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Probezeit
Lisas Fahrrad ist hinten platt, steht auf der kleinen Schiefertafel neben dem Kühlschrank. Bitte reparieren. Dahinter ein Smiley.
Seit wir nur noch schriftlich kommunizieren, können wir uns anscheinend wieder anlächeln. Dabei hätte ich mich noch vor wenigen Monaten einfach nur über den Kreidestaub auf dem Küchenboden geärgert und darüber, dass Jule zum Tafelwischen immer den Abwaschlappen benutzte. Ich habe nie etwas dazu gesagt, weil ich weiß, dass sie meine Sauberkeitsansprüche nicht teilt. Aber selber habe ich demonstrativ Post-Its verwendet, das konnte ihr ja nicht entgehen. Trotzdem schrieb sie weiter auf der dämlichen Tafel, als wäre ihr mein Ärger egal.
Neben Jules Smiley hat Lisa eine rote Blume gemalt. Ich lächele zurück.
„Du interessierst dich überhaupt nicht für mich“, sagte Jule. „Hast du mich ein einziges Mal gefragt, wie meine Therapiesitzung war?“
So langsam wusste ich keine Antworten mehr. „Natürlich interessiere ich mich, ich will dich nur nicht bedrängen. Außerdem hast du mir das ja immer von selbst erzählt.“
„Ja, irgendwann. Aber das ist doch nicht dasselbe! Und es hat ja wohl nichts mit Bedrängen zu tun, wenn man seine Frau mal fragt, wie es ihr geht!“ Jules Schminke war zerlaufen, zehn Minuten am Stück hatte sie mir ihr Leid geklagt. „Ich komme mir vor wie ... ein Möbelstück. Ich bin einfach da, total selbstverständlich, und du nimmst mich kaum noch wahr. Kein freundliches Wort, keine Aufmerksamkeit – nichts.“
„So ist das nicht.“ Mehr fiel mir nicht ein.
Jule presste die Handballen auf die Augen und verharrte einen Moment. Während sie dann tief Luft holte, hatte ich plötzlich das Gefühl, als wäre ich in ihrem Kopf und könnte im Zeitraffer alles sehen, was sie in den letzten Monaten gemacht hatte. Wie sie mit ihrem Therapeuten zusammensaß und in vielen kleinen Schritten die Ursache ihrer Depression ergründete. Wie sie gemeinsam die möglichen Lösungen erörterten. Und wie sie bei der unvermeidlichen Maßnahme ankamen ...
„Ich möchte, dass wir uns für eine Weile trennen.“ Sie nahm die Hände von den Augen und sah mich an. „Erst mal vorläufig, auf Probe. Um zu sehen ... ob da noch Liebe ist.“ Sie weinte nicht mehr.
„Ein Schlag in die Magengrube, das kann ich dir sagen.“ Ich saß mit Lorenz beim Italiener und hatte das dritte Bier halbleer. Meine angefangene Pizza wurde kalt.
„Und?“, fragte er. „Hat sie Recht?“
„Womit?“
„Na, mit der Aufmerksamkeit, dem Wahrnehmen und so. Wann hast du ihr zum Beispiel das letzte Mal Blumen mitgebracht?“
„Ich war noch nie der Blumentyp, und das weiß sie, solange sie mich kennt. Was hat es denn mit Wertschätzung für den anderen zu tun, wenn man ihm tote Pflanzen schenkt?“
Lorenz seufzte. „Okay. Womit zeigst du ihr dann dein Interesse?“
„Na ja ...“ Ich überlegte. „Ich bin halt immer für sie da. Wenn sie was will oder braucht, muss sie es nur sagen. Ich bin doch der Letzte, der Nein sagt, wenn man ihn um irgendwas bittet. Und ich höre zu, wenn sie mir was erzählt.“
„Und wenn sie nichts sagt und um nichts bittet?“ Er sah mich herausfordernd an. „Überraschst du sie dann manchmal?“
Ich schwieg.
„Wann war sie das letzte Mal beim Friseur?“, fuhr Lorenz fort.
„Was weiß ich denn, soll ich etwa in ihrem Terminkalender schnüffeln?“ Dann begriff ich, was er meinte. „Ich bin eben mehr so fürs Praktische. Ich hab ihr zum Beispiel dieses Blumenregal gebaut, weißt du noch?“
„Oh ja, ein Riesenteil, das war echt toll! Vor ... vier Jahren ungefähr?“
„Drei“, korrigierte ich. „Oder fünf, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sie ein so beschissenes Bild von mir – wenn sie mich beschreibt, komme ich mir wie das letzte Monster vor! Ein paar positive Eigenschaften werde ich ja wohl auch noch haben.“
„Monster ist vielleicht zu hart, aber ein ziemlicher Beziehungslegastheniker bist du schon.“
„Na danke! Für einen Sozialpädagogen kannst du ein ziemlicher Arsch sein, weißt du das?“
Lorenz lachte. „So was würde ich dir nicht sagen, wenn wir nicht seit zwanzig Jahren Freunde wären.“ Dann wurde er wieder ernst. „Du bist ganz sicher kein Monster, das weiß Jule auch. Und eine Depression hat meistens nicht nur eine einzige Ursache. Aber so, wie das für mich aussieht, bist du auch nicht der, der sie in dieser Phase aufbaut. Für sie bist du eher ... Teil des Problems.“
Ich schluckte. „Ich wäre aber lieber Teil der Lösung.“
Lorenz sah mich nur an und nickte langsam.
„Fuck“, sagte ich. „Wenn das ein Traum ist, dann möchte ich jetzt bitte aufwachen.“
Sehr effektiv zum Wachwerden ist es, sich einen Schraubenzieher in den Handballen zu rammen, nachdem man von einer Fahrradfelge abgerutscht ist. Schon ewig wollte ich mir einen vernünftigen Reifenheber zulegen. Es ist nur eine Schramme, doch es brennt und will kaum aufhören zu bluten. Aus meinem Alptraum befreit hat es mich nicht.
So kann es gehen: Wenn man sich nicht die richtigen Werkzeuge für eine Aufgabe aneignet, endet die Sache schmerzhaft. Ich habe in letzter Zeit einen grimmigen Sport daraus gemacht, in alltäglichen Missgeschicken eine Metapher für meine Beziehungsunfähigkeit zu finden. Vielleicht führt mich das ja eines Tages zu einem echten Erkenntnisfortschritt.
Als ich in Lisas Alter war, konnte ich mein Fahrrad selbst flicken. Tobias könnte seiner Schwester ruhig einmal helfen, aber er ignoriert sie nach Kräften, seit sie auf der Welt ist. Habe ich bei der Kindererziehung eigentlich genauso viel falsch gemacht wie in meiner Ehe?
Auf einmal ist mir alles klar: Tobias hat diese Nichtwahrnehmung am Vorbild seines Vaters gelernt. Meine Schuld.
„Schuld ist die völlig falsche Kategorie“, sagte Lorenz. Wir führen in letzter Zeit viele Gespräche, er ersetzt mir den Therapeuten. „Du hast getan, wozu du in der Lage warst, also hast du dir nichts vorzuwerfen.“
„Ich war also nicht mal in der Lage, ein besserer Ehemann zu sein? Du kannst einen ja wirklich aufmuntern.“
„Sagt ja keiner, dass du dich nicht verbessern kannst. Es hat bloß keinen Sinn, sich über die Vergangenheit selbst zu zerfleischen. Das verstellt dir nur den Blick darauf, wie du die Zukunft angehen kannst. Ganz zu schweigen davon, vielleicht der Gegenwart ein bisschen was Gutes abzugewinnen.“
„Mann, hast du schon mal überlegt, ein Buch zu schreiben?“ Ich meinte das nur halb ironisch. „Du haust echt einen klugen Spruch nach dem anderen raus.“
Lorenz grinste. „Nö, das ist nicht mein Ding. Aber gelesen habe ich schon viele. Ich kann dir ja mal ein paar davon leihen.“
Am nächsten Tag gab er mir eine Handvoll Bücher, ein Best-of der Psycho-, Ehe- und auch Scheidungsratgeber. Ich begann zu lesen. In der Hälfte der Fallbeispiele erkannte ich uns wieder, nur die Namen variierten. Offenbar war ich der Prototyp des kommunikationsunfähigen und gefühlsgestörten Ehemanns, und vermutlich hätte es mich trösten sollen, dass es viele Menschen mit ähnlichen Problemen gab. Doch statt einer Menge hilfreicher Ratschläge, wie ich es künftig besser machen konnte, sah ich vor allem eine niederschmetternde Auflistung meiner Fehler.
Jule hatte Recht.
Vielleicht war es ein Anfang, wenn ich mir das eingestand.
Ich habe meine Wunde versorgt und werfe einen Blick in die leeren Kinderzimmer. Lisas ist wie immer ein einziges Chaos, Tobias' Raum dafür penibler aufgeräumt denn je.
Jule und ich haben abgemacht, dass ich eine Zeitlang lieber vormittags komme, wenn die beiden in der Schule sind. Es belastet sie zu sehr, mich erst kommen und dann wieder gehen zu sehen. Tobias verkriecht sich dann meistens in seinem Zimmer, um mir gar nicht erst über den Weg zu laufen; Lisa dagegen hängt sich beim Abschied an meinen Hals und heult. Ich heule jedes Mal mit.
Ich hatte nicht mehr richtig geweint, seit ich selbst noch klein war. Nicht einmal, als Tobias vor zwei Jahren mit Hirnhautentzündung auf der Intensivstation lag und wir drei Tage lang bangten, ob er das hohe Fieber ohne bleibende Schäden überstehen würde. Weil Jule ein Häufchen Elend war, tat ich mein Bestes, Kraft und Zuversicht auszustrahlen und den Alltag am Laufen zu halten. Ich wollte der Fels in der Brandung sein.
Aber Felsen sind auch hart, und in der Brandung werden sie glitschig. Jule fand keinen Halt an mir. Stattdessen zog sie sich zurück und klammerte sich umso stärker an den Jungen, nachdem er wieder genesen war. War die Distanz zwischen uns vorher nur latent zu spüren, trat sie von da an offen zutage – vielleicht, weil Jule mir die scheinbare Teilnahmslosigkeit übelnahm. Darüber gesprochen haben wir nie, wie über so vieles.
Im Flur steht meine saubere Wäsche. Die mitgebrachte schmutzige sortiere ich in die Körbe im Badezimmer: vierzig Grad, sechzig Grad. Manche würden es sicher ungewöhnlich finden, dass Jule trotz der Trennung meine Sachen wäscht, auch wenn ich das Bügeln selbst übernehme. Doch das Ein-Zimmer-Apartment, das ich in aller Eile bezogen habe, hat nun mal trotz seines saftiges Preises keine Waschmaschine. Und gewöhnlich wollten Jule und ich ohnehin nie sein.
Ich wollte auch nie wie mein Vater sein. Oder wie sein Vater. Oder wie mein Bruder. Allesamt geschieden, allesamt mit Kindern – Scheidungskindern, die später weitere Scheidungskinder zeugen. Ich war mal entschlossen, diese unselige Familientradition zu durchbrechen, und wie weit habe ich es gebracht?
Ich weigere mich mir einzugestehen, dass ich gescheitert bin und mich in die Ahnengalerie einreihen kann. Ich will verdammt noch mal kämpfen. Aber wie?
Als meine Mutter meinen Vater nach zwanzig Jahren Ehe in die Wüste schickte, gratulierte ich ihr zu dem Entschluss. Doch das abschreckende Beispiel eine Kindheit lang vor Augen zu haben, hat nicht verhindert, dass ich genau wie er meine Gefühle verdrängte und an irgendeinen Ort verbannte, zu dem ich selber keinen Zugang habe, geschweige denn jemand anderes. Egal ob Glück oder Schmerz, Liebe oder Abscheu, Freude oder Ärger.
Vor allem Ärger. Nie habe ich laut gesagt, dass mich der Kreidestaub auf dem Küchenboden stört. Oder die Wasserflecken am Besteck, der Kratzer am Kotflügel, die Fußstapfen im Beet, die Leere auf dem Konto, der Kitsch auf der Anrichte. In der Gewissheit, diese Dinge seien unwichtig und mein Missmut unangebracht, habe ich den Groll in mir aufgestaut und seinen Pegel ansteigen lassen. Wie ein Staubecken voll mit giftigem Klärschlamm, durch dicke Mauern gesichert, damit er sich nur nicht in die Umgebung ergießt wie bei dem Bergwerksunglück in Brasilien letztes Jahr. Mein Damm war stärker als jener am Rio Doce, er war unüberwindlich, und Jule stand sprachlos außen davor, während ich in der ätzenden Flüssigkeit schwamm, die sich immer tiefer in mein Inneres brannte. Wertschätzung und Aufmerksamkeit für Jule? Sie wurden von der Säure aufgefressen.
Nach der Trennung verbrachte ich Wochen damit, mich für mein Unvermögen zu geißeln; Wut und Scham wechselten sich ab. Inzwischen fühle ich nur noch Trauer über die verpassten Chancen.
„Mindestens drei Monate“, hatte Jule gesagt. „Ich muss erst mal in Ruhe rausfinden, was ich überhaupt empfinde.“ Noch so ein Schlag, diesmal mitten ins Gesicht. „Und das solltest du auch.“
Aus den drei Monaten sind inzwischen fünf geworden – und elf Tage und anderthalb Stunden. Ich wüsste gerne, wann sie wohl zu einer Entscheidung kommt. Ist das auch wieder so ein Ding, nach dem ich einfach fragen sollte? Ich darf sie doch nicht unter Druck setzen.
Für mich war die Bedenkzeit mehr als ausreichend. Wenn ich noch einen Moment der Erkenntnis gebraucht hätte, wäre er vor zwei Wochen gewesen, als ich Jule in der Einkaufspassage sah. Ich blieb hinter einer Säule stehen, beobachtete sie und kam mir albern dabei vor.
Jule saß mit einer Freundin – wie hieß die noch? – an einem der Cafétische mitten auf dem Gang. Sie wirkte gelöst, die ungesunde Blässe war verschwunden, dafür war die lebhafte Gestik von früher zurückgekehrt, mit der sie ihre Cappuccinotasse immer in tödliche Gefahr brachte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange ich das nicht gesehen hatte. So gut geht es dir ohne mich? Beschämt schob ich den Gedanken zur Seite. Und dann lachte sie endlich wieder dieses laute, ausgelassene Lachen, für das ich schon damals jeden Mord begangen hätte. Ich hätte an Ort und Stelle vor ihr niederknien und noch einmal um ihre Hand anhalten mögen.
„Warum hast du's nicht gemacht?“, fragte mich Lorenz später.
„Was?!“
„Im Ernst. Woher soll sie denn wissen, was du für sie fühlst?“
„Aber ich kann doch nicht ...“ Die Idee sprengte meine Vorstellungskraft.
„Nee“, sagte Lorenz, „das kannst du nicht. Und genau das ist dein Problem.“
Ich bin bereit zum Gehen, stehe noch unschlüssig in der Küche. Zögernd nehme ich den Abwaschlappen und wische die Tafel neben dem Kühlschrank ab. Vorsichtig, um Lisas Blume nicht zu verschmieren. Keine Ahnung, warum die Kreide in meiner Hand so blöde zittert.
Wie geht es dir?
Noch ist viel Platz auf der Tafel. Ich hole tief Luft.
Gehen wir mal zusammen einen Kaffee trinken?
Mein Smiley wird ein wenig schief.