaf-Geschichte anspielst: Ich finde diese hier strukturell schon jetzt ziemlich ähnlich. (Und mindestens Maria habe ich mit den Zeitsprüngen bereits erfolgreich verwirrt ...)

mm, bis auf den letzten Satz klingt das nicht sehr natürlich.
Das schaue ich mir noch mal an. Am besten gleich alle Dialoge.

was ist eine angefangene Pizza?
Ist das in deiner Gegend so ungewöhnlich? Bei uns ist das ganz normaler Sprachgebrauch.

OMG: tote Pflanzen, so ein Null-Empath.
Na, jedenfalls äußert er seine Empathie nicht auf diese Weise.
Oder er hat Empathie für die Pflanzen ... ;)

das meine ich mit Hobbypsychologie, klingt nach Ratgeber
Komisch, da hätte ich andere Stellen stärker im Verdacht. Aber ich gehe noch mal insgesamt drüber.

stark
(...)
schönes Bild
Danke! :)



Hallo lakita,

dein Kommentar macht mich besonders froh! Du kritisierst besonders Jules Verhalten und ihre Anforderungen an die Ehe, während andere Leser tendentiell eher den Prot für seine mangelnde Empathie schelten (z.B. Isegrims oben). Mein Ziel war, die "Schuldfrage" möglichst offen zu gestalten. Wenn es also so unterschiedliche Lesarten gibt, heißt das für mich: Ziel erreicht! (Dieses eine jedenfalls.)

Toll ist natürlich auch, dass meine Geschichte bei dir so viele Gedanken und Fragen anstößt. Einen größeren Erfolg kann ich mir in der Tat kaum wünschen (höchstens, dass das bei mehr Leuten funktioniert ;)).

Müssen oder sollten zwei Partner so weit wie möglich im Gleichklang schwingen, damit ihre Ehe funktionieren kann? Da maße ich mir keine Antwort an. Aber ich teile deinen Eindruck, dass das als Idealbild weit verbreitet ist. Und ich habe den Verdacht, dass das in früheren Generationen anders war. Ist das ein Grund, warum heute so viel mehr Ehen geschieden werden als damals? Haben wir überzogene Erwartungen, womöglich gespeist aus kitschigen Hollywoodfilmen und Groschenromanen (nicht zu vergessen die Ratgeberbücher und solche Flüsterer wie Lorenz :eek:)? Ich habe echt keine Ahnung, aber deine Gedankengänge finde ich sehr spannend.

Dass jeder sich selbst wertschätzen, für sich sorgen und auf seine Bedürfnisse achten muss, ist sicher richtig. Ich denke (und das ist nicht auf meinem eigenen Mist gewachsen), das sollte überhaupt die Basis dafür sein, dass man eine Beziehung mit jemand anderem eingeht. Denn wer sich selbst nicht liebt, kann auch schlecht den anderen lieben und wird immer den Verdacht haben, dass der andere ihn nicht wirklich liebt. (Denn wie soll ich glauben, dass er/sie mich liebt, wenn ich mich nicht mal selbst liebenswert finde?) Ich denke, in meiner Geschichte haben beide dieses Problem, aber Jule vielleicht noch mehr als der Prot (auch wenn wir von ihrem Innenleben naturgemäß weniger sehen).

Du siehst, auch ich kann mit deinen Gedanken eine Menge anfangen.

Der Titel ist mehr als nur passend, obgleich er mir nicht wirklich als der Renner in puncto "Diese Geschichte will ich nun unbedingt lesen" erscheint, dazu ist er zu sehr mit der arbeitlichen Probezeit verbunden und das ist ein Thema, das man doch nicht immer lesen will.
Ich finde diese Assoziation gar nicht schlecht, das war schon Absicht. Es mag nicht der Eyecatcher sein, aber ich denke, es passt zur Geschichte: Mein Prot fühlt sich sicher in ähnlicher Weise auf die Probe gestellt, wie das auf einer neuen Arbeitsstelle der Fall ist. Auch er durchlebt diese Unsicherheit, ob er wohl die Probe besteht, und fragt sich, was er tun kann, um seine Chancen zu steigern und Gefallen zu finden.

Ich möchte an so vielen Stellen widersprechen, dazwischenfahren und den beiden "die Welt" erklären (...) Man ist so ein wenig Voyeur und der sozusagen überlegene Leser, der teils innerlich die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, weil sich beide Figuren so derartig antibeziehungsmäßig verhalten
Ja, diesen Effekt finde ich auch in Geschichten (oder ebenso in Filmen) klasse, wenn man als Leser oder Zuschauer die Charaktere packen und schütteln möchte, damit sie zur Besinnung kommen. :D Find ich natürlich ein supertolles Kompliment, wenn mein Text das bei dir schafft!

Deine Geschichte hat mir sehr gefallen, sie regt dazu an, sich mit diesem allbekannten Problem der Sprachlosigkeit innerhalb einer Beziehung auseinander zu setzen und führt zu jeder Menge anderer Ideen und Gedanken.
Nicht jeder Autor kann von seiner Geschichte so einen Erfolg vermelden.
Eine Aussage zum Ausdrucken und An-den-Spiegel-stecken - vielen Dank! :huldig:



Vielen lieben Dank euch beiden! Jetzt aber ab zur Silvesterparty - was macht ihr eigentlich noch hier?! :lol:

Grüße vom Holg ...

 

Wow, was für eine Geschichte.
Ich habe sie schon einmal begonnen, aber dann hat mich der Alltag mal wieder aus dem Lesen rausgerissen. Jetzt habe ich es geschafft. Und bin echt froh darüber. Das ginge echt unter die Haut. Vor allem das Ende, das empfinde ich als äußerst gelungen. Ganz stark, wie du diese Tafel als Symbol benutzt. Da habe ich glatt einen Kloß im Hals verspürt.
Der Lorenz ist natürlich eine bequeme Figur, denn man das jetzt auseinanderpflücken wollte. Eher ein Stichwortgeber, aber das bringst du ja selbst mit einem Augenzwinkern durch und daher stört es mich auch nicht. Überhaupt, sehe ich das jetzt nicht als große Kritik, denn solche Menschen gibt es wirklich. Ein Satz, der für mich auf die Geschichte passt: Das Paradies erkennt man erst, wenn man daraus vertrieben wurde.
Ja, das ist ein wenig konstruktiver Beitrag. Keine Ahnung, ob ich die Geschichte in einer anderen Lebensphase auch so berühren würde. Jetzt aber hat sie es getan, und entlässt mich mit einem Lächeln.
Noch ein zusätzliches Lob: Die Übergänge haben mir sehr gefallen. Auch wie du den Schmerz noch mal mit aufnimmst und leicht philosophisch den Werkzeugkoffer auf das Leben überträgst. Da musste ich kurz an Steven Kings das Leben und das Schreiben denken. Du etwa auch?

Grüßlichst
Weltenläufer

 

Hallo weltenläufer,

wow, was für ein Kommentar! :)

Es freut mich natürlich über die Maßen, dass ich dich mit meiner Geschichte derart packen konnte. Kloß im Hals ... so was hat mir noch keiner geschrieben. Da kann ich es absolut verschmerzen, dass du keine Verbesserungsvorschläge für mich hast. ;) Ich weiß natürlich nicht, in was für einer Lebensphase ich dich da erwischt habe.

Das Buch von King war mir nicht geläufig (scheint durchaus eine Wissenslücke zu sein). Ich habe eben mal bei einem Internet-Buchhändler den Klappentext studiert, da war auch gleich vom Werkzeugkasten die Rede - das scheint zu passen. Ich hab's mal auf meine Merkliste gesetzt, bald ist ja wieder Weihnachten ... :shy:

Vielen lieben Dank für deinen erhebenden Kommentar!

Grüße vom Holg ...

 

Hallo Bea Milana,

danke für die Klarstellung. Ich lege auch immer Wert auf saubere Quellen und Zitate. (Z.B. ärgere ich mich jedes Mal über die auch hier gerne zitierte Sechs-Wort-Geschichte, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Hemingway stammt.)

Danke auch für den Tipp mit Sol Stein. Der steht jetzt ebenfalls auf meiner Merkliste.

Grüße vom Holg ...

 

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