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Plastikritter

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22.10.2011
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Plastikritter

Mit einem Knacken schloss die Tür, Kleider raschelten, fielen herab und bauten bunte Stoffpyramiden auf den Fliesen, ein Wasserhahn wurde geöffnet. Wie ein Riesenpilz quoll Dampf zur Decke und leckte langsam an den Plastikvorhängen herab. Die Frau in der Badewanne hob ihr Gesicht, öffnete den Mund und bot ihn dem herunterprasselnden Wasser an.

„Ich hasse es, wenn Anna das macht. Es ist gefährlich.“
„Hast du Angst dass sie ertrinkt?“
„Sehr komisch! Ich meine die Tür.“
„Sie ist zu.“
„Eben.“
„Und? Was ist das Problem? Vielleicht will sie einfach nur … duschen?“
„Du verstehst nichts! Geschlossene Tür und laute Dusche. Brandgefährlich! Man hört es nicht, wenn jemand kommt.“
„Wer sollte denn kommen. Sie lebt allein.“
„Das ist es! Allein und ungeschützt.“
„Meine Güte, krieg dich ein, an was denkst du denn überhaupt?“
„Ich denke an eine stakkatoartige Schnittfolge, eine furiose Großaufnahme auf den Duschkopf, den Körper der Frau in spannungsgeladenen Detailaufnahmen, das Aufblitzen eines Messers, ein Schnitt auf die Hand des Mörders, ein dumpfes Geräusch wie von einer Wassermelone, in die sich immer wieder ein Messer senkt, und über allem diese schreckliche, schöne Musik.“
„Das war ein Film. Hörst du? Ein Film!“
„Am schlimmsten ist das Finale, ihre starren Augen und der Schwenk hin zu dem Geld. Ein langsamer, genüsslich ausgeführter Dreh, ohne einen einzigen Schnitt. Fulminant und grausam. Ein Höhepunkt des Leidens.“
„Himmel noch mal, du bist kein Filmkritiker, du bist ein Duschvorhang.“
„Genau! Diese grässliche Rolle, die wir damals spielten, die macht mich fertig. Einfach so von der Stange herunterzufallen, statt sie vor dem Mörder zu beschützen. Wie erbärmlich. Ich werde mir das nie verzeihen.“
„Das warst nicht du. Das war ein Film. Hörst du? Das war nicht Anna, nicht du, der Kollege ist längst recycelt. Gott sei seiner Seele gnädig.“
„Von wegen! Wie ein gefräßiger Archetypus hat sich dieser verantwortungslose Plastik-Filmschnösel in mein Erinnerungsvermögen gebissen, jetzt weiß ich erst, warum Anna mich immer so kritisch mustert.“
„Sie findet deine Farbe nicht so …“
„Keine Entschuldigungen. Einmal ist genug. Wir Duschvorhänge müssen die Schmach tilgen. Du bist mein Bruder, meine Hälfte, wir müssen Ritter sein der hilflos Duschenden.“

Etwas schepperte an den Plastikringen über dem Duschvorhang. Ein Knallen, als wären zwei Metalllöffel aufeinander geschlagen. Anna lauschte, drehte den Hahn zu und wieder auf, hörte nichts und bohrte sich im Ohr. „Verdammter Tinnitus“, sagte sie, „wie gut, dass für heute Schluss ist.“ Sie streckte und dehnte sich, als wollte sie zwei Zentimeter größer werden, hob die Arme und wand sich hin und her, als ob jeder Zentimeter ihrer Haut von der nassen Hitze trinken sollte. Dann stand sie still, ließ sich durchglühen und trällerte ein paar Zeilen eines Liedes. Nachdem sie den Duschkopf nach rechts gedreht hatte, zuckte sie kurz, weil der harte Massagestrahl auf ihre Schultern prasselte. Als sie sich daran gewöhnt hatte, zog sie die Schulter noch mehr nach vorne, so dass der Rücken ganz rund wurde, ganz rosig, eine kleine Massagebank aus Haut. Genüsslich streckte sie sich noch einmal und setzte lauthals zur nächsten Strophe an.

„Da siehst du es wieder. Diese armen, naiven Menschen, sich ständig selbst entblößend, sich...“
„Meinst du ihre Stimme, na gut, vielleicht ein bisschen schief.“
„Ich meine, wie sie ihre weiche, zarte Haut freiwillig dem harten Wasser ausliefert, und das nackt!“
„Naja, im Mantel …was ist denn jetzt schon wieder?“
„Um Gottes Willen, sie wird doch nicht …“

Die Seifenschale. Wo war sie? Wasserblind tastete Anna, doch statt des glatten Porzellans spürte sie Plastik. Hartnäckiges Plastik. Überall. Rechts wand es sich als enger Armreif um ihr Handgelenk, links schob es sich hinein in ihre Faust wie ein steifes, angetrocknetes Schnupftuch. Ekelhaft. Unwillig schüttelte Anna die Hände, vergeblich, Ring und Taschentuch klebten. Noch kräftiger schwang sie die Arme hin und her, der Vorhang geriet in Wallung. Mitgerissen von ihrem eigenen Schwung strauchelte sie, rutschte. Im letzten Moment fing sie sich mit einer Hand am Rand der Badewanne ab, stieß endlich auf die Seifenschale und fegte sie mitsamt der kostbaren marokkanischen Fliese, auf der sie gelegen hatte, zu Boden. Tausend spitzige, blauweiße Scherbenmillimeter verteilten sich auf den Fliesen, hinein in bunte Kleiderhaufen.

„Da siehst du es. Wie habe ich das gemacht? Meine Anna. Gerettet davor, eingeseift zu werden.“
„Na ja, das Retten hab ich mir irgendwie anders …“

„Verfluchte Axt“, schimpfte Anna, nachdem sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, „dieses Scheißding“, fest schlug sie gegen den Duschvorhang, beulte ihn nach allen Seiten aus, dann schob sie ihn energisch zur Seite.

„Siehst du, sie spielt mit mir. Wie sie mich streichelt, mir dankt.“
„Hm, ich weiß nicht. Sah mehr aus wie … Schläge?“

Anna schaute einen Moment der Seife hinterher, die einen Erkundungsgang durchs Badezimmer rutschte, und fing an zu lachen. „Heut ist nicht mein Tag“, sagte sie“, jetzt kann´s nur noch besser werden.“ Dann warf sie den Kopf in den Nacken, ein klein wenig kokett und selbstverliebt, öffnete den Duschvorhang einen Spalt breit und betrachtete sich in dem wandhohen Spiegel, der gegenüber an der Wand hing. Der Wasserdampf ließ ihn von den Rändern aus silbrig zuwachsen und warf einen weichen Schimmer auf ihr Spiegelbild. Ihre Haut schimmerte perlmuttrosa in dem heißen Dampf, frisch sah sie aus und prall.

„Oh, jetzt wird’s gefährlich. Jetzt fängt sie an, sich selbst zu verwirklichen. Die kommen dann auf Sachen, die Frauen, das kannst du dir nicht vorstellen.“
"Äh, was denn so?“

Etwas hatte geknistert, es klang wie das Lachen von kleinen hysterischen Mäusen. Ich sollte doch mal die Heizungsrohre prüfen lassen, dachte Anna, wog prüfend ihren rechten Busen, dachte blitzschnell ´Bleistifttest?´, um ein schnelles ´gar nicht so schlecht´ nachzusetzen und kniff sich ganz zart in beide Brustwarzen. Endlich zufrieden mit dem Zustand beider Brüste, strich sie ihr Haar nach hinten und übte ein neues Lächeln ein, verschwörerisch mit einem leicht zugekniffenen Auge und herzförmig gespitztem Kussmund.

„Oh, das ist Alarmstufe Gelb, jetzt findet sie sich unwiderstehlich. In dem Zustand sind Frauen zu allem fähig.“

Anna drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Mit gerunzelter Stirn begutachtete sie eingehend ihre Schenkel. Gut, dachte sie, die Diät, die Gymnastik, es hat sich gelohnt. Knackig. Was war mit der Hinterseite? Der Duschvorhang beulte sich aus und blieb an ihrem rechten Oberschenkel kleben. Verdutzt blickte Anna auf das Plastikviereck, das sich auf ihrem Bein niedergelassen hatte. Gerade, als sie es ärgerlich herunterzupfen wollte, verhakte sich ihr Blick an dem roten, schlauchartigen Gebilde, das an dem Stuhl neben der Badewanne hing. Sie lachte, ein kokettes Lachen, das weit unten in der Kehle kitzelte.

„Was hast du denn, du wirst ja ganz blass.“
„Alarmstufe Rot. Gleich zieht sie dieses enge Kleid an und die Schuhe mit den Nuttenabsätzen und dann …“

Das Plastikviereck war vom Bein verschwunden, denn beide Duschvorhänge hatten sich blitzschnell weit geöffnet, ein Schwall Wasser spritzte auf den Stuhl und übergoss das neu gekaufte Kleid. Anna schimpfte und zog den Duschvorhang wieder zu. „Was soll ich denn jetzt anziehen“, sagte sie, „ausgerechnet heute zur Faschingsparty?“

„Gerade noch mal gut gegangen, aber, mein Gott, Fasching, das ist nicht nur rot, das ist grellrot, sie wird trotzdem gleich ausgehen und in die Schublade greifen mit den Kondomen. Und wenn sie wieder kommt, dann bringt sie einen Kerl mit.“
„Das ist doch gut, dann ist sie nicht mehr allein, und so ein Kerl, so einer von ihrer Lieblingssorte, so ein großer, schlanker, schwarzhaariger … He, warum wölbst du dich auf einmal so hektisch nach allen Seiten?“
„Ja siehst du es denn nicht, das ist er! Sie steht hilflos hier und duscht, die Tür öffnet sich, und dann kommt dieser schwarzhaarige, schlanke Kerl rein im Kostüm, und dann...“

Anna blickte irritiert auf den Duschvorhang, der sich wild um sie herum bewegte und blähte, war da irgendwo ein geöffnetes Fenster? Der Plastikstoff geriet mehr und mehr in Fahrt, wallte in der Wanne umher und plötzlich, wie aus einem Entschluss heraus, verfingen sich beide Vorhanghälften an ihrem Körper und wirbelten um sie herum, als wollten sie eine überdimensionale Puppe aus ihr formen. Anna schob das Plastik weg vom Körper, es war wie festgeleimt. Immer, wenn sie irgendwo ein Eckchen löste, zwirbelte die andere Hälfte sich umso enger. Sie schob und riss, bekam endlich etwas Luft. Bevor die Vorhänge sich erneut um sie wickelten, stieg sie aus der Wanne, doch plötzlich, wie aus dem Nichts, wurde ihr grau vor Augen, ein Schal aus Plastik lag quer vor ihren Augen, plastikblind stolperte sie weiter. Mit dem Hinterteil voran krachte sie auf den Badewannenrand, riss den Vorhang mit sich. Und während sich Plastik dehnte bis zum Zerreißen, purzelte Anna über eine Plastikrutsche hinunter auf den Boden, suchte Halt, verlor ihn, weil Plastik ihre Füße fesselte, rutschte in eine Wasserlache, merkte, dass Seife sehr, sehr glatt war, und kurz, bevor sie aufschlug, dachte sie: Plastik. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie direkt auf ihr Spiegelbild. Unter ihrem Körper lag der Duschvorhang.

Viele Stunden vergingen, der Duschkopf vertrieb sich die Zeit damit, in einem unaufhörlichen Folterrhythmus Tropfen in die Wanne fallen und sie dort zerplatzen zu lassen, Telefone klingelten und auf dem Hof wurden Autos angelassen und wieder ausgemacht. Die Duschvorhänge warteten.
Als sich die Wohnungstür wieder öffnete, waren Annas Schritte unregelmäßig, links klapperte ein Lederabsatz, daneben schnalzte ein Gummipfropfen, über dem sich unförmig ein weißer Schuh wölbte. Mit stetigem Klacken, links und rechts, paradierten Metallschienen über den Boden.
Anna war allein. Ein Schuh polterte, ein Stuhl kratzte über das Parkett. Mit einem Knacken ging der Fernseher an, ein Telefon tickerte eine Nummer.
„Ja“, sagte Anna zu jemandem, „danke fürs Hinfahren, ja, bin endlich fertig, gerade haben sie mich zurück gebracht, stell dir vor, Knöchelbruch. Krankschreibung, sechs Wochen zu Hause bleiben. Und alles wegen dem Scheiß Plastikteil.“

„Mann, bin ich gut. Ich bin ihr Ritter.“
„Ich bin stolz auf dich.“

 

Hallo fvg,
das find ich schön, dass dir meine Geschichte gefallen hat.

Erst mal Chapeau für dem Titel. Als jemand der aus Kindheitstagen immer noch seine Spielzeugritter aus gleichnamigen Material vor Augen hat und dem nach auch eben jene erwartet hat, bin ich baff. Auf Duschvorhänge muss man erst mal kommen ...

Find ich gut, weil ich sonst eine echte Titel-Null bin. Gut, dass mir das mal geglückt ist.
Und die von dir zitierten Kicherstellen.
Ja, die mag ich selber auch sehr gerne.

Ist schon verrückt, wie unterschiedlich die Geschmäcker beim Humor sind.
Machs gut und noch einen schönen Sonntag ...

Lg. Novack - aber nur für dich mit ck

 

Hallo Novak,

ich bin gerade über diese herrliche Geschichte gestolpert.
Duschvorhänge zu personifizieren ist eine geniale Idee.

Die Dialoge der "Plastikritter" haben mir sehr gut gefallen.
Es ist einfach herrlich absurd, wenn sich leblose Objekte über Filmklassiker unterhalten.

Streckenweise ging es jedoch auch für meinen Geschmack mehr in Richtung Horror. Im letzten Drittel hab' ich ernsthaft damit gerechnet, dass die Frau stirbt (wobei dann der Titel "Plastikkiller" hätte lauten müssen ;)).
Das lag vermutlich an der stellenweise etwas dramatischen Beschreibung der "Vorhangattacke".

Alles in allem aber ein ansehnliches Kleinod, mein Respekt.

Der Pelzfisch

 

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