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Plötzlicher Gang zum Friedhof

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20.12.2003
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Plötzlicher Gang zum Friedhof

Es wird schon dunkel, trotzdem zieht es sie noch auf den kleinen Friedhof - er liegt ja nah, mitten in der Stadt. Eine Frau mit Kind an der Hand faucht sie an, weil sie bei Rot über die Straße geht: "Das machen die Kleinen doch nach!" Ach ja, das neue Schuljahr hat angefangen. Ist ihr doch egal. Er wär jetzt in die nächste Klasse gekommen...
Endlich mit ihm allein! Kalter Regen füllt die Vogeltränke mit den zwei Spatzen aus weißem Stein, gießt den Efeu, der an einem alten Baum und einem Grabstein hochwächst, und macht sie nass bis auf die Haut. Der Schirm bleibt zu. Willst du auch krank werden? Da blinkt was zwischen zwei dunklen Baumkronen über die Friedhofsmauer - die Verkehrsampel: grün gelb rot.

 

Hallo gerthans,

ein Text, der mich ein wenig an Brautigan erinnert. Er hat auch oft so seltsam kurze, verschlüsselte Texte, in sich geschlossen. Ist das nun eine KG - ich weiß es nicht. Ist auch nicht wichtig, finde ich. Die ausgelassenen Informationen müssen eben vom Leser ergänzt werden, man könnte es auch als Stilmittel ansehen.

Gruss, Jimmy.

 

Hallo Jimmy!

Du stellst fest:

Die ausgelassenen Informationen müssen eben vom Leser ergänzt werden, man könnte es auch als Stilmittel ansehen.

Sehr richtig! Und das ist bei allen literarischen Werken so. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger.

Ein unkomplexes Beispiel: Lese ich zum Beispiel Shakespeares "Macbeth", so stelle ich mir Lady Macbeth mit blauen Augen vor. Ein anderer mit grünen. Ein dritter mit grauen. Denn der Autor hat die Augenfarbe dieser Dramenfigur nicht vorgeschrieben. Der Leser wird so zum Mitschöpfer, zwischen ihm und dem Werk spielt sich intensiv etwas ab.


Hallo floritiv!

Du schreibst:

Sie hat ihr Kind verloren, ihr kann es egal sein, dass das neue Schuljahr begonnen hat und hat ihre Trauer noch nicht so gut verarbeitet, dass sie fremde Kinder ein klitzekleines Stückweit als ihr eigen begreifen könnte, wie es bei Frauen, weniger ausgeprägt auch bei Männern (man spricht von Mutter-/Vaterinstinkt), behaupte ich mal, üblich ist.
Genau richtig! Wenn man trauert, ist das Interesse von der Umwelt abgezogen - aber muss auch irgendwann überwunden werden - deshalb spricht man von Trauerarbeit. Man muss auch wieder da herauskommen. Danke für deine Deutung :)

 

Hej gerthans,

ich fand's weder zu kurz noch zu verschlüsselt. Gibt nur eine Stelle, die mir nicht gefällt.

Er wär jetzt in die nächste Klasse gekommen, wenn nicht... Endlich mit ihm allein!
Zum einen braucht es dieses "wenn nicht" nicht.
Zum anderen ist mir der Übergang von den Gedanken an das gestorbene Kind zum endlich-mit-ihm-allein-sein zu abrupt. Ich würd da 'nen Absatz machen. Das würde sowohl den Weg von der Straße bis zum Friedhof als auch die vorangegangene Sehnsucht und ihre Erfüllung deutlicher machen.

Aber schön, dass ich das (dank Benni) gefunden habe.

LG
Ane

 

Hallo Benni!

Danke für deine einfühlsame Deutung :)

Dass die Frau (Mutter?) bei Rot rübergeht ...

Du hast einen feinen Sensus: Eigenlich ist sie keine Mutter mehr, weil ihr Kind gestorben ist, sie fühlt sich aber immer noch als Mutter.. und, in der Tat: sie würde gerne ihrem Kind in den Tod nachfolgen, sich also gegen die "Lebensregel", das man nicht einfach so früh aus dem Leben scheiden soll, auflehnen.

LG
gerthans


Hallo Ane!

Stimmt! Dieses "wenn nicht" ist überflüssig. Schließlich zieht es sie ja zum Grab ihres Kindes, da wird dem Leser schon klar, was los ist. Deinen Kürzungsvorschlag habe ich gerade umgesetzt. Danke für dein genaues Lesen!

LG
gerthans

 

Hallo gerthans,
eine kleine traurige, perfekte Geschichte.
Ich war mit der Mutter auf dem Friedhof, bin vom Regen durchnässt worden und habe mich von der Ampel in das Hier und Jetzt zurückholen lassen. Froh, dass ich nur Zaungast war.
LG Damaris

 

Hallo Damaris!

Ja, du hast meine Kürzestgeschichte verstanden. Der Besuch bei den Toten kann zur Falle werden. Mitten in der Stadt.
Danke für deinen lieben Kommentar!

LG gerthans

 

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