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- Anmerkungen zum Text
*Alle Orte, Bezeichnungen und Zahlen sind Google entnommen, spielen aber in meiner Kurzgeschichte nicht ihre wirklichen Zusammenhänge; die Namen der Protagonisten sind rein zufällig, ebenso ihre Verbindungen. Es ist SF und ich wollte nur die Situation so „wissenschaftlich korrekt“ wie möglich beschreiben, wie wir Menschen Prozesse in Gang gesetzt haben oder auch noch setzen, deren Auswirkungen wir nicht mehr überblicken. Wobei auch der beschriebene Vorgang, die beiden Enzyme zu verbinden, völliger Nonsens ist. Aber, auch das ist mir wichtig, bleibt das Menschliche nie außen vor.
Plastik-Kollaps
Ayaka bündelt mit der rechten Hand ihre schwarze Mähne. Die linke schiebt den Gummiring über die Haare. Ihre Ohren stehen ab und Thorsten lächelt, sieht wieder irritiert auf den Bildschirm.
„Was ist?“, fragt sie und versenkt beide Hände in die Taschen ihres gelben Sakkos. Sie verengt ihre ohnehin schon schmal geformten Augen. „Stimmt was nicht?“
„Nein, Ayaka.“ Thorsten sieht sie wieder an. „Deine Ohren sind süß“, fügt er hinzu, aber sie reagiert nicht. Entweder hat sie sein Kompliment nicht verstanden oder sie ist wirklich die coole Wissenschaftlerin, die sie in den letzten Minuten vorgab zu sein. Frau Dr. Ayaka Tanaka vom Fraunhofer Institut hatte sich sofort ins Auto gesetzt und war von Stuttgart nach Würzburg gerast. In einer Stunde und dreißig Minuten zu dieser Uhrzeit hieß überhöhte Geschwindigkeit. Thorsten wollte nicht fragen, welches Auto ihr diese Möglichkeit geboten hatte.
Sie hatten davor telefoniert.
Thorsten hatte die Ergebnisse der letzten Untersuchungen des Forschungsschiffes eingetragen und als die Kurve plötzlich rasant abfiel, dachte er erst an fehlerhafte Eingaben. Mehrmals löschte er die Daten und gab sie erneut ein. Unveränderter Abfall der Kurve. Das konnte nicht möglich sein. Er zog Beate hinzu, die ihm seit einem halben Jahr assistierte.
„Beate, kannst Du bitte die Sonne anrufen und fragen, ob die Werte der heutigen Versuchsreihe mit 201-F6 abgezeichnet waren? Da stimmt was nicht mit den Abgaben.“
„Klar ruf ich die Sonne um diese Uhrzeit an – hast Du zufällig mal zum Fenster raus gesehen? Außerdem hab ich heute mein Date mit Jens, von dem ich Dir gestern erzählt hab. Bin echt gespannt.“ Sie lächelte und warf ihren weißen Labormantel über die Stuhllehne.
Thorsten sah auf den Bildschirm rechts unten. 18:27. 02.11.2022.
„Ja, okay – ich mach´s selbst. Habt Spaß heute Abend.“ Thorsten griff zum Hörer, wählte die gespeicherte Nummer. Es musste bei denen nach Mitternacht sein. Hoffentlich war noch jemand wach.
„Forschungsschiff Sonne, derzeit unterwegs im Great Pacific Garbage Patch im Nordpazifischen Strömungskreis – sie sprechen mit Herb Winewsky.“
„Hallo Herb – hier ist Thorsten Kleiber vom IFOPR – ihr habt mir heute die Daten von der Versuchsreihe mit 201-F6 zukommen lassen. Euch muss da ein Fehler unterlaufen sein. Das Enzym hat sich irrtümlich rasend vermehrt und die Kunststoffmenge pro Minute nahm unglaublich schnell ab. Ich kenne die Daten aus Japan, die 2016 die Versuche mit Ideonella Sakaisensis gemacht haben. Sechzig Milligramm PET in vierzig Tagen. Herb, ihr habt da was verbockt. Kommastellen oder Gramm mit Kilogramm verwechselt. Prüft das doch bitte nochmal nach. Kannst mich dann zurückrufen – ich warte hier.“
Thorsten wollte schon auflegen, aber Herb schwieg verdächtig lange.
„Herb? Bist Du noch dran?“
„Ja, Thorsten – ich denke, das ist kein Bock. Wir haben vor Tagen doch die Versuche mit der Pest gemacht.“
„Mit was?“ Thorsten prustete in den Hörer.
„Mit Pestalotiopsis microspora, diesem Pilz, den die Amis in Yale 2011 entdeckt haben. Der hat doch dieses Enzym PHL7. Das haben wir dem 201-F6 injiziert. Erst in der Eprouvette – klar – haben das auch mit der Tanaka vom Fraunhofer abgeklärt. Von der kam auch der Vorschlag. Die hatte das wohl schon ausprobiert, jahrelang damit Versuche gefahren. War alles abgesegnet von ganz oben.“ Herb plauderte, als wäre das ganze Experiment eben mal so bei einer Tasse Kaffee in der Kantine geboren worden. So als kleines Brainstorming in der Frühstückpause von vier Weißkitteln.
„Ja und?“ Thorsten erwischte sich, wie er mit dem Kuli auf der Tischplatte trommelte. Er hatte heute keine Lust auf ausgefallene Versuchsreihen, schon gar nicht auf Experimente, deren Folgen auf seinem Rechner Erklärungen eine Etage höher verursachten.
„Herb, wir haben hier Monate – ach was, Jahre - damit zugebracht, die Tabellen zu konfigurieren. Hast Du eine Ahnung, wie viele Parameter wir berücksichtigen mussten, bis eine einigermaßen übersichtliche Kurve erkennbar wurde? Minister wollen das nicht verstehen, sie wollen eine Kurve haben. Sämtliche Berater der IKET und KIB wollen Erfolge in ihren greenwashing-Kampagnen vorweisen. Herb, das Ding hat nationale – wenn wir´s gut hinkriegen – internationale Bedeutung. Wir dürfen uns da keinen Fehler leisten. Es geht um unsere Forschungsgelder. Ist euch das klar da draußen auf eurem Fischkutter?“ Thorsten hatte sich ereifert und erschrak selbst, wie laut und unsachlich er auf einmal geworden war.
„Thorsten, schon gut, keine Panik, was regst Du Dich auf? Ich prüf die Daten nochmal und ruf dich gleich zurück. Und den Fischkutter nimmst Du auch zurück. Ich sag ja auch nicht, dass ihr nur Sesselfurzer seid.“ Beide mussten lachen und nachdem sie noch kurz die klimatischen Unterschiede ausgetauscht hatten verabschiedeten sie sich wesentlich entspannter voneinander.
Thorsten ließ die Tür offen, um etwas frische Luft in die Büroräume zu lassen. Von unten drang der Verkehrslärm bis auf die Veranda. Als er dem Rauch seiner Zigarette nachsah, fielen ihm die beleuchteten Fenster drei Stockwerke höher auf. Auch hier schob man Überstunden. Klar – zwischen 1950 und 2015 wurden achtkommadrei Milliarden Tonnen Kunststoff produziert. Weltweit. Und zwischen 2015 und 2018 hatte sich die Kurve stark nach oben geschraubt. Davon landeten 359 Millionen Tonnen im Meer. Das entsprach dem Gewicht von dreikommafünf Millionen Blauwalen. Unvorstellbar. Eine Fläche, mittlerweile so groß wie Europa. Etwa eine Million Quadratkilometer. Als er damals nach seinem Chemiestudium diese Zahlen las, bewarb er sich spontan am Institut für Ozean Plastik Recycling – kurz IFOPR genannt. Er wollte helfen, einen Weg zu finden, wie dem Plastik in den Weltmeeren beizukommen sei. Zumal die Industrie unwahrscheinlich viel Geld in die Institute und Kampagnen steckte und davon wollte er sich eine große Scheibe abschneiden.
Er hatte nicht einmal fertig geraucht, als sein Telefon klingelte. Ihn fröstelte und er schloss die Tür hinter sich.
„Ja, hier Thorsten …,“ aber er wurde sofort unterbrochen.
„Ja, hier Herb – Thorsten – die Daten sind korrekt und hier auf dem Schiff ist die Hölle los. Wir prüfen gerade sämtliche Apparaturen, mit denen die Versuche gefahren wurden. Die Enzyme haben nicht nur die anvisierten Kunststoffe angegriffen – wir waren sehr behutsam und hatten ja auch im Vorfeld die unterschiedlichsten Polymere verwendet, eigentlich sollten sie nur die PETs angreifen. Tun sie aber nicht. Wir haben einige Dichtungen am Schiff, die befallen sind. Der Test ist aber noch in der Mache, kann auch nur das Salz sein.“ Herb atmet tief durch. „Einige schliefen schon, aber jetzt herrscht hier Hochbetrieb. Da hast Du was losgetreten, echt. Thorsten, ruf die Tanaka vom Fraunhofer an, die soll was unternehmen – wir müssen Klarheit haben, ob das nach einer Zeit nachlässt oder sich weiter vermehrt. Mach schnell, wir warten.“
„Herb, habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Wieso soll ich die anrufen“, aber Herb unterbricht ihn wieder abrupt.
„Thorsten, Eure Institute haben das untersucht und genehmigt. Es waren Eure Herren, die sich damit profilieren wollten. Wir sind hier nur die Handlanger und wenn stimmt, was ich vermute, dann können wir von Glück sagen, wenn wir hier nicht mit unserem Kahn absaufen. Jetzt komm in die Gänge und klär das, wenn´s geht, heute noch. Ich hör von dir.“ Ein Dauerpiepen erklang. Herb hatte aufgelegt.
Ayaka Tanaka starrt auf den Bildschirm und verfolgt die Eintragungen von Thorsten. Mit jeder neuen Eingabe sinkt die Kurve, jetzt spaltet sie sich sogar, drei Einheiten später eine Verästelung.
„Scheiße“, entfährt es Ayaka. „diese Verästelung ist bei uns nicht aufgetreten.“
„Wie viele Reihen habt ihr gefahren? Über welchen Zeitraum?“ Thorsten betrachtet das Gesicht dicht neben sich. Er riecht ihren Körpergeruch, das dezente Parfüm in ihren Kleidern. Auf ihrer Oberlippe schimmert ein feuchter Film im Licht des Bildschirms. Ihre Augenlider zittern schwach.
„Die üblichen“, winkt sie ab. „PHL7 braucht nur 24 Stunden“, Thorsten unterbricht sie schroff. „Aber 201-F6 braucht 40 Tage, Herrgott nochmal, wie können sie nur so kurz“, Ayaka wendet ihm ihr Gesicht zu. Es ist nur eine Handbreit von ihm entfernt. Er muss schielen, um ihrem Blick zu begegnen. Ihr Atem riecht abgestanden.
„Aber PHL7 ist doch dominant!“ Sie drückt mehrfach auf die Entertaste, als ließe sich so die Verästelung beseitigen, starrt auf die Kurve, die unverändert das Problem aufzeigt.
„Verdammte Scheiße – und nun?“ Ayaka schaut ihn an, jetzt zittert auch ihre Oberlippe, ihr Sakko hat sich geöffnet, darunter trägt sie blaue Seide, keinen Büstenhalter, wie Thorsten bemerkt. Er lässt sich auf seinem Stuhl gegen die Lehne fallen, verschränkt die Hände hinter seinem Kopf und seufzt. Die kleine Frau steht neben ihm, stützt sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab, dreht ihren Kopf aber weiter, um den Kontakt mit seinen Augen nicht zu verlieren. Sie ist sehr beweglich, denkt Thorsten, aber sein anfänglich sexuelles Interesse ist erloschen. Oder soll er es trotzdem versuchen? In amerikanischen Katastrophenfilmen küssen sich die Hauptdarsteller immer in den heikelsten Situationen. Das erhöht die Spannung. Oder verführt die Spannung zu solchen Gelegenheiten? Jetzt, wo sie beide nicht wissen, wie das enden wird. Was hält ihn zurück? Er sollte die Sonne anrufen. Die dümpelt da draußen im Pazifik und wartet auf Rettung. Es könnte auch noch jemand aus den oberen Etagen in seinem Büro aufkreuzen. Guten Abend Herr Kleiber, sind die Daten von der Sonne eingetroffen? Können wir morgen die Ergebnisse an IKET und KIB weiterreichen?
„Verdammte Scheiße – ja, verdammte Scheiße das“, flüstert Thorsten und umfasst ihre Hüfte, zieht sie ganz vorsichtig auf seinen Schoß. Wie leicht sie ist, denkt er. Sie lässt beide Arme sinken, legt ihren Kopf gegen seine Brust und ein Schluchzen erschüttert kurz ihren Körper.
Wie einfach wäre es, sie zu fragen, ob sie noch mit zu ihm käme. Wie einfach wäre es, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken und mein Name ist Hase zu denken. Aber die Gespräche mit der Sonne sind aufgezeichnet worden. Vorschrift, um die zeitliche Abfolge von Dienstwegen überprüfen zu können. Corona hat viel verändert, nicht nur in den Ministerien. Thorsten weiß, dass er ganz unten in der Hierarchie steht. Wenn Köpfe fallen, dann ist seiner mit dabei. Ihrer aber auch.
„Und jetzt?“ Minuten sind verstrichen. Ist sie eingeschlafen? Regungslos sitzt sie auf seinen Beinen, den Kopf gesenkt. Thorsten fragt und fasst sie unter ihr Kinn, hebt ihr Gesicht, um ihr in die Augen zu sehen. Die Tränen sind getrocknet. Keine Schminke, denkt Thorsten, natürliche Schönheit. „Und jetzt?“, widerholt er leise.
„Ich fahre zurück nach Stuttgart, setze meinen Porsche unterwegs in die Leitplanken. Bei Tempo 240 bleibt wenigstens nicht viel übrig“, sie zieht das Haargummi ab, schüttelt ihre Mähne, einige Strähnen bleiben an seinem Pulli kleben. Sie schauen sich an, wissen nicht, ob sie über den makabren Scherz lachen sollen oder nicht.
„Wenn die beiden Enzyme …“, sie spricht leise und langsam. „ … eine Ergänzung sind, dann vermischen sie sich nicht und operieren getrennt. Also der gewünschte Vorgang läuft nur auf zwei getrennten Zeitwegen ab. Verbinden sie sich und zeigen das, was wir von der Sonne gehört haben und auch auf dem Bildschirm sehen, dann können wir einen Kollaps ausgelöst haben. Aller Kunststoff weltweit wird zersetzt. Nicht auszudenken. Wir hatten nur zwei Test genehmigt bekommen – für mehr war kein Geld vorhanden.“ Den letzten Satz flüstert sie leise vor sich hin.
Als das Telefon läutet spring sie auf, stellt sich seitlich neben den Tisch, drückt an der Basisstation die Lautsprechertaste. Beide Hände in die Hüfte gestemmt hört sie zu.
„Ja, hier Thorsten“, und wieder wird er sofort unterbrochen.
„Ja, hier nochmal Herb. Entwarnung. Die Prozesse sind parallel abgelaufen. 201-F6 hat den Ami wieder rausgeschmissen und wir warten mal ab, wie lange der braucht mit zersetzen. 24 Stunden sind angesagt, also morgen um die Zeit bekommst du die neuen Werte. Hattest Du die Tanaka erreicht? Was sagte sie zu ihrer Idee, die ja jetzt leider gestorben ist?“
„Hab sie nicht erreicht“, sagt Thorsten und zwinkert Ayaka zu. „Aber ich rufe sie morgen an und sag ihr, sie soll sich bei Euch melden. Aber, Herb, warum waren die Werte so unmissverständlich falsch? Alles deutete doch darauf hin, dass die Injektion erfolgreich“, aber Herb fällt ihm erneut ins Wort.
„Thorsten, lass nichts darüber verlauten. Roberta hatte Geburtstag und wir hatten alle – naja, ein bisschen gefeiert. Du weißt schon, auch auf einem Forschungsschiff gibt es Momente, wo man mal Mensch sein darf und nicht immer nur Akademiker. Sie hatte tatsächlich in der Tabelle die Umrechnung – sie war ursprünglich in Grain gehalten – auch abgekürzt in gr – und als Italienerin – naja, ein Grain sind 0,06 Gramm – da lag sie schwer daneben. Entschuldige, aber die geänderten Daten kommen morgen, okay?“
„Herb, was war mit den Dichtungen der Apparaturen?“
„Salzwasser“, lacht Herb. „Salzwasser, soll vorkommen hier draußen.“
Nach wenigen versöhnlichen Floskeln wünschen sie sich eine gute Nacht und Thorsten legt leise den Hörer in Schale.
„Dann fahr ich mal“, sagt Ayaka eher belanglos.
„Jetzt noch nach Stuttgart?“, Thorsten steht auf, überragt sie um eine Kopflänge. „Du kannst gerne bei mir übernachten.“
„Okay“, sagt sie nach einem gedehnten Augenblick, schaut ihn an. „Auf jeden Fall bin ich jetzt wesentlich entspannter als vorhin – ich dachte, ich muss sterben vor Angst!“, sie nickt zur Bekräftigung. „Und dann sagst du mir noch, warum du vorhin gelacht hast – wegen meiner Ohren?“