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Probezeit

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15.10.2015
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Probezeit

Lisas Fahrrad ist hinten platt, steht auf der kleinen Schiefertafel neben dem Kühlschrank. Bitte reparieren. Dahinter ein Smiley.
Seit wir nur noch schriftlich kommunizieren, können wir uns anscheinend wieder anlächeln. Dabei hätte ich mich noch vor wenigen Monaten einfach nur über den Kreidestaub auf dem Küchenboden geärgert und darüber, dass Jule zum Tafelwischen immer den Abwaschlappen benutzte. Ich habe nie etwas dazu gesagt, weil ich weiß, dass sie meine Sauberkeitsansprüche nicht teilt. Aber selber habe ich demonstrativ Post-Its verwendet, das konnte ihr ja nicht entgehen. Trotzdem schrieb sie weiter auf der dämlichen Tafel, als wäre ihr mein Ärger egal.
Neben Jules Smiley hat Lisa eine rote Blume gemalt. Ich lächele zurück.

„Du interessierst dich überhaupt nicht für mich“, sagte Jule. „Hast du mich ein einziges Mal gefragt, wie meine Therapiesitzung war?“
So langsam wusste ich keine Antworten mehr. „Natürlich interessiere ich mich, ich will dich nur nicht bedrängen. Außerdem hast du mir das ja immer von selbst erzählt.“
„Ja, irgendwann. Aber das ist doch nicht dasselbe! Und es hat ja wohl nichts mit Bedrängen zu tun, wenn man seine Frau mal fragt, wie es ihr geht!“ Jules Schminke war zerlaufen, zehn Minuten am Stück hatte sie mir ihr Leid geklagt. „Ich komme mir vor wie ... ein Möbelstück. Ich bin einfach da, total selbstverständlich, und du nimmst mich kaum noch wahr. Kein freundliches Wort, keine Aufmerksamkeit – nichts.“
„So ist das nicht.“ Mehr fiel mir nicht ein.
Jule presste die Handballen auf die Augen und verharrte einen Moment. Während sie dann tief Luft holte, hatte ich plötzlich das Gefühl, als wäre ich in ihrem Kopf und könnte im Zeitraffer alles sehen, was sie in den letzten Monaten gemacht hatte. Wie sie mit ihrem Therapeuten zusammensaß und in vielen kleinen Schritten die Ursache ihrer Depression ergründete. Wie sie gemeinsam die möglichen Lösungen erörterten. Und wie sie bei der unvermeidlichen Maßnahme ankamen ...
„Ich möchte, dass wir uns für eine Weile trennen.“ Sie nahm die Hände von den Augen und sah mich an. „Erst mal vorläufig, auf Probe. Um zu sehen ... ob da noch Liebe ist.“ Sie weinte nicht mehr.

„Ein Schlag in die Magengrube, das kann ich dir sagen.“ Ich saß mit Lorenz beim Italiener und hatte das dritte Bier halbleer. Meine angefangene Pizza wurde kalt.
„Und?“, fragte er. „Hat sie Recht?“
„Womit?“
„Na, mit der Aufmerksamkeit, dem Wahrnehmen und so. Wann hast du ihr zum Beispiel das letzte Mal Blumen mitgebracht?“
„Ich war noch nie der Blumentyp, und das weiß sie, solange sie mich kennt. Was hat es denn mit Wertschätzung für den anderen zu tun, wenn man ihm tote Pflanzen schenkt?“
Lorenz seufzte. „Okay. Womit zeigst du ihr dann dein Interesse?“
„Na ja ...“ Ich überlegte. „Ich bin halt immer für sie da. Wenn sie was will oder braucht, muss sie es nur sagen. Ich bin doch der Letzte, der Nein sagt, wenn man ihn um irgendwas bittet. Und ich höre zu, wenn sie mir was erzählt.“
„Und wenn sie nichts sagt und um nichts bittet?“ Er sah mich herausfordernd an. „Überraschst du sie dann manchmal?“
Ich schwieg.
„Wann war sie das letzte Mal beim Friseur?“, fuhr Lorenz fort.
„Was weiß ich denn, soll ich etwa in ihrem Terminkalender schnüffeln?“ Dann begriff ich, was er meinte. „Ich bin eben mehr so fürs Praktische. Ich hab ihr zum Beispiel dieses Blumenregal gebaut, weißt du noch?“
„Oh ja, ein Riesenteil, das war echt toll! Vor ... vier Jahren ungefähr?“
„Drei“, korrigierte ich. „Oder fünf, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sie ein so beschissenes Bild von mir – wenn sie mich beschreibt, komme ich mir wie das letzte Monster vor! Ein paar positive Eigenschaften werde ich ja wohl auch noch haben.“
„Monster ist vielleicht zu hart, aber ein ziemlicher Beziehungslegastheniker bist du schon.“
„Na danke! Für einen Sozialpädagogen kannst du ein ziemlicher Arsch sein, weißt du das?“
Lorenz lachte. „So was würde ich dir nicht sagen, wenn wir nicht seit zwanzig Jahren Freunde wären.“ Dann wurde er wieder ernst. „Du bist ganz sicher kein Monster, das weiß Jule auch. Und eine Depression hat meistens nicht nur eine einzige Ursache. Aber so, wie das für mich aussieht, bist du auch nicht der, der sie in dieser Phase aufbaut. Für sie bist du eher ... Teil des Problems.“
Ich schluckte. „Ich wäre aber lieber Teil der Lösung.“
Lorenz sah mich nur an und nickte langsam.
„Fuck“, sagte ich. „Wenn das ein Traum ist, dann möchte ich jetzt bitte aufwachen.“

Sehr effektiv zum Wachwerden ist es, sich einen Schraubenzieher in den Handballen zu rammen, nachdem man von einer Fahrradfelge abgerutscht ist. Schon ewig wollte ich mir einen vernünftigen Reifenheber zulegen. Es ist nur eine Schramme, doch es brennt und will kaum aufhören zu bluten. Aus meinem Alptraum befreit hat es mich nicht.
So kann es gehen: Wenn man sich nicht die richtigen Werkzeuge für eine Aufgabe aneignet, endet die Sache schmerzhaft. Ich habe in letzter Zeit einen grimmigen Sport daraus gemacht, in alltäglichen Missgeschicken eine Metapher für meine Beziehungsunfähigkeit zu finden. Vielleicht führt mich das ja eines Tages zu einem echten Erkenntnisfortschritt.
Als ich in Lisas Alter war, konnte ich mein Fahrrad selbst flicken. Tobias könnte seiner Schwester ruhig einmal helfen, aber er ignoriert sie nach Kräften, seit sie auf der Welt ist. Habe ich bei der Kindererziehung eigentlich genauso viel falsch gemacht wie in meiner Ehe?
Auf einmal ist mir alles klar: Tobias hat diese Nichtwahrnehmung am Vorbild seines Vaters gelernt. Meine Schuld.

„Schuld ist die völlig falsche Kategorie“, sagte Lorenz. Wir führen in letzter Zeit viele Gespräche, er ersetzt mir den Therapeuten. „Du hast getan, wozu du in der Lage warst, also hast du dir nichts vorzuwerfen.“
„Ich war also nicht mal in der Lage, ein besserer Ehemann zu sein? Du kannst einen ja wirklich aufmuntern.“
„Sagt ja keiner, dass du dich nicht verbessern kannst. Es hat bloß keinen Sinn, sich über die Vergangenheit selbst zu zerfleischen. Das verstellt dir nur den Blick darauf, wie du die Zukunft angehen kannst. Ganz zu schweigen davon, vielleicht der Gegenwart ein bisschen was Gutes abzugewinnen.“
„Mann, hast du schon mal überlegt, ein Buch zu schreiben?“ Ich meinte das nur halb ironisch. „Du haust echt einen klugen Spruch nach dem anderen raus.“
Lorenz grinste. „Nö, das ist nicht mein Ding. Aber gelesen habe ich schon viele. Ich kann dir ja mal ein paar davon leihen.“
Am nächsten Tag gab er mir eine Handvoll Bücher, ein Best-of der Psycho-, Ehe- und auch Scheidungsratgeber. Ich begann zu lesen. In der Hälfte der Fallbeispiele erkannte ich uns wieder, nur die Namen variierten. Offenbar war ich der Prototyp des kommunikationsunfähigen und gefühlsgestörten Ehemanns, und vermutlich hätte es mich trösten sollen, dass es viele Menschen mit ähnlichen Problemen gab. Doch statt einer Menge hilfreicher Ratschläge, wie ich es künftig besser machen konnte, sah ich vor allem eine niederschmetternde Auflistung meiner Fehler.
Jule hatte Recht.
Vielleicht war es ein Anfang, wenn ich mir das eingestand.

Ich habe meine Wunde versorgt und werfe einen Blick in die leeren Kinderzimmer. Lisas ist wie immer ein einziges Chaos, Tobias' Raum dafür penibler aufgeräumt denn je.
Jule und ich haben abgemacht, dass ich eine Zeitlang lieber vormittags komme, wenn die beiden in der Schule sind. Es belastet sie zu sehr, mich erst kommen und dann wieder gehen zu sehen. Tobias verkriecht sich dann meistens in seinem Zimmer, um mir gar nicht erst über den Weg zu laufen; Lisa dagegen hängt sich beim Abschied an meinen Hals und heult. Ich heule jedes Mal mit.
Ich hatte nicht mehr richtig geweint, seit ich selbst noch klein war. Nicht einmal, als Tobias vor zwei Jahren mit Hirnhautentzündung auf der Intensivstation lag und wir drei Tage lang bangten, ob er das hohe Fieber ohne bleibende Schäden überstehen würde. Weil Jule ein Häufchen Elend war, tat ich mein Bestes, Kraft und Zuversicht auszustrahlen und den Alltag am Laufen zu halten. Ich wollte der Fels in der Brandung sein.
Aber Felsen sind auch hart, und in der Brandung werden sie glitschig. Jule fand keinen Halt an mir. Stattdessen zog sie sich zurück und klammerte sich umso stärker an den Jungen, nachdem er wieder genesen war. War die Distanz zwischen uns vorher nur latent zu spüren, trat sie von da an offen zutage – vielleicht, weil Jule mir die scheinbare Teilnahmslosigkeit übelnahm. Darüber gesprochen haben wir nie, wie über so vieles.

Im Flur steht meine saubere Wäsche. Die mitgebrachte schmutzige sortiere ich in die Körbe im Badezimmer: vierzig Grad, sechzig Grad. Manche würden es sicher ungewöhnlich finden, dass Jule trotz der Trennung meine Sachen wäscht, auch wenn ich das Bügeln selbst übernehme. Doch das Ein-Zimmer-Apartment, das ich in aller Eile bezogen habe, hat nun mal trotz seines saftiges Preises keine Waschmaschine. Und gewöhnlich wollten Jule und ich ohnehin nie sein.
Ich wollte auch nie wie mein Vater sein. Oder wie sein Vater. Oder wie mein Bruder. Allesamt geschieden, allesamt mit Kindern – Scheidungskindern, die später weitere Scheidungskinder zeugen. Ich war mal entschlossen, diese unselige Familientradition zu durchbrechen, und wie weit habe ich es gebracht?
Ich weigere mich mir einzugestehen, dass ich gescheitert bin und mich in die Ahnengalerie einreihen kann. Ich will verdammt noch mal kämpfen. Aber wie?

Als meine Mutter meinen Vater nach zwanzig Jahren Ehe in die Wüste schickte, gratulierte ich ihr zu dem Entschluss. Doch das abschreckende Beispiel eine Kindheit lang vor Augen zu haben, hat nicht verhindert, dass ich genau wie er meine Gefühle verdrängte und an irgendeinen Ort verbannte, zu dem ich selber keinen Zugang habe, geschweige denn jemand anderes. Egal ob Glück oder Schmerz, Liebe oder Abscheu, Freude oder Ärger.
Vor allem Ärger. Nie habe ich laut gesagt, dass mich der Kreidestaub auf dem Küchenboden stört. Oder die Wasserflecken am Besteck, der Kratzer am Kotflügel, die Fußstapfen im Beet, die Leere auf dem Konto, der Kitsch auf der Anrichte. In der Gewissheit, diese Dinge seien unwichtig und mein Missmut unangebracht, habe ich den Groll in mir aufgestaut und seinen Pegel ansteigen lassen. Wie ein Staubecken voll mit giftigem Klärschlamm, durch dicke Mauern gesichert, damit er sich nur nicht in die Umgebung ergießt wie bei dem Bergwerksunglück in Brasilien letztes Jahr. Mein Damm war stärker als jener am Rio Doce, er war unüberwindlich, und Jule stand sprachlos außen davor, während ich in der ätzenden Flüssigkeit schwamm, die sich immer tiefer in mein Inneres brannte. Wertschätzung und Aufmerksamkeit für Jule? Sie wurden von der Säure aufgefressen.
Nach der Trennung verbrachte ich Wochen damit, mich für mein Unvermögen zu geißeln; Wut und Scham wechselten sich ab. Inzwischen fühle ich nur noch Trauer über die verpassten Chancen.

„Mindestens drei Monate“, hatte Jule gesagt. „Ich muss erst mal in Ruhe rausfinden, was ich überhaupt empfinde.“ Noch so ein Schlag, diesmal mitten ins Gesicht. „Und das solltest du auch.“
Aus den drei Monaten sind inzwischen fünf geworden – und elf Tage und anderthalb Stunden. Ich wüsste gerne, wann sie wohl zu einer Entscheidung kommt. Ist das auch wieder so ein Ding, nach dem ich einfach fragen sollte? Ich darf sie doch nicht unter Druck setzen.
Für mich war die Bedenkzeit mehr als ausreichend. Wenn ich noch einen Moment der Erkenntnis gebraucht hätte, wäre er vor zwei Wochen gewesen, als ich Jule in der Einkaufspassage sah. Ich blieb hinter einer Säule stehen, beobachtete sie und kam mir albern dabei vor.
Jule saß mit einer Freundin – wie hieß die noch? – an einem der Cafétische mitten auf dem Gang. Sie wirkte gelöst, die ungesunde Blässe war verschwunden, dafür war die lebhafte Gestik von früher zurückgekehrt, mit der sie ihre Cappuccinotasse immer in tödliche Gefahr brachte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange ich das nicht gesehen hatte. So gut geht es dir ohne mich? Beschämt schob ich den Gedanken zur Seite. Und dann lachte sie endlich wieder dieses laute, ausgelassene Lachen, für das ich schon damals jeden Mord begangen hätte. Ich hätte an Ort und Stelle vor ihr niederknien und noch einmal um ihre Hand anhalten mögen.

„Warum hast du's nicht gemacht?“, fragte mich Lorenz später.
„Was?!“
„Im Ernst. Woher soll sie denn wissen, was du für sie fühlst?“
„Aber ich kann doch nicht ...“ Die Idee sprengte meine Vorstellungskraft.
„Nee“, sagte Lorenz, „das kannst du nicht. Und genau das ist dein Problem.“

Ich bin bereit zum Gehen, stehe noch unschlüssig in der Küche. Zögernd nehme ich den Abwaschlappen und wische die Tafel neben dem Kühlschrank ab. Vorsichtig, um Lisas Blume nicht zu verschmieren. Keine Ahnung, warum die Kreide in meiner Hand so blöde zittert.
Wie geht es dir?
Noch ist viel Platz auf der Tafel. Ich hole tief Luft.
Gehen wir mal zusammen einen Kaffee trinken?
Mein Smiley wird ein wenig schief.

 
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Hey Holg,

also Thema haste schon mal erfüllt und tatsächlich mit Kreide und so. Wenn die Kriede auch mehr Wirkung als Ursache ist, aber das ist ja egal.

Ich mag ja Beziehungsdramen gern, so lange es nicht meine eigenen ist. Deine Geschichte erzählt jetzt kein neues, sondern wahrscheinlich neben Fremdgehen das häufigste von allen. Und am Ende ist Fremdgehen ja meist nur der Tropfen, dem Unaufmerksamkeit vorausgeht. Da holt man sich, was man vermisst eben woanders. Aber so weit kommt es bei Dir ja nicht. Zu anständig die beiden.

Anständig trifft es irgendwie, was ich über die Geschichte denke. Dein Prot. erzählt halt viel, wie er da im Inneren seinen "Kampf" mit sich führt. Die Geschichte hat mir aber an den Stellen, wo es mal zum show wechselt besser gefallen. Als er da mitweint, wenn er sich von seiner Tochter verabschiedet, (was ja auch nur erzählt wird) wäre eine tolle Stelle für show gewesen. Ich mein, so Einsichten in das eigene Verhalten sind halt weniger spannend zu lesen, zumal diese hier ja auch ganz brav ablaufen. Für mich jedenfalls, andere mögen das anders empfinden. Und am Ende dachte ich nur, mein Gott, jetzt hat er all die Einsichten und tut trotzdem nichts. Da hat der Freund ganz Recht. Aber man schlüpft halt auch nicht von einer Minute zur anderen aus seiner Haut, insofern ist das Ende schon folgerichtig, wenn es auch klein wirkt.

Gelesen hab ich das aber gern. Ist sehr alltäglich, sehr gerade, liest und fühlt sich alles "richtig" an, irgendwie. Muss es auch geben. Stecken ja genügend Leute in diesem Dilemma, die sich da ganz sicher drin wiederfinden. Die Spannungsfreunde wird der Text eher nicht erreichen, denke ich mal.
Kritik: viel tell, wenig show - die bleibt ;). Und das mit dem Kreidestaub vs. Post it - das hat mir gefallen. Auch das mit dem Abwaschlappen, so als toping.

Beste Grüße, Fliege

 

Lieber Holg,

gelesen habe ich deinen Text gern, weil mir in ihm so viel Wahres und Bekanntes begegnet. Diese beiden, die auf unterschiedlichen Planeten zu leben scheinen, besonders wohl, weil er den Draht zu ihr irgendwann verloren hat. Aber wohl auch, weil sie nicht früh genug interveniert hat, es geschehen ließ, bis es dann bei ihr zur Depression wurde. Ich erfahre nicht viel von ihr, du bleibst konsequent in ihm, nur an ganz wenigen Stellen ist sie zu hören, wird sie wahrnehmbar:

„Ich komme mir vor wie ... ein Möbelstück. Ich bin einfach da, total selbstverständlich, und du nimmst mich kaum noch wahr. Kein freundliches Wort, keine Aufmerksamkeit – nichts.“

Keine Ahnung, in wie vielen Ehen dieser Satz so oder ähnlich gefallen sein könnte? In achtzig Prozent oder sogar neunzig ?

Und auch seine Reaktion ist absolut typisch:

„So ist das nicht.“ Mehr fiel mir nicht ein.

Es gibt kein Gut oder Böse, mit der man diese Situation bewerten könnte. Es ist einfach der ganz normale abgenutzte Ehealltag, unter dem verschwindet, was einmal wichtig war: miteinander zu lachen, den anderen als Individuum zu sehen, aufmerksam zu sein, seine Gefühle, Wünsche und Gedanken wahrzunehmen, mit ihm zu reden und nicht nur über etwas.

Und mMn kommt noch etwas anderes hinzu: Die Rolle (Ehefrau) tritt an die Stelle des Individuums:

Ich hab ihr zum Beispiel dieses Blumenregal gebaut, weißt du noch?

Die Ehefrau als Gestalterin des Heims, der Mann als derjenige, der die Grundlagen dafür schafft. Dass Jule gerne einmal wieder als Jule wahrgenommen werden würde, schiebt er zur Seite:

Ich war noch nie der Blumentyp, und das weiß sie, solange sie mich kennt.

Wie am Anfang schon gesagt, werden die meisten altgedienten Eheleute sich in deinem Text auf die eine oder andere Weise wiedererkennen. Da passiert nichts Aufregendes, da hat es sich einer vielleicht nur zu einfach gemacht, seine Rolle gespielt, nicht darauf geachtet, was der andere fühlt oder denkt. Und dieser andere hat irgendwann begonnen darunter zu leiden. Warum und wie das in diesem konkreten Fall geschehen ist, thematisiert dein Text nicht. Er beschäftigt sich mit der Situation danach: Sie haben sich getrennt und der Mann versucht herauszufinden, warum das passiert ist, ganz allmählich beginnt er zu begreifen.

Das ist echtes Leben, vorstellbar und fast exemplarisch. Und darin sehe ich ein Problem deines Textes: Er wird nicht konkret. Weder wird Jule als Jule fassbar noch unterscheidet sich dein Ich-Erzähler von den Tausenden anderer Ehemänner, die in diese Situation geraten sind. Du beschreibst das Typische, aber da ist wenig Spezielles, wenig, was Jule und den Ich-Erzähler heraushebt aus der Menge der Paare, die nach Jahrzehnten in eine ähnliche Krise geraten.

Und deshalb fände ich es wichtig, dass du das, was du hier darstellst, stärker in deinem Text gewichtest und konkretisierst:

Ich hatte nicht mehr richtig geweint, seit ich selbst noch klein war. Nicht einmal, als Tobias vor zwei Jahren mit Hirnhautentzündung auf der Intensivstation lag und wir drei Tage lang bangten, ob er das hohe Fieber ohne bleibende Schäden überstehen würde. Weil Jule ein Häufchen Elend war, tat ich mein Bestes, Kraft und Zuversicht auszustrahlen und den Alltag am Laufen zu halten. Ich wollte der Fels in der Brandung sein.
Aber Felsen sind auch hart, und in der Brandung werden sie glitschig. Jule fand keinen Halt an mir. Stattdessen zog sie sich zurück und klammerte sich umso stärker an den Jungen, nachdem er wieder genesen war. War die Distanz zwischen uns vorher nur latent zu spüren, trat sie von da an offen zutage – vielleicht, weil Jule mir die scheinbare Teilnahmslosigkeit übelnahm. Darüber gesprochen haben wir nie, wie über so vieles.

Fast protokollartig skizzierst du hier nämlich die entscheidende Phase dieses Ehepaares. Allerdings in einer Weise, die mir nicht klar macht, was da eigentlich genau zwischen den beiden passiert ist. Ich kann mir in etwa noch vorstellen, dass er sein Bestes tut, er zum Felsen in der Brandung wird, aber warum dieser Felsen für Jule glitschig wird (wurde), das behauptest du nur. Was du damit konkret meinst, erschließt sich mir nicht. Und auch die Sache mit der sich verstärkenden Distanz und der scheinbaren Teilnahmslosigkeit erreichen mich als Leser nicht, weil ich nicht weiß, was sich da wirklich zwischen den beiden abgespielt hat. Es bleiben irgendwie Schlagworte.

Holg, mir gefällt dein Text, weil er das Typische der Situation sehr gut auf den Punkt bringt. Gefehlt hat mir ein wenig das Spezielle, das Konkrete, das mir zeigt, wie gerade diese beiden in ihre Krise hineingeraten sind. Ich weiß, das ist nicht das Thema deiner Geschichte. Aber es würde mir beide vermutlich ein wenig näher bringen.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo Fliege, hallo barnhelm,

vielen Dank für eure Kommentare. Eure Einschätzung des Textes scheint sich zu 94,73 % zu decken - macht es euch viel aus, wenn ich das in einem beantworte?

Die geschilderte Situation ist alltäglich, passiert Tausenden von Paaren wahrscheinlich genau jetzt in diesem Moment. Ja, das trifft es genau, das war auch durchaus beabsichtigt: ein verbreitetes Problem am Exempel zu veranschaulichen. (Darum ja auch der "Alltag"-Tag, also der All-Tag quasi, haha ... :rolleyes:)

Nur ist mein Exempel zu ... exemplarisch. Zu wenig individuell. Hm, das war schon weniger meine Intention.

barnhelm schrieb:
Die Rolle (...) tritt an die Stelle des Individuums
Das scheint mir in doppelter Weise zu stimmen: Zum einen innerhalb der Geschichte, wo die Eheleute bei der Ausübung ihrer Rollen ihre Individualität einbüßen, vor dem jeweils anderen und vielleicht auch vor sich selbst; zum anderen auf der textuellen Ebene, wo ich die Personen zu wenig individuell gezeichnet und zu sehr auf ihre Rollen reduziert habe. Das eine gefällt mir, das andere nicht.

Ich bin ziemlich sicher, dass das viel mit dem Aspekt Show vs. Tell zu tun hat, weil sich im Show die Individualität wohl deutlich leichter abbilden lässt. Ihr nennt ja beide auch Beispiele, in denen ich das hätte anwenden können. Bisher habe ich das nur in ausgewählten Szenen getan, die mir dafür besonders geeignet schienen. (Die nahende Deadline hat auch eine Rolle gespielt.) Die Dinge, die so schleichend passieren, habe ich tendenziell eher zusammengefasst. Aber da geht sicherlich mehr, ich werde das noch mal genauer anschauen.

barnhelm schrieb:
Gefehlt hat mir ein wenig das Spezielle, das Konkrete, das mir zeigt, wie gerade diese beiden in ihre Krise hineingeraten sind. Ich weiß, das ist nicht das Thema deiner Geschichte.
Würde ich so gar nicht sagen, denn der Prot grübelt ja auch ganz stark genau über diese Frage nach. Auch da werde ich deshalb versuchen nachzuarbeiten.

Fliege schrieb:
Und am Ende dachte ich nur, mein Gott, jetzt hat er all die Einsichten und tut trotzdem nichts. Da hat der Freund ganz Recht. Aber man schlüpft halt auch nicht von einer Minute zur anderen aus seiner Haut, insofern ist das Ende schon folgerichtig, wenn es auch klein wirkt.
Ich erinnere mich da an eine andere Geschichte von mir, wo sich die Geister an dem Ende schieden, weil der Prot einigen Lesern zu passiv und unentschlossen war. Mal sehen, vielleicht hat dieser Text hier ja ein ähnliches Spaltpotential... :D

Vielen Dank euch beiden, das war sehr erhellend!

Grüße vom Holg ...

 
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Lieber The Incredible Holg,

Anamnese, klinische Bestandsaufnahme, das fällt mir als erstes ein. Und ja, viel Wiedererkanntes, Typisches, teilweise Selbsterlebtes. Muss das alles gezeigt werden? Darf nichts erzählt werden?

Ich lese zur Zeit Kurzgeschichten von Alice Munro, der Nobelpreisträgerin von 2013. josefelipe hat mich draufgestoßen. Da wird sehr oft erzählt, wie der Prozess zur Selbstfindung in Gesprächen und Selbstreflexion vorankommt. Gehandelt wird anfänglich nur zögerlich.

Dein Prot hat bis zum Handeln im Sinne von Veränderung noch einiges vor sich. Immerhin: Er hat schon Kreide in die Hand genommen und geschrieben:

Gehen wir mal zusammen einen Kaffee trinken?

Das lässt hoffen;).

Mein lieber Holg, ich habe aufmerksam gelesen. Musste dabei an meine Geschichten "Eheringe" und "Magie" denken.

Herzliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo The Incredible Holg,

Deine Geschichte ist sehr gut erzählt und ich finde, dass Du die beiden Protagonisten zum Leben erweckst und greifbar machst. Wo Licht ist, ist auch Schatten, den die vorherigen Kommentatoren schon aufgezeigt haben. Ich hätte mir etwas mehr Entwicklung des Ehemanns gewünscht. Immerhin nimmt er am Ende die Kreide in die Hand, aber das ist mir etwas wenig, wenn er seine Frau nicht verlieren möchte.

Ein anderes Thema ist die Depression. Ich bin kein Spezialist für Krankheiten, aber dass dieser Ehemann, dem es an Aufmerksamkeit für seine Frau fehlt, Teil der Ursache für eine Depression sein soll, scheint mir medizinisch eher fragwürdig. Das ist zwar kein wichtiger Punkt in Deiner Geschichte, aber es rief ein Fragezeichen beim Lesen bei mir hervor.

Schönen Adventssonntag und Grüße
Geschichtenwerker

 

Hallo wieselmaus,

muss man immer zeigen statt erzählen? Tja, gute Frage. Aber du schreibst selbst etwas Bezeichnendes:

Anamnese, klinische Bestandsaufnahme, das fällt mir als erstes ein.
Dieses "Klinische" verstehe ich als Zeichen dafür, dass es eine gewisse Distanz zwischen den Charakteren und den Leser(inne)n gibt, die ich gerne verringern würde. Ich denke, das Zeigen kann da ein mögliches Hilfsmittel sein - eines von mehreren. Wie vorhin schon angemerkt, hat das m.E. viel mit der Individualität der Personen bzw. ihrer Handlungen zu tun. Deine beiden Geschichten, an die du dich treffenderweise erinnert fühlst, gehen da in eine gute Richtung: Da gibst du deinen Protagonisten etwas Eigenes - mit dem Aufsägen des Rings und den magischen Beschwörungen - und tust das auch in zeigender Form. Das scheint mir als Vorbild zu taugen.

Den Vergleich mit Alice Munro nehme ich mit einem Fuder Salz (so ähnlich wie mein Chili heute Mittag :sick: - da muss ich auf chefkoch.de noch eine kritische Bemerkung zu dem Rezept hinterlassen). Ich freue mich aber, dass die zögerliche Entwicklung meines Prots Anerkennung findet.



Hallo Geschichtenwerker,

lustig, dass du genau den eben genannten Punkt kritisch siehst (zu wenig Entwicklung des Prots). Als ob ich es in meinem vorigen Kommentar vorausgesehen hätte. ;) Schön aber, dass dir die Erzählweise zusagt.

Ich bin kein Spezialist für Krankheiten, aber dass dieser Ehemann, dem es an Aufmerksamkeit für seine Frau fehlt, Teil der Ursache für eine Depression sein soll, scheint mir medizinisch eher fragwürdig.
Doch, das passt so, das kann ich dir versichern. (Aus Datenschutzgründen verrate ich dir nicht, warum ich da so sicher bin. :D) Wobei die Betonung aber durchaus auf "Teil" liegt - da gehören schon noch weitere äußere Faktoren und/oder eine entsprechende Veranlagung/Vorprägung dazu. Es gibt gewisse depressive Denkmuster, die einen anfällig dafür machen können, sich dann von fehlender Zuwendung richtig runterziehen zu lassen.

Vielen Dank euch beiden für eure Rückmeldungen!

Grüße vom Holg ...

 

Hallo Holg,

noch ein Kandidat für die Abstimmung. Ich muss wahrscheinlich würfeln.
Eine Geschichte, in der ich vieles gelesen habe, was ich selbst erlebt habe. Und ich sehe als zentrale Aussage

„Nee“, sagte Lorenz, „das kannst du nicht. Und genau das ist dein Problem.“
Und dann schafft er es, über sich hinauszuwachsen. Traurig schön. Wären doch nur alle Paartherapien und ... und ... so simpel zu lösen. Für eine kleine mutmachende und miese Stimmung vertreibende Geschichte sehr gut gelungen.

Sehr gerne gelesen vom Jobär

 

Hallo jobär,

vielen Dank für das Kompliment! Freut mich sehr, dass ich mit in deine "Auslosung" komme. ;)

Und du hast Recht, der zitierte Satz sollte so ein bisschen das Fazit ziehen. Vielleicht gemeinsam mit der Zeile davor. Gewisse Dinge hat der Prot einfach nie gelernt, und auch wenn er sie sicher gern können würde, steht er sich selbst im Weg. Und der Freund steht daneben und denkt: Du könntest dir dein Leben so viel leichter machen ...

Dass du diese Andeutung von Entwicklung am Schluss mutmachend und stimmungsaufhellend findest, verschönert mir den Abend! :)

Grüße vom Holg ...

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola Holg,

einen feingearbeiteten Text hast Du eingestellt, da stecken einige Überlegungen drin. Viele Stellen hab ich zweimal gelesen und zum Schmunzeln gab es reichlich.
Die Geschichte gefällt mir, und aus gutem Grund spricht sie mich mehr an als manch anderer Text, schließlich ist man verheiratet:). Dieses Lächeln fand auch einmal eine Zeitlang statt:D.

... für eine Weile trennen.“ Sie nahm die Hände von den Augen und sah mich an. „Erst mal vorläufig, auf Probe.
Klasse.
Um zu sehen ... ob da noch Liebe ist.“
Ich kann nicht mehr.
„Ich war noch nie der Blumentyp, ...
Er spricht für uns alle.
„Drei“, korrigierte ich. „Oder fünf, ...
Jaja.

Weil Jule ein Häufchen Elend war, tat ich mein Bestes, Kraft und Zuversicht auszustrahlen und den Alltag am Laufen zu halten. Ich wollte der Fels in der Brandung sein.
Aber Felsen sind auch hart, und in der Brandung werden sie glitschig. Jule fand keinen Halt an mir. Stattdessen zog sie sich zurück und klammerte sich umso stärker an den Jungen, nachdem er wieder genesen war. War die Distanz zwischen uns vorher nur latent zu spüren, trat sie von da an offen zutage – vielleicht, weil Jule mir die scheinbare Teilnahmslosigkeit übelnahm. Darüber gesprochen haben wir nie, wie über so vieles.
Hier komme ich ans Zweifeln, weil Jule ihren bemühten Ehemann nach langen Jahren nicht derart falsch interpretieren kann, sodass die Situation nicht zu einer Verbesserung des ehelichen Einvernehmens, sondern zu einer Verschlechterung führt.

Ab hier sehe ich einen psychisch kranken Mann;

... dass ich genau wie er meine Gefühle verdrängte und an irgendeinen Ort verbannte, zu dem ich selber keinen Zugang habe, geschweige denn jemand anderes. Egal ob Glück oder Schmerz, Liebe oder Abscheu, Freude oder Ärger.
Er ist in der Lage, solch starken Gefühle in die Besenkammer zu stellen? Weil sich die Eltern getrennt haben? Da kann von Verhältnismäßigkeit keine Rede sein. Und hier:
Vor allem Ärger. Nie habe ich laut gesagt, dass mich der Kreidestaub auf dem Küchenboden stört. Oder die Wasserflecken am Besteck, der Kratzer am Kotflügel, die Fußstapfen im Beet, die Leere auf dem Konto, der Kitsch auf der Anrichte. In der Gewissheit, diese Dinge seien unwichtig und mein Missmut unangebracht, habe ich den Groll in mir aufgestaut und seinen Pegel ansteigen lassen. Wie ein Staubecken voll mit giftigem Klärschlamm, durch dicke Mauern gesichert, damit er sich nur nicht in die Umgebung ergießt wie bei dem Bergwerksunglück in Brasilien letztes Jahr. Mein Damm war stärker als jener am Rio Doce, er war unüberwindlich, und Jule stand sprachlos außen davor, während ich in der ätzenden Flüssigkeit schwamm, die sich immer tiefer in mein Inneres brannte.
Wegen lächerlicher Lappalien? Da wird sein Freund Lorenz nicht helfen können.

Zögernd nehme ich den Abwaschlappen und wische die Tafel neben dem Kühlschrank ab. Vorsichtig, um Lisas Blume nicht zu verschmieren.
Demnach hat er den Smiley vernichtet. Freud hat ihm die Hand geführt. Könnte sein, dass ihm der Kaffee im Halse stecken bleibt. Oh je.

Lieber Holg, klasse geschrieben. Bei allen Scherzen ein ernster Text. Jeder mit ein paar Jahrzehnten Eheerfahrung wird sich hinter den Ohren kratzen. Ich auch:).

Gerne gelesen!
José

 

Hej The Incredible Holg,

es ist schon ein Wechselbad in dieser challenge Geschichten hintereinander zu lesen. Soll ja sehr gesund sein. ;)

Hier konnte ich ohne Störungen durchhuschen und den ahnungslosen Protagonisten durch die Irrungen und Wirrungen einer Ehe begleiten. Mehr allerdings nicht. Therapeutische Gespräche wechseln mit stillen (selbstbemitleidenen) Selbstreflexionen und ich mag ihm gar nicht näher kommen. Mein Fehler.

Das ist dann zusammengesammelt mit kurzen Eigenschaften der Kinder, der depressiven Verstimmung seiner Frau alles ein bisschen viel für mich.

Liebenswert dein Humor, den du auch hier nicht aussparst und wofür ich sehr dankbar bin.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo josefelipe,

vielen Dank für deine lobenden Worte. Wie schon bei einer früheren Geschichte sehen einige Leser (wie du und Kanji) mehr Humor im Text, als ich hineingepackt zu haben glaubte, aber diesmal erwischt es mich nicht so unvorbereitet. Anscheinend übertrage ich meinen Hang zur Selbstironie gerne auf meine Protagonisten. Es gibt Schlimmeres.

Hier komme ich ans Zweifeln, weil Jule ihren bemühten Ehemann nach langen Jahren nicht derart falsch interpretieren kann, sodass die Situation nicht zu einer Verbesserung des ehelichen Einvernehmens, sondern zu einer Verschlechterung führt.
Verstehe ich dich richtig: Du meinst, sie müsste ihn richtig interpretieren, weil sie ihn ja nach all den Jahren kennt? Ich denke, es kann sich ebenso gut über die Jahre eine Fehlinterpretation verfestigt haben, nämlich die, dass hinter den fehlenden Gefühlsäußerungen auch fehlende Gefühle stecken. Die Vorgänge während der Krankheit des Sohnes waren dann für Jule so etwas wie der finale "Beweis", wobei sie ja zu der Zeit akut psychisch angeschlagen war und diesen ihren Eindruck wohl kaum kritisch hinterfragt hat. So war es jedenfalls von mir gedacht.

Ab hier sehe ich einen psychisch kranken Mann
Sicher nicht ganz falsch, je nachdem, wo man die Grenze zwischen "liebenswerten Eigenheiten" und psychischen Schäden zieht.

Er ist in der Lage, solch starken Gefühle in die Besenkammer zu stellen? Weil sich die Eltern getrennt haben? Da kann von Verhältnismäßigkeit keine Rede sein.
Nein, nicht wegen der Trennung der Eltern, sondern wegen des langjährigen Vorbilds, das ihm sein Vater war.

Wegen lächerlicher Lappalien? Da wird sein Freund Lorenz nicht helfen können.
Es ist die Summe vieler Lappalien, die sich über viele Jahre ansammeln, weil er ja nie etwas rauslässt. Außerdem habe ich in der Auflistung auch ein paar Dinge versteckt, die manch einer nicht als Lappalien ansehen würde: den Kratzer am Kotflügel (für manche Männer, die ich kenne, ein mittlerer Weltuntergang), die Leere auf dem Konto (ich kenne kannte Ehen, die am Streit ums Geld zerbrochen sind). Zu gut versteckt?

Demnach hat er den Smiley vernichtet. Freud hat ihm die Hand geführt.
Ach herrje! So war das gar nicht gemeint! :eek:
Er löscht halt Jules Nachricht, um eine Antwort zu schreiben, und ziert diese selbstverständlich mit einem eigenen Smiley, statt den seiner Frau zu recyceln (so viel Takt bringt sogar er auf). Die Tafel ist nicht groß genug, um den Originaltext stehenzulassen und die Antwort zusätzlich unterzubringen. Sollte ich das klarer machen?

Bei allen Scherzen ein ernster Text.
So war's gedacht.

Jeder mit ein paar Jahrzehnten Eheerfahrung wird sich hinter den Ohren kratzen.
Ja, das ist wohl ein Text zum Sich-Wiederfinden, vor allem für die Männer ... es muss ja nicht immer bis zur Trennung kommen.



Hallo Kanji,

danke auch für deine Sichtweise. Mir scheint, der Text kann auf einige Leser überladen wirken.

Hier konnte ich ohne Störungen durchhuschen und den ahnungslosen Protagonisten durch die Irrungen und Wirrungen einer Ehe begleiten. Mehr allerdings nicht.
Hm. Das klingt nach einer Drei minus.

Therapeutische Gespräche wechseln mit stillen (selbstbemitleidenen) Selbstreflexionen und ich mag ihm gar nicht näher kommen. Mein Fehler.
Dein Fehler? Wo kommen wir denn da hin?

Ich hatte mich schon vor dem Posten gefragt, ob mein Prot zu wehleidig ist. Habe dann zunächst nur eine oder zwei Stellen angepasst und den Text (auch wegen der nahenden Deadline) eingestellt. Ich schätze, dein Votum lautet: zu viel.

Das ist dann zusammengesammelt mit kurzen Eigenschaften der Kinder, der depressiven Verstimmung seiner Frau alles ein bisschen viel für mich.
Liebenswert dein Humor, den du auch hier nicht aussparst und wofür ich sehr dankbar bin.
Jep, eindeutig überladen, jedenfalls für dich. Beruhigend, wenn der Ironieanteil es für dich etwas verträglicher macht.

Ich fand es beim Schreiben schwierig, das richtige Maß zu finden: Die Depression der Frau wollte ich drin haben, damit das Thema eine gewisse Ernsthaftigkeit gewinnt und nicht einfach "irgendeine" Trennung ist, weil sie halt die Nase voll hat; sie sollte wirklich unter der Situation leiden. Dafür musste ich aber auch die Macken des Mannes etwas stärker ausfallen lassen, sonst hätten sie ja nicht so eine Wirkung. Meine Sorge war, dass es nicht plausibel wirken würde, wegen eines Zustands, den 50 % aller Eheleute "normal" nennen würden, in Depressionen zu verfallen.

Schwierig, wie gesagt. :hmm:


Vielen Dank euch beiden für die erhellenden Einsichten!

Grüße vom Holg ...

 
Zuletzt bearbeitet:

Wenn man sich nicht die richtigen Werkzeuge für eine Aufgabe aneignet, endet die Sache schmerzhaft. Ich habe in letzter Zeit einen grimmigen Sport daraus gemacht, in alltäglichen Missgeschicken eine Metapher für meine Beziehungsunfähigkeit zu finden. Vielleicht führt mich das ja eines Tages zu einem echten Erkenntnisfortschritt.

Hallo Holg,

eine Geschichte aus mittelständischem Millieu und dann schau ich proletarischer Lump nun auch noch rein, zudem alles andere als ein Seelenklempner (selbst wenn ich Woche für Woche „Die großen Fragen der Liebe“ mit den Antworten des „bekanntesten deutschen Paartherapeuten“, Orinialton Zeit-Magazin, Wolfgang Schmidbauer les und seh, an welch irrwi(n)tzigen Dingen eine Beziehungskiste zuge- und vernagelt werden kann), aber auch mit streetworkern, Sozialarbeitern und -pädagogen bekannt) … Da kann schon manche

angefangene Pizza
gleich mit abkühlen.

Dann das übliche, Blumen (frau müsste das bei mir als Satire auffassen, käme ich mit dergleichen daher), Friseur, du lieber Himmel!, da kann man mich jagen wie mit Smileys, soll doch jeder nach und mit seinem Fassonschnitt ob am Kopf oder sonstwo glücklich werden – und der fröhliche Ratgeber und wäre er Loorbeerbekränzt (= Lorenz) lässt mich schütteln.

„Okay. Womit zeigst du ihr dann dein Interesse?“
Gute, aber gefährliche Frage an mich zB!, wenngleich der Duden das „Interesse“ in seinen Bedeutungen kleinredet – im Gegensatz zum DBW in seinen Anfängen durch die Grimm Brüder es folgt ein abgekürztest Originalzitat, daher die durchgängige Kleinschreibung, der ich wünsche, dass sie für manchen angenehmer anzuwenden wäre, als man glauben mag); wobei es unter Nr. 4 besonders "interassant" wird:

„interesse, n. aus dem lateinischen, in verschiedenen bedeutungen ausgebildet.
1) zufrühest in der rechtssprache, der antheil, der dem vermögen jemandes aus der handlung eines andern entsteht, entgangener nutzen oder erwachsener schaden, … [es folgen Belege]
2) dann nutzen, vortheil überhaupt: im gemeinem gebrauch ist interesse vortheil. … [Belege vom eigenen zum Fremdinteresse übers Staatsinteresse bis zum „Interesse an der Wahrheit“]
3) namentlich häufig in der gewöhnlichen sprache der zins eines ausgeliehenen kapitals: ...[Belege bis hin zu einem Hauch Antisemitismus, da ja nach einem Worte Luthers Geld nicht kalbt bis hin zu Belegen eines feminen (grammatischen!) Interesses]“
und dann
„4) interesse als milderes wort für gewinnsucht, eigennutz: er handelt so nur aus interesse, nicht aus liebe;“
und weiter
„5) in der gewählteren sprache seit dem vorigen jahrhundert ist interesse der antheil, den wir an einer sache nehmen: interesse wird das wohlgefallen genannt, das wir mit der vorstellung der existenz eines gegenstandes verbinden. Kant 7, 44; interesse ist das, wodurch vernunft praktisch d. i. eine den willen bestimmende ursache wird. daher sagt man nur von einem vernünftigen wesen, dasz es woran interesse nehme, vernunftlose geschöpfe fühlen nur sinnliche antriebe. 4, 89; statt der gewöhnlichen unterhaltung abends fing man zu gähnen an; das interesse am Hamlet war erschöpft. Göthe 19, 217;
...
6) endlich der reiz einer sache, der unsern antheil hervorruft: ists denn ein brief von interesse? ...“
(aus dem Wörterbuchnetz, Grimmsches Wörterbuch, Stichwort „interesse“)

Und warum sollte nicht Solidarität des

„Na ja ...“ Ich überlegte. „Ich bin halt immer für sie da.
im engsten Sinne genügen wie im weitesten Sinne genügen?

Aber vor allem, warum gegen Ende German Gerundium

Ich bin bereit zum Gehen, …
wenn doch „ich bin bereit zu gehen, ...“ eleganter wirkt, ohne sich nicht mit einem großen G aufzublähen?

„Ich möchte, dass wir uns für eine Weile trennen.“ Sie nahm die Hände von den Augen und sah mich an. „Erst mal vorläufig, auf Probe. Um zu sehen ... ob da noch Liebe ist.“ Sie weinte nicht mehr.

Jürgen von der Lippe hat nach einer gescheiterten Ehe ein sicheres Rezept in der zwoten gefunden, nicht etwa nur getrennte Schlafzimmer, sondern gleich getrennte Wohnungen. Das geht seit über 30 Jahren gut und die beiden sind immer noch - glücklich zusammen.

Tschüss

Friedel

 

Hoi Grüner!

Ich schätze, diese "Probezeit" endet bei mir mit folgendem schriftlichen Tritt in die Weichteile: "Zu unserem großen Bedauern müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir uns nach Abschluss der Probezeit dann doch anderweitig entschieden haben. Bitte sehen Sie darin keine Herabwürdigung Ihrer Person."

Was ich damit sagen will - von allen Holg-Stories fand ich die so ziemlich am Schwächsten! Da ließ mich jetzt echt nix aus dem Hemd platzen und grün werden. Aus! Aus! Sitz! Böser, böser Eisenmann!!:D

Ohne Gag jetzt - das war nicht mein Ding. Zu oft wurde mir hier das Bild des unfähigen, schlechten, emotionsverkalkten Deppen-Ehemann um die Metallnase gerieben. Zuviel Selbstvorwürfe, Selbstquälerei und abgedroschenes Pathos. Mann, Holg (und alle anderen Mädels da drauße gleich dazu!!): Zu seinem Problem gehören immer zwei Seiten! I M M E R!! Die Evolution hat lediglich dem "schwachen" Geschlecht das Talent in die Wiege gelegt, die "Schuld" am Scheitern von Beziehungen perfekt einzig und allen uns Dreibeinern in die Schuhe zu schieben! Ich vermute, das ist die ausgleichende Gerechtigkeit dafür, dass wir im Stehen pinkeln können.

Und diese selbstgeißlerische Asche-auf-mein-Haupt-Attitüde geht mir bei deinem Prot ziemlich auf den Stahlsack! Wohlgemerkt - das ist jetzt keine Macho-Getue, mit dem ich fehlende Sensibilität, mangelnde Liebesbekundungen oder das Erkalten von tiefer Emotionalität relativieren möchte. Wir alle dürften das Phänomen kennen, dass (höchst wahrscheinlich) Männer tatsächlich eher zur Eintönigkeit und dem Nachlassen des romantischen Prickelns neigen als Frauen, aber in der "Probezeit" wird mir das zu einseitig plakativ um die Ohren gehauen.

Jule ist depressiv - ok, das darf man nicht vergessen. Und dein Prot merkt ja selber an, dass er nicht das einzige Problem ist. Ein Grund mehr, sich nicht in diesem grenzenlosen Selbst-in-den-Dreck-ziehen zu sulen. Das Ende scheint ja offenbar in diese optimistische Richtung zu zeigen.

"Schön" ist die problematische Situation mit den beiden Kindern von dir dargestellt worden - also i.S. von realistisch. Ich könnte jedesmal Öl und Schrauben kotzen, wenn ich sehe, wie immer die Kinder unter dem Egoismus und der Rücksichtslosigkeit derjenigen Eltern leiden, die sich vor'm Kinderkriegen keine Gedanken über die jahrelange (!) Verantwortung machen, die so etwas mit bringt! Wenn's nicht klappt, dann halt Pech gehabt! Erwachsene können mit sowas umgehen - denkt einer daran, was (besonders jüngere!) Kinder dabei fühlen? Wie gesagt - sehr gut beschrieben!

Wow - da hab ich ja mal ein (insbesondere bei deinen Geschichten, Grüner!) ziemliches Stahlgewitter abgelassen. Ich krieg fast ein schlechtes Gewissen - "fast"!!:D

Ein bisschen Lob kommt daher trotzdem noch: handwerklich gut gemacht, flüssig geschrieben, gut nachvollziehbar und ohne Frage sehr realistisch. Die Dialoge sind lebendig und die Gedanken des prot sehr gut formuliert. In sprachlicher und stilistischer Hinsicht schon mal Daumen hoch!:thumbsup:
Was die Handlungsebene deiner Hauptfigur angeht - nun denn, da habe ich wohl meinen Standpunkt mal wieder Eisenmann-like deutlich gemacht, nicht wahr?

Eine gute Geschichte, auch wenn sie mich ein wennig geärgert hat!

Grüße vom EISENMANN

 

Hallo Friedrichard,

danke für deine wie so häufig unerwarteten Einsichten! Dass "interest" im Englischen auch Zinsen meint, wusste ich, aber dass das auch beim deutschen Pendant mal so war, habe ich heute gelernt.

der fröhliche Ratgeber und wäre er Loorbeerbekränzt (= Lorenz) lässt mich schütteln.
Na, da hat mir das Weltbewusstsein doch einen sehr treffenden Namen zugespielt. Passt ja auch gut zum Thema Friseur.

Und warum sollte nicht Solidarität des
„Na ja ...“ Ich überlegte. „Ich bin halt immer für sie da.
im engsten Sinne genügen wie im weitesten Sinne genügen?
Warum? Nun, wenn es für beide Partner okay ist, habe ich nichts dagegen. Aber es ist wohl eine Frage der jeweiligen Erwartungen, und Jule hat offensichtlich andere.

Aber vor allem, warum gegen Ende German Gerundium
Ich bin bereit zum Gehen, …
wenn doch „ich bin bereit zu gehen, ...“ eleganter wirkt, ohne sich nicht mit einem großen G aufzublähen?
Für mein Ohr gibt es da einen Bedeutungsunterschied:
  • "Bereit zum Gehen" heißt für mich, er hat seinen Kram erledigt und kann durchstarten. "Bereit" also synonym zu "fertig".
  • "Bereit zu gehen" klingt für mich nach einer inneren, geistig-seelischen Bereitschaft. Die hat er womöglich gerade nicht, wenn er noch zögernd in der Küche steht.
Ist vielleicht auch vom regionalen Sprachgebrauch abhängig. Ich lasse den Text vorerst so, stelle den Punkt aber gerne zur allgemeinen Diskussion.

Jürgen von der Lippe hat nach einer gescheiterten Ehe ein sicheres Rezept in der zwoten gefunden, nicht etwa nur getrennte Schlafzimmer, sondern gleich getrennte Wohnungen. Das geht seit über 30 Jahren gut und die beiden sind immer noch - glücklich zusammen.
Wenn man das "zusammen" nennen will. Für meinen Prot wäre das wohl nicht die geeignete Lösung, aber vielleicht könnte seine Frau dem etwas abgewinnen; da wären wir aber wieder bei den abweichenden Erwartungen. Und lass mich raten: Jürgen und seine Zweite haben wohl keine gemeinsamen Kinder? Da stelle ich mir dieses Arrangement nämlich auch suboptimal vor.



Hallo Eisenmann,

ich kann mich irren, aber ich glaube zwischen den Zeilen gelesen zu haben, dass du mit diesem Text nicht hundertprozentig zufrieden bist. Habe ich Recht? ;)

Zu oft wurde mir hier das Bild des unfähigen, schlechten, emotionsverkalkten Deppen-Ehemann um die Metallnase gerieben. Zuviel Selbstvorwürfe, Selbstquälerei und abgedroschenes Pathos.
Okay, ich könnte jetzt zu meiner Verteidigung anführen, dass ich (siehe mein letzter Komm) selbst schon Zweifel hatte hinsichtlich des Ausmaßes an Drama und Selbstmitleid und in diesem Punkt mit mir handeln ließe. Es sieht aber nicht so aus, als ob ich mit kleinen Justierungen dein Eisenherz gewinnen würde. Also muss ich wohl hinnehmen, dass der Text bei dir durchgefallen ist.

Zu seinem Problem gehören immer zwei Seiten! I M M E R!!
Dass du aber auch immer alles verallgemeinern musst! :)

Eine ausgewogene Darstellung der Ursachen für die Eheprobleme der beiden habe ich allerdings zu keinem Zeitpunkt angestrebt. Der Text nimmt bewusst eine sehr subjektive Perspektive ein, nämlich die eines Mannes, der vermutlich selber in Therapie gehört, weil er ein ziemlich vermurkstes Welt- und Selbstbild hat. Isso! Der Punkt ist auch anders als der obige nicht Teil der Verhandlungsmasse.

Schön, dass du mir zumindest in der B-Note ein paar Punkte gutschreibst, die nehme ich gerne an. Darüber, dass dies - trotz guten Handwerks - selbst mit den definitiv noch bevorstehenden Umbauten nicht dein Siegertext werden wird, werde ich mich anders als mein Prot mal nicht selbst zerfleischen. Dein ungeschminktes Urteil weiß ich zu schätzen!



Besten Dank euch beiden!

Grüße vom Holg ...

 

Hallo Holg,

Dabei hätte ich mich noch vor wenigen Monaten einfach nur über den Kreidestaub auf dem Küchenboden geärgert und darüber, dass Jule zum Tafelwischen immer den Abwaschlappen benutzte. Ich habe nie etwas dazu gesagt, weil ich weiß, dass sie meine Sauberkeitsansprüche nicht teilt. Aber selber habe ich demonstrativ Post-Its verwendet, das konnte ihr ja nicht entgehen.

Mein Gott, hat der einen Sauberkeitsfimmel :D. Davon abgesehen zeigt doch diese Einleitung das Grundproblem: Die Erwartungen aneinander, die aber nicht ausgesprochen werden.
Wieso soll Jule denn in die Tatsache, dass er Post-Its verwendet, hineininterpretieren, dass ihn die Kreidekrümel auf dem Boden nerven? Sie nervt sicher, dass er Papier verbraucht, obwohl es doch die Tafel zum Aufschreiben gibt.

So, und hat nun der Prot in seiner ganzen Eigenkritik mal ein Auge auf Jule geworfen und ihre vielen "stummen" Zeichen als Schlüssel zur Besserung eingesetzt, wenn auch nur als Revue passieren lassen?

Während sie dann tief Luft holte, hatte ich plötzlich das Gefühl, als wäre ich in ihrem Kopf und könnte im Zeitraffer alles sehen, was sie in den letzten Monaten gemacht hatte. Wie sie mit ihrem Therapeuten zusammensaß und in vielen kleinen Schritten die Ursache ihrer Depression ergründete. Wie sie gemeinsam die möglichen Lösungen erörterten. Und wie sie bei der unvermeidlichen Maßnahme ankamen ...
„Ich möchte, dass wir uns für eine Weile trennen.“
Durch diesen Absatz bekommt Jule für mich den Stempel: Verursacherin
aufgedrückt.
Zwar wird dann in der Szene mit Lorenz klar, dass der Protagonist ein Beziehungstrampel ist, aber mir fehlt das innere Weiterkommen ein wenig in der ganzen Geschichte.
Ich schluckte. „Ich wäre aber lieber Teil der Lösung.“
Lorenz sah mich nur an und nickte langsam.
„Fuck“, sagte ich. „Wenn das ein Traum ist, dann möchte ich jetzt bitte aufwachen.“
Und wie wacht er denn dann auf?

Mir sind die reflektierenden Absätze zuviel, da wird zuviel erzählt. Ich hätte gerne zwei, drei Szenen gesehen, an die er sich erinnert, als er und Jule Streit bekommen haben und er dabei versucht, die Ursache herauszufinden, also wirklich an sich arbeitet.

So kann es gehen: Wenn man sich nicht die richtigen Werkzeuge für eine Aufgabe aneignet, endet die Sache schmerzhaft. Ich habe in letzter Zeit einen grimmigen Sport daraus gemacht, in alltäglichen Missgeschicken eine Metapher für meine Beziehungsunfähigkeit zu finden. Vielleicht führt mich das ja eines Tages zu einem echten Erkenntnisfortschritt.
Nun ja, man kann das Problem auch mit Ironie kaschieren, wenn man sich nicht traut, richtig in die Wunde zu langen.

Als ich in Lisas Alter war, konnte ich mein Fahrrad selbst flicken. Tobias könnte seiner Schwester ruhig einmal helfen, aber er ignoriert sie nach Kräften, seit sie auf der Welt ist.
Genau, und dann sucht man fleißig Fehler bei den anderen :shy:.
Auf einmal ist mir alles klar: Tobias hat diese Nichtwahrnehmung am Vorbild seines Vaters gelernt. Meine Schuld.

Dann könnte man ja mal das Gespräch mit Tobias suchen und so ehrlich, wie es geht, diese Gedanken ansprechen. Will er aufwachen oder nicht?

„Schuld ist die völlig falsche Kategorie“, sagte Lorenz. Wir führen in letzter Zeit viele Gespräche, er ersetzt mir den Therapeuten. „Du hast getan, wozu du in der Lage warst, also hast du dir nichts vorzuwerfen.“
Naja. Ob der Lorenz so der richtige Therapeuten-Ersatz ist?

Doch statt einer Menge hilfreicher Ratschläge, wie ich es künftig besser machen konnte, sah ich vor allem eine niederschmetternde Auflistung meiner Fehler.
Jule hatte Recht.
Vielleicht war es ein Anfang, wenn ich mir das eingestand.
Da passiert nur was im Kopf, der soll mal handeln.

ch habe meine Wunde versorgt und werfe einen Blick in die leeren Kinderzimmer.

[...]
Nach der Trennung verbrachte ich Wochen damit, mich für mein Unvermögen zu geißeln; Wut und Scham wechselten sich ab. Inzwischen fühle ich nur noch Trauer über die verpassten Chancen.


Diese drei Absätze fand ich dramaturgisch langweilig. Da wird nur erzählt und den status quo des Protagonisten geschildert. Das ginge kreativer.

, mich für mein Unvermögen zu geißeln; Wut und Scham wechselten sich ab
Das will ich erleben und nicht so runtergerattert erzählt bekommen. Kann er nachts nicht mehr schlafen? Ist er bei der Arbeit unkonzentriert? Fängt er das Rauchen wieder an? Besäuft er sich haltlos. Irgend sowas.

Wie geht es dir?
Noch ist viel Platz auf der Tafel. Ich hole tief Luft.
Gehen wir mal zusammen einen Kaffee trinken?
Mein Smiley wird ein wenig schief.

Schönes Ende. Ich hätte noch druntergesetzt:
Mein Smiley wird ein wenig schief. Der überflüssige Kreidestaub rieselte wie Schnee auf die Fliesen, wo er liegenblieb.

Gelesen habe ich die KG gerne, aber inhaltlich fand ich den Protagonisten zu sehr in seiner Leidensphase gefreezt, er denkt zwar viel über Dinge nach, aber über nichts Konkretes. Da werden viel Allgemeinplätze verwurstet. Im ersten Gespräch mit Lorenz kommt er auch sehr schlecht weg, da hat man das Gefühl, er ist nur der Finanzminister und hat sonst keine charmanten Seiten. Das kann es doch wohl auch nicht sein.

Also ich hätte da gerne mehr Aufbruch ins Neue gelesen, oder Ansätze, aber das ist dann wohl auch eine andere Idee. So ist mir der Text zu statisch und zu sehr auf was ist gut, was ist schlecht getrimmt, da fehlen Nuancen dazwischen.

Liebe Grüße
bernadette

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Bea Milana,

vielen Dank für deinen Kommentar. Zu langweilig ... hm, das ist natürlich kein Urteil, das man gerne hört. (Ich wünschte, ich wäre dafür wenigstens so gutaussehend wie der Paartherapeut in der Brigitte - da muss ich doch tatsächlich am Kiosk mal blättern ... ;)) Aber ich kann deine Begründung nachvollziehen:

Das Problem ist, dass Lorenz deinem Prot alles vorkaut und er die Erkenntnisse nicht selbst gewinnt. Das Problem sind die ständigen Kommentare und Bewertungen.
Vor allem der zweite Satz deckt sich auch mit anderen Meinungen (inklusive meiner eigenen): Ich habe ja bereits beschlossen, mehr szenische Anteile in den Text einzubauen und weniger zu erklären. So ganz werde ich das aber nicht abstellen können/wollen, weil die Selbstreflexion schon Teil meiner Intention war und ist.

Ich glaube, so ein Text funktioniert nur dann in dieser Einseitigkeit gut, wenn du deinem Prot entweder wesentlich mehr Humor gibst, dann kann man wenigstens schallend über ihn lachen und sich über seine Unbeholfenheit freuen (also eine Art Satire), oder ein kleines Ehedrama inszenierst, in der Mann und Frau an ihre Grenzen kommen.
Die erste Variante ist diesmal so gar nicht das, was ich will. Die zweite würde mir prinzipiell gefallen, passt aber vielleicht nicht zu den Protagonisten, so wie ich sie mir vorstelle. Jedenfalls nicht, wenn wir unter Drama verstehen, dass zwischen den beiden die Fetzen fliegen. Dafür sind sie beide nicht offensiv genug.

Auch einen spannenden Dialog, in der dein Prot einem Therapeuten gegenübersitzt und zu erzählen beginnt und der Therapeut ihn auflaufen lässt, damit er seine Erkenntnisse SELBST gewinnt, könnte ich mir interessant vorstellen.
Das wäre wohl am ehesten das, wohin ich mit diesem Text gehen könnte. Und ich sehe keinen Grund, warum nicht auch Freund Lorenz weiterhin die Therapeutenrolle spielen könnte.

Der Leidensdruck scheint mir sehr schwach.
Das überrascht mich allerdings, nachdem die meisten anderen Leser den Prot eher als zu leidend empfunden haben.

Das Ende gefällt mir! Warum? Weil dein Prot endlich mal handelt.
Ja, manchmal schaffen das bei mir sogar die Männer ... ;)



Hallo bernadette,

danke auch dir für deinen ausführlichen Kommentar. Ich erkenne allmählich ein Muster: zu wenig Bewegung, zu wenig szenisch, zu viel Selbstmitleid. Das scheint so ziemlich Konsens zu sein, und das werde ich angehen. Ob ich damit so weit gehe, wie ihr euch das wünscht, wird sich zeigen.

Mein Gott, hat der einen Sauberkeitsfimmel :D
Er mag bloß nicht, wenn sein Kaffee nach Kreide schmeckt. :kaffee: :drool: :D Natürlich würde er das nie laut sagen ...

Davon abgesehen zeigt doch diese Einleitung das Grundproblem: Die Erwartungen aneinander, die aber nicht ausgesprochen werden.
Genau. Und ist es nicht schön, wie ich das geshowt und nicht getellt habe? :lol:

Durch diesen Absatz bekommt Jule für mich den Stempel: Verursacherin
aufgedrückt.
Interessant, dass du das so empfindest. Für mich sollte es beim Schreiben erst mal heißen, dass er sich (allein) beschuldigt sieht. Sicher auch, dass er sich den Schuh nicht auf Anhieb anziehen mag. Das heißt ja nicht gleich, dass er im Gegenteil die Alleinschuld bei Jule sieht. Was ist mit: Hömma, das ham wir aber schon irgendwie zusammen hingekriegt?

Nun ja, man kann das Problem auch mit Ironie kaschieren, wenn man sich nicht traut, richtig in die Wunde zu langen.
Ist sicher einer seiner Mechanismen. Andererseits kasteit er sich ja im Weiteren noch genug, oder?

Als ich in Lisas Alter war, konnte ich mein Fahrrad selbst flicken. Tobias könnte seiner Schwester ruhig einmal helfen, aber er ignoriert sie nach Kräften, seit sie auf der Welt ist.
Genau, und dann sucht man fleißig Fehler bei den anderen
Verstehe ich nicht. Im nachfolgenden Satz gibt er doch gleich wieder sich selbst die Schuld.

Dann könnte man ja mal das Gespräch mit Tobias suchen und so ehrlich, wie es geht, diese Gedanken ansprechen. Will er aufwachen oder nicht?
Jetzt will er sicher aufwachen. Aber so ein Gespräch hätte er ja schon viel früher führen müssen. Oder noch besser/wirksamer: mal ein anderes Vorbild abgeben. Aber jetzt ist er damit halt spät dran.

Naja. Ob der Lorenz so der richtige Therapeuten-Ersatz ist?
Weil er "Schuld" nicht als sinnvolle Denkrichtung ansieht? Ich denke nicht, dass das ein Fehler ist. "Ursachen" sind sicher interessant, aber das ist was ganz anderes.

Schönes Ende.
Danke! :)

Ich hätte noch druntergesetzt:
Mein Smiley wird ein wenig schief. Der überflüssige Kreidestaub rieselte wie Schnee auf die Fliesen, wo er liegenblieb.
Das fände ich nun wieder unnötig plakativ. Mir gefällt, dass der Prot an den Kreidestaub mal keinen Gedanken verschwendet.

zu sehr auf was ist gut, was ist schlecht getrimmt, da fehlen Nuancen dazwischen.
Hm. Eigentlich habe ich mich aus Erzählersicht bemüht, Schwarzweißmalerei zu vermeiden. Der Prot denkt in Extremen, das ist klar, der kommt nur schwer davon weg. Trotzdem habe ich versucht, weder ihn noch Jule als "Schuldigen" oder ihre jeweiligen Handlungen als "richtig" oder "falsch" darzustellen. Ist natürlich schwierig durch so eine verzerrende Brille wie seine. Aber dass das so gar nicht ankommt, lässt mich dann doch etwas ratlos zurück ...



Vielen Dank euch beiden, ihr habt mir einiges zum Nachdenken gegeben!

Grüße vom Holg ...


PS: Bea Milana - meinst du Oskar Holzberg? Ich glaube, da kann ich meinen Neid wieder ablegen ...

 

Hallo @Incredible Holg,
in der Mitte Deines Textes bringt Deine Hauptfigur für mich eine wichtige Sache zur Sprache: Hast du schon mal überlegt, ein Buch zu schreiben? Tatsächlich erlebe ich den Kontakt mit Lorenz wie das Abarbeiten einer Frageliste, der man sich in gescheiterten Beziehungen stellt. Das wirkt für mich mechanisch, systematisch und gewollt. Wie ein Lehrbuch "Beziehungsratgeber mit praktischen Beispielen". Den theoretischen Erörterungen stehen dann aber Szenen gegenüber, die ich berührend finde, wie der Schluss zum Beispiel, in dem fast verschämt das Tafelbild des Anfangs aufgenommen wird. Eine schöne Rahmung mit einer wehmütig-sehnsüchtigen Note. Ebenso die Voyeurszene im Café, in der ich den Verlustschmerz deutlich spüre. Freilich ist das Feld reichlich beackert. Die Konstellation, die Du beschreibst, ist keinesfalls neu, sondern wurde wohl in vielerlei Varianten beschrieben. Einschließlich die Erkenntnis, dass man dem Narrativ der Familie nicht entrinnen kann und am Ende so wird, wie die verhassten Eltern. Dass eine Beziehung in der Alltagsmühle aufgerieben wird, wenn man eben die eigene Seite unterdrückt und nicht miteinander spricht. Gut, die Pedanterie der Hauptfigur macht ihn vielleicht nicht so sympathisch, aber er kann wohl auch nicht aus seiner Haut und findet eben Kreidestaub unerträglich. Hat sie das depressiv gemacht? Da empfinde ich den Beziehungsbruch bei genauer Sicht dann nicht ganz klar. Wenn die Spannung tatsächlich latent spürbar ist, dass seine Forderung nach Ordnung sie in die Dunkelheit treibt, dann steckt vielleicht mehr dahinter, als ein Allerweltskonflikt. Und dann würde auch Lorenz als Klugonkel letztlich an der Sache vorbeireden, weil die Problematik tiefer liegt, als sie das Haushaltsbuch für Psychologie aufdecken kann. Was ich meine, ist, dass ich bei der Ausgangslage vielleicht eine komplexere und interessantere Gefühls- und Beziehungsverwirrung erwartet hätte, als sie sich hier zeigt, die so nach Frauenzeitschrift-Problemen riecht.
Ich habe allerdings die Geschichte gerne gelesen, weil sie sprachlich rund gestaltet ist, bis auf das Säurebild, das mir persönlich in der eher nüchternen Betrachtung unpassend erschien. Dann aber auch deswegen, weil das Entfremdungsmotiv schön dargestellt ist, auch wenn es sich in der Form um einen Allgemeinplatz der modernen Gesellschaft handelt. Und bei der Sichtweise haben mich auch Lornez' Lehrsätze nicht gestört.
Herzlich
rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Holg,

als ich das erste Mal deine Geschichte gelesen hatte, hab ich gedacht: Na, da ist dem Prot nicht nur die Verbindung zur Ehefrau abgerissen, der Autor hat wohl auch die Taue zu seinem besonderen Humor (der absolut meiner ist) gekappt.

Dann hab ich noch überlegt, ob ich den Brückenschlag zu irgendeinem Filmwerk übersehen habe. Mit etwas guten Willen kann ich Kramer gegen Kramer herauskramen.
Nicht wirklich überzeugend?

Mensch Holg, und ’ne Katze kommt auch nicht vor!
Das wären meine drei Kritikpunkte gewesen.

Dabei könnte ich es bewenden lassen, leider sagen die albernen Bemerkungen mehr über mich als über deine Geschichte und niemandem ist damit geholfen.
Also, versuch ich es noch mal.

Hallo Holg,
deine Geschichte hab ich nun ein zweites Mal gelesen, achtsam und konzentriert, und da finde ich ihn …

Seit wir nur noch schriftlich kommunizieren, können wir uns anscheinend wieder anlächeln.
… den feinen Humor, er schwächelt etwas, weil er dem Versuch der Unterdrückung zum Opfer gefallen ist

Und doch, es ist schwierig, sich zu verleugnen, hier der Beweis

Fuck“, sagte ich. „Wenn das ein Traum ist, dann möchte ich jetzt bitte aufwachen.“ Sehr effektiv zum Wachwerden ist es, sich einen Schraubenzieher in den Handballen zu rammen, nachdem man von einer Fahrradfelge abgerutscht ist.

Ich mutmaße, dass möglicherweise das Problem darin begründet liegt, dass die Maskenball-Schelte nicht spurlos an dir vorbeigegangen ist. Du hast versucht, deinen natürlichen Witz und die Neigung zur Ironie zu unterdrücken, wo doch gerade die Konstruktion dieses Beziehungsdramas (Freunde im Gespräch und Selbstreflexion) nach mehr Schalk im Nacken schreit.

Zwischenzeitlich hab ich die Kommentare überflogen und sehe, dass auch Bea Milana zu der Erkenntnis kommt, eine satirische Übertreibung wäre eine gute Möglichkeit für dich gewesen, der allgemeinen Kritik der Alltäglichkeit und der Langeweile zu entkommen.
Aber du sagst: das wird nicht dein Weg sein. Okay, du bist der Boss deiner Geschichte.

Diese Stelle hat mich dann doch irritiert, die ist mir zu poetisch eingefärbt, passt mMn sprachlich nicht zum Rest

Mein Damm war stärker als jener am Rio Doce, er war unüberwindlich, und Jule stand sprachlos außen davor, während ich in der ätzenden Flüssigkeit schwamm, die sich immer tiefer in mein Inneres brannte. Wertschätzung und Aufmerksamkeit für Jule? Sie wurden von der Säure aufgefressen.

Resümee: Ich bin ein Fan deiner Geschichten, ich mag diese witzigen, eloquenten Formulierungen und die lebendigen, manchmal hilflos scheinenden Protagonisten.
Und ganz unter uns, das ewige Lied der Beziehungsproblematik singe ich gerne mit.

Den Schritt deines Prots zum Schluss sollte man nicht klein reden, für ihn ist es das Überspringen einer gewaltigen Hürde. Veränderungen unserer Denk- und Handlungsmuster können erst nach langen Erkenntnisprozessen erfolgen und die Anzahl der Menschen, die überhaupt zu Erkenntnissen gelangen, wird gemeinhin überschätzt, denke ich.

Das war ein Leseeindruck der humorsüchtigen peregrina, die kurz gezögert hat, diese Gedanken zu versenden, aber wer weiß, vielleicht können sogar diese hilfreich für dich sein und zu neuen Erkenntnissen führen.

Liebe Grüße

 

Hallo rieger,

in der Mitte Deines Textes bringt Deine Hauptfigur für mich eine wichtige Sache zur Sprache: Hast du schon mal überlegt, ein Buch zu schreiben? Tatsächlich erlebe ich den Kontakt mit Lorenz wie das Abarbeiten einer Frageliste, der man sich in gescheiterten Beziehungen stellt. Das wirkt für mich mechanisch, systematisch und gewollt. Wie ein Lehrbuch "Beziehungsratgeber mit praktischen Beispielen".
Interessant, dass du das anmerkst. In der Tat war mir beim Schreiben auch aufgefallen, dass Lorenz ein bisschen sehr enzyklopädisch klingt. Das brachte mich auf den Gedanken, genau dies mit der Bemerkung des Prot ("Buch schreiben") ironisch zu brechen. Jetzt frage ich mich: Funktioniert diese Brechung, oder stoße ich den Leser nur noch stärker auf dieses Problem (wenn man es denn als solches ansieht)?

Den theoretischen Erörterungen stehen dann aber Szenen gegenüber, die ich berührend finde, wie der Schluss zum Beispiel, in dem fast verschämt das Tafelbild des Anfangs aufgenommen wird. Eine schöne Rahmung mit einer wehmütig-sehnsüchtigen Note. Ebenso die Voyeurszene im Café, in der ich den Verlustschmerz deutlich spüre.
Das ist toll, dass diese Szenen so gut wirken; genau so hatte ich es mir gewünscht. Ich hatte ja auf frühere Komms schon geantwortet, dass ich das Szenische noch ein wenig vermehren will. Voraussichtlich ab dem kommenden Wochenende habe ich auch endlich die Zeit, den Text zu überarbeiten.

Freilich ist das Feld reichlich beackert. Die Konstellation, die Du beschreibst, ist keinesfalls neu, sondern wurde wohl in vielerlei Varianten beschrieben.
Ja, die Kröte habe ich wissentlich geschluckt.

Gut, die Pedanterie der Hauptfigur macht ihn vielleicht nicht so sympathisch, aber er kann wohl auch nicht aus seiner Haut und findet eben Kreidestaub unerträglich.
Mir war wichtig, dass es keinen eindeutig "Schuldigen" gibt. Einige Leser haben moniert, dass manche Passagen nach Schuldzuweisung an die Frau klingen; du findest, dass der Erzähler selbst unsympathische Züge besitzt. Das heißt für mich, dass ich zumindest in dieser Hinsicht mein Ziel erreicht habe.

Hat sie das depressiv gemacht? Da empfinde ich den Beziehungsbruch bei genauer Sicht dann nicht ganz klar. Wenn die Spannung tatsächlich latent spürbar ist, dass seine Forderung nach Ordnung sie in die Dunkelheit treibt, dann steckt vielleicht mehr dahinter, als ein Allerweltskonflikt. Und dann würde auch Lorenz als Klugonkel letztlich an der Sache vorbeireden, weil die Problematik tiefer liegt, als sie das Haushaltsbuch für Psychologie aufdecken kann. Was ich meine, ist, dass ich bei der Ausgangslage vielleicht eine komplexere und interessantere Gefühls- und Beziehungsverwirrung erwartet hätte,
Meine Vorstellung ist, dass Jule schon einige weitere, eher innere Gründe und sogar eine endogene Neigung zur Depression hat, so dass das Verhalten ihres Ehemanns nur einer von mehreren Faktoren ist. Ich lasse das den Lorenz (für die Leser) einmal kurz andeuten, wollte es aber ansonsten nicht näher thematisieren, weil ich den Fokus auf den Mann lege. Ich verstehe aber, dass man das als Leser hinterfragt; nun muss ich mir überlegen, ob ich diesen Aspekt ausbaue. Eigentlich möchte ich das nicht, aber wenn es einen größeren Teil der Leser irritiert - hm, mal sehen. :hmm:

als sie sich hier zeigt, die so nach Frauenzeitschrift-Problemen riecht.
Auf jeden Fall muss ich mir aber was einfallen lassen, um von diesem Brigitte-Niveau wegzukommen. Das haben jetzt schon entschieden zu viele Leute konstatiert.

Ich habe allerdings die Geschichte gerne gelesen, weil sie sprachlich rund gestaltet ist, bis auf das Säurebild, das mir persönlich in der eher nüchternen Betrachtung unpassend erschien.
Hach, wieder so ein Darling. Ich habe schon beim Schreiben gemerkt, dass es sehr heraussticht, wollte es aber trotzdem gerne verwenden. Vielleicht, wenn ich im Gegenteil den Rest des Textes etwas aufpoliere ...? :confused:

Aber auf jeden Fall freue ich mich, dass du die Geschichte gern gelesen hast! :)



Hallo peregrina,

ich bin froh, dass du meiner Geschichte eine zweite Chance gegeben hast, denn natürlich hätte ich nicht auf deinen Kommentar verzichten wollen.

Ungewohnte Ernsthaftigkeit hast du schon in meinem Kommentar zu deinem Text gesehen. Was ich dort nicht ganz nachvollziehen konnte (einfach weil meine Kommentare mir nicht unbedingt als humorig bekannt sind), erscheint mir auf diese Story schon ein Stück weit zutreffend. Aus welchem Grund auch immer, die Ironie ist hier etwas gedämpft (aber schon noch vorhanden, wie du ja selber festgestellt hast). Ich kann dir aber versichern, dass das weder eine gezielte Unterdrückung noch eine Nachwirkung des Maskenballs ist.

Und nein, es ist kein (bewusster) Filmbezug enthalten; ich kann ja mal sehen, ob mir noch einer einfällt. Aber die Katze bleibt auf jeden Fall draußen. ;) Was die satirische Zuspitzung angeht, so lehne ich die ja nicht grundsätzlich ab, aber das wird nicht der Weg für diesen Text sein. Dann eher für einen künftigen weiteren, bei dem ich gleich komplett anders ansetzen würde (vielleicht ein bisschen wie beim Vegan-Wahn).

Diese Stelle hat mich dann doch irritiert, die ist mir zu poetisch eingefärbt, passt mMn sprachlich nicht zum Rest
Et tu, peregrina - siehe dazu meine Antwort oben an rieger.

Resümee: Ich bin ein Fan deiner Geschichten, ich mag diese witzigen, eloquenten Formulierungen und die lebendigen, manchmal hilflos scheinenden Protagonisten.
Das freut mich sehr! Und ja, diese hilflosen kleinen Döspaddel haben's mir irgendwie angetan ... :lol:

Den Schritt deines Prots zum Schluss sollte man nicht klein reden, für ihn ist es das Überspringen einer gewaltigen Hürde.
Absolut! Und ich wünsche allen Leuten wie ihm, dass ihre Mitmenschen das zu würdigen wissen!



Vielen Dank euch beiden für eure klugen Kommentare!

Grüße vom Holg ...

 

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