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Plötzlicher Gang zum Friedhof

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20.12.2003
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Plötzlicher Gang zum Friedhof

Es wird schon dunkel, trotzdem zieht es sie noch auf den kleinen Friedhof - er liegt ja nah, mitten in der Stadt. Eine Frau mit Kind an der Hand faucht sie an, weil sie bei Rot über die Straße geht: "Das machen die Kleinen doch nach!" Ach ja, das neue Schuljahr hat angefangen. Ist ihr doch egal. Er wär jetzt in die nächste Klasse gekommen...
Endlich mit ihm allein! Kalter Regen füllt die Vogeltränke mit den zwei Spatzen aus weißem Stein, gießt den Efeu, der an einem alten Baum und einem Grabstein hochwächst, und macht sie nass bis auf die Haut. Der Schirm bleibt zu. Willst du auch krank werden? Da blinkt was zwischen zwei dunklen Baumkronen über die Friedhofsmauer - die Verkehrsampel: grün gelb rot.

 

Ich find das ziemlich gut, das ist eine Miniatur über Trauer und die zentralen Motive werden gespiegelt. Hier ist es nicht das Kind, das der Mutter alles nachmacht, sondern die Mutter will es ihrem toten Kind nachtun und aus Reue so sterben, wie der Sohn.
Und das Bild mit der Ampel wird, so eine banale Verkehrsampel, wird zur Selbstmordmöglichkeit in diesem Kontext. Ich finde jeder Satz hat hier seine Berechtigung, auch die Umgebungsbeschreibung mit der Vogeltränke kriegt Bedeutung durch diese grammatikalische Beugung.

Kalter Regen füllt die Vogeltränke mit den zwei Spatzen aus weißem Stein, gießt den Efeu, der an einem alten Baum und einem Grabstein hochwächst, und macht sie nass bis auf die Haut.
Wer wird die "nass bis auf die Haut gemacht": Die Stein-Spatzen oder die Frau? Inhaltlich die Frau, grammatikalisch könnten es auch die Spatzen sein. Es sind beide, weil die Frau sich wie unbelebt fühlt. Das ist mal ein schönes Stilmittel.

Ich muss immer schmunzeln, wenn Autoren vom stream-of-conciousness sprechen wie über ein Allheilmittel, das ganz neu ist und wunderschön, ich seh den so gut wie nie irgendwo eingesetzt, weil er furchtbar unordentlich, unästhetisch und seltsam ist. Dein Text hier spielt auch mit diesem SoC kurz am Anfang, geht dann aber immer wieder raus und bleibt schließlich auf der erlebten Rede ruhen. Finde das einen interessanten Effekt.

 

Hallo gerthans

Den Fokus eng auf das Wesentliche gerichtet, bietet sich mir als Leser der Einblick in die Handlung. Es dünkt mich Ausdrucksstark, nichts Verschwommenes, ein glasklares Bild, die Ampel im Kontext zum Tod mir symbolisch wie für Lebensphasen. Von dem her gefällt es mir gut.
Mein Vorbehalt ist, dass es in dieser Knappheit mir ein anekdotischer Text ist, mehr eine Anregung zum Nachdenken, als in der Geschichte zu verweilen.

Dennoch gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo gerthans,

ich mag Miniaturen, Kurzprosa - oder wie man diese Art von Text auch nennen mag! Es können großartige Eintrittstore zum eigenen Kopfkino werden. - Vielleicht sollte man für dies Art von Text eine eigene Rubrik schaffen.

Deinen Text finde ich sehr gelungen. Mein Kopfkino ist auch gleich angesprungen :D.

Ein wenig stolpere ich beim ersten Satz:

Es wird schon dunkel, trotzdem zieht es sie noch auf den kleinen Friedhof, er liegt ja nah, mitten in der Stadt.
Meinem Leseempfinden würde es gut tun, wenn hinter "Friedhof" kein Komma sondern ein Gedankenstrich wäre.
Und der Satz "Kalter Regen füllt die Vogeltränke..." ist mir etwas zu lang. Vielleicht zwei Sätze draus machen.
Doch das sind Kleinigkeiten. Insgesamt ein Text, der mir sehr gut gefällt.

Liebe Grüße

Andreas

 

Hallo gerthans!

Ist nicht mein Ding. Ich kann damit nicht warm werden, weil es mir zu kurz ist und ich habe auch nicht den zugang zu den Symbolen gefunden, den die anderen hier gefunden haben. Es gibt durchaus sehr kurze Texte, die es schaffen, mich zu bewegen, aber hier bin ich außen vor. Ich weiß zwar auch nicht, was dir mein kommentar bringen soll, da du ja selbst weißt, dass dein Text sehr kurz und knapp ist, aber ich habe ihn gelesen und deshalb wollte ich auch was dazu sagen. Mir gefällts nicht so gut.

Lollek

 

Hallo Nora!

Warum lehnst du denn den Begriff "Miniatur" für Literatur ab? Dem Verfasser dieses literaturwissenschaftlichen Artikels

http://de.wikipedia.org/wiki/Kürzestgeschichte

ist er jedenfalls geläufig.


Hallo Quinn!

Danke für deine einfühlsame Deutung! Ja, die Frau wird auch von unterschwelligen Todeswünschen aus dem Haus getrieben, aber dein Gedanke, dass diese Todeswünsche etwas mit Reue, also Schuldgefühlen zu tun haben könnten, ist neu für mich. Aber nicht abwegig. Denn laut Freud hat der Todestrieb durchaus etwas mit Schuldgefühlen zu tun. Reue kann also durchaus ein Motiv im Subtext sein - da lerne ich einen neuen Aspekt meiner Kürzestgeschichte kennen!:)


Hallo Anakreon!

Danke für deine Einschätzung - dass mein Text zum Nachdenken anregt, ist ja durchaus schon viel :) Auch mit den "Lebensphasen" nennst du ein brauchbares Stichwort: Die Frau muss ja nach dem Tod ihres Kindes in eine neue Lebensphase finden - hoffenlich schafft sie es!

Hallo anbas!

Danke für deine Worte :) Dein Vorschlag mit dem Bindestrich nach dem "Friedhof" ist gut - ich benutze den Bindestrich statt Komma eigentlich auch gerne und frage mich jetzt, warum ich ihn hier nicht gesetzt habe...


Hallo herrlollek!

Deine ehrliche Einschätzung ist auch nützlich - der Autor will ja wissen, wie sein Text bei den verschiedenen Lesern ankommt :)

 

@Nora

Ich würde das gerne mit dir diskutieren, fürchte aber, es wird in eine literaturtheoretische Diskussion "ausarten", also ein off-topic werden. Aber vielleicht kann man es ja in "Rund um KG.de" diskutieren. Ich versuche es dort mal!

 
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Hallo gerthans,

zwar muss ich den Kritiken, die betonen, es handele sich nicht um eine Kurzgeschichte, Recht geben - allerdings zeichnest du da ein mächtiges Bild, möchte ich sagen. Und Bilder können alleine stehen.
Ich finde es sehr interessant.

Ich weiß nicht, inwiefern dieses Forum auch solchen Kürzesten eine Plattform sein kann und soll, deswegen könnten wir deine Geschichte auch einfach "Schreibübung" nennen. ;) Ich möchte auch nicht beginnen, die Zeichen zu zählen und Längenvergleiche zu starten, auch wenn es dir zugute käme: Habe heute zwei andere Texte gelesen und kommentiert, die aus einem Vielfachen deiner Zeilenanzahl bestehen - und ich konnte überhaupt nichts mit ihnen anfangen.
Und da sag ich eben: Lieber so eine Megakurze, die mir ein klares, eindringliches Bild ins Hirn feuert und nachwirkt, als zehn lange, die schon beim Lesen verpuffen.

Im Grunde genommen bin ich sogar dankbar für solche ... äh ... Kurzblitze. Das ist wie "die Lupe draufhalten", mal einen kleinen Aspekt ganz groß machen. Da kann ich viel lernen, und deshalb bin ich doch hier. Und es geht auch um Zurückgeben. Als ich mein Manchmal damals einstellte, da sagte auch jeder Zweite, das sei keine KG, sondern höchstens ein Monolog aus einer KG. Und trotzdem hat man kommentiert. Also da bin ich sehr, sehr dankbar für, ich hab viel gelernt. :shy:

Liebe Grüße,
PSS

 

Hallo gerthans,

ich habe deine Geschichte 3 Mal gelesen. Einmal mit meinen Augen, einmal mit Noras Brille und einmal mit Quinns Monokel. Eine Kurzgeschichte ist es nicht nach meinem Empfinden, aber ein Stück Kurzprosa allemal und deswegen darf sie hier schon stehen bleiben und blinken. Anfangs dachte ich, das ist wieder so ein Kurztext, so eine Spielerei, etwas, was angefangen wird, aber nicht vollendet, weil man üben will, aber man kann die Leute ja mal lesen lassen. Was soll's. Aber schon beim ersten Lesen habe ich gemerkt, dass das hier anders ist. Dann kam Noras Kommentar und ich hab mir gedacht, eigentlich stimmt es schon - das ist ein Puzzelteil von einem Puzzel, das vielleicht ganz nett wäre. Aber ohne Leben in den Figuren, so ohne Background und Vorgeschichte - das sind die Knochen eines Skeletts und davon nicht alle, hab ich mir gedacht. Also da hätte man schon noch weiterbuddeln können und ein bisschen Fleisch drauf packen. Die Sicht durch die Brille war mir aber dann doch zu verschwommen, also griff ich zu Quinns Monokel - er sieht auch blind besser als ich und tatsächlich steckt da einiges drin. Gewiss muss man dem Text offenherzig entgegen treten und mit einer Bereitschaft zu Interpretieren, denn vorgekaut wird hier nichts. Und so lese ich wirklich eine Geschichte. Das sind starke Bilder und sie vermitteln ein Gefühl und diese Umkehrung von Mutter-Kind, Kind-Mutter lese ich dann auch.

So gefällt mir dein ... (lassen wir es unbenannt).

Nichts spricht jedoch dagegen, solch Bilder und Gefühle in längere Geschichten zu weben. Dann kommt auch keine Kritik jenseits des Textes und man kann den Leser berühren - auch wenn er sich ein bisschen dagegen sträubt.

Beste Grüße
markus.

 

Als "Mal was Anderes" finde ich den Text interessant. Nach Quinns Interpretation habe ich beim zweiten Hinsehen ebenfalls die dichte Konzentration an Symbolen wahrgenommen.

Das ist hübsch geschrieben. Als Mindestmenge für eine echte Kurzgeschichte würde ich gefühlsmäßig drei Absätze angeben. So ist das eben nur eine Szene.

 

Hallo Purer Sternenstaub!

Danke für dein Kompliment! Deinen Vergleich mit der Lupe finde ich gut :)
Ein Ganzes nicht zu erzählen, sondern es in einem - mit der Lupe vergrößerten - Detail zeigen - das ist oft besser, als einen dicken Roman zu schreiben - die Großform ist eh nicht so mein Ding. Ein Teil steht oft für ein Ganzes, als pars pro toto..

Hallo M. Glass!

Auch Dir ein herzliches Dankeschön für deinen Kommentar. Ich freue mich, dass du den Begriff "vorgekaut" ins Spiel bringst - denn das ist ja wichtig: Der Leser soll mitwirken, und er darf auch mit einer gehörigen Freiheit mitwirken. Auch das, was du über die "Umkehrung" von Mutter-Kind, Kind-Mutter sagst, ist interessant - im Erwachsenen bleibt ja das Kind, das er einmal war, in den Tiefen der Seele erhalten und prägt sein Verhältnis zu seinem Kind.

Hallo Berg!

Ich insistiere ja nicht auf den Status "Kurzgeschichte" für meinen Text. Eine einzige Szene kann ja schon viel über das Ganze, zu dem sie gehört, aussagen, wenn in ihr, wie du sagst, Symbole dicht konzentriert sind :)

 

Hallo gerthans,

Dieser Text ... enthält Informationen, die ich als Leser deuten muss.

Ach ja, das neue Schuljahr hat angefangen. Ist ihr doch egal. Er wär jetzt in die nächste Klasse gekommen, wenn nicht die Lungenentzündung... Endlich mit ihm allein!

Ich deute mal aus dem Geschriebenen: Ein Kind ist krank und deswegen nicht in die erste Klasse gekommen. Auf dem Friedhof trifft sie sich mit dem Geliebten.

Trotzdem ahne ich, dass der Geliebte kein Geliebter sondern ein totes Kind ist, dessen Grab sie besucht.

Es wird schon dunkel, trotzdem zieht es sie noch auf den kleinen Friedhof - er liegt ja nah, mitten in der Stadt.

Kalter Regen füllt die Vogeltränke mit den zwei Spatzen aus weißem Stein, gießt den Efeu, der an einem alten Baum und einem Grabstein hochwächst, und macht sie nass bis auf die Haut.
Mit diesem Textteil bestätigst du mir als Leserin, ja es ist das Grab nicht der Geliebte, sonst würde da stehen machen sie nass bis auf die Haut.

Abgesehen davon, dass ich diesen Satz stilistisch ungelenk formuliert finde, ist mir klar. Da trauert eine Frau um ihr Kind und sie steht im Regen an einem Grab, wohl dem ihres Kindes, wird nass.

Der Schirm bleibt zu. Willst du auch krank werden?

Einerseits eine Beschreibung, einerseits innerer Monolog. Ich deute diese beiden Sätze mal als Konflikt wegen des Wörtchens auch. Das kranke Kind ist gestorben. Soll ich jetzt hineindeuten, dass die Protagonistin sich fragt, Willst du auch sterben? Ich weiß es nicht genau.

Der letzte Satz impliziert eine Antwort auf die gestellte Frage.

Da blinkt was zwischen zwei dunklen Baumkronen über die Friedhofsmauer - die Verkehrsampel: grün gelb rot.

Ganz ehrlich: Mir fällt nicht ein, wie ich das deuten soll. Hier fehlt was. Quinns Deutung, dass der Selbstmord als Ausweg gemeint ist, kann ich zwar mit dieser Passage
Eine Frau mit Kind an der Hand faucht sie an, weil sie bei Rot über die Straße geht: "Das machen die Kleinen doch nach!"
herleiten,
aber

Vielleicht rennt sie über die Straße, weil es ja regnet und kalt ist und sie deswegen nicht länger am Straßenrand stehen bleiben will, oder sie hat es eilig, (Wegen Endlich mit ihm allein) ist gestresst, weil sie für den Friedhofsbesuch eigentlich zuwenig Zeit hat, und die blinkende Ampel ist als eine Zeitmesser für die Trauer zu verstehen, dass sie weiter muss, weil nach dem Springen des Ampellichtes von Grün auf Gelb und Rot auch wieder Rot-Gelb und Grün folgt. Wenn sie trotzdem weiterhin verweilen würde, würde sie auch alles aufhalten, was hinter ihr steht.
Also genau das Gegenteil zum Selbstmord!

Daher ist diese Geschichte für mich auch noch nicht ganz fertig.

LG,GD

 

Hallo Goldene Dame!

Mein Text kann also anfangs so verstanden werden, dass die Frau nicht zu ihrem toten Kind unterwegs ist, sondern zu ihrem lebenden Geliebten. Das ist mir neu! *Uff!* Aber: Irgendwie kann ja der einzige Sohn einer Mutter den Mann ersetzen, und auch vom Kind aus gesehen: Freud hat nach nachgewiesen, dass Sexualität auch im Kinde schon keimhaft wirkt – die Nässe als Symbol für Erotisches und ein Friedhof als Ort für ein Stelldichein mit dem (irgendwie noch nicht toten) Sohn-Geliebten - dein Röntgenblick erschließt neue Aspekte!
Die Geschichte ist für dich „noch nicht ganz fertig“. Für mich auch nicht und das ist vielleicht gut so, sonst müsste ich einen Selbstmord beschreiben oder den langwierigen Prozess der Trauerarbeit nach einem Selbstmordversuch.
Danke für dein genaues Lesen!


Hallo Alexander!

Danke für deinen ausführlichen Kommentar! :)
Nicht so gut finde ich deinen Vorschlag, Absätze einzubauen. Sie würden den fließenden Charakter stören, den Lesefluss – aber die Frau zieht es unwiderstehlich auf den Friedhof, auch eine rote Ampel kann sie nicht zum Einhalten zwingen.

Gut aber ist dein Vorschlag, die Lungenentzündung wegzulassen! Solch eine nüchterne, kalte medizinische Diagnose passt nicht zu den – wie du es treffend nennst – zarten, fragilen Stilmitteln des Ohngefähren, Vagen, Nur-Andeutens in meinem Text. Da gibt also doch noch etwas, was ich weglassen kann – dein Feingefühl für die ästhetische Wirksamkeit der Verknappung ist wertvoll.


Hallo a7r4w93q5!

Du verstehst nicht, warum es die Frau plötzlich auf den Friedhof zieht:

(Plötzlich? Warum plötzlich? Was ist passiert, das einen plötzlichen Gang zum Friedhof erfordert.

Weil es ein Impuls ist. Ihre Sehnsucht nach ihrem für sie noch nicht gestorbenen Sohn ist so stark, dass sie sie richtiggehend überkommt, als plötzlicher Impuls...

Aber halt! Ich lasse mich ja gerade dazu verführen, mich selber zu erklären, zu kommentieren! Was doch zu Recht verpönt ist! Deshalb mache ich nicht weiter.

Trotzdem Danke für deinen Kommentar, von dessen Länge ich mich geehrt fühle :)

 

„Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“
Genesis, 1,3 (Luther)
„Da sprach Gott: Licht werde! Und Licht ward.“
Das Buch im Anfang (Buber / Rosenzweig)​

Es wird schon dunkel, trotzdem zieht es sie noch auf den kleinen Friedhof - er liegt ja nah, mitten in der Stadt.

Das Spiel mit den Personalpronomen im dritten Fall Einzahl – es, sie, er – fällt zunächst auf, mehr noch als die Ampelfarben von unten nach oben gelesen,

lieber gerthans.

Es und er (als frühesten Beleg germanistischer Zunge siehe got. = ita, is) gehen wie das lat. id und is auf eine gemeinsame Wurzel zurück, wie sie hier heute nur noch in den gebeugten Formen ihr(er), ihm, ihn(en) durchscheint, die auch zum Zahlwort eins weitergebildet wurde. Id findet sich in der spätlat. identitas, der [Wesens]einheit wieder. Identisch bedeutet soviel als „ein und dasselbe“, mit dem Identitätsausweis wie in der carte d’identité kann ein und derselbe sich ausweisen.

Das sich bescheiden gebende es (ita) ist kein Platzhalter mehr, als das ein Pronomen/“Für“wort gemeinhin gewertet wird; es wird selbst zum Subjekt im „es wird“ wie schon bedeutungsscher bei Luther und trivialer, wenn einer den Durchzug mit dem barschen „es zieht!“ meint und hier bedeutungsschwanger im „es zieht sie“. Sie wird getrieben und da drängen sich die in den Alltagssprachgebrauch eingedrungenen Es, Ich und Überich des Dr. Freud auf, mit dem Ich als vermittelnder Instanz zwischen Trieb und gesellsch. Forderungen,

[e]ine Frau mit Kind an der Hand …
repräsentiert das Überich und personifiziertes schlechts Gewissen.

Indem sie ihre vermittelnde Instanz aufgibt

Ist ihr doch egal
geht nicht nur im grammatischen Sinn das Subjekt aufs Es über.

Zweideutig wird’s mit dem

zunächst für den Friedhof, dann für ihr Kind, offensichtlich ein Junge:
Er wär …, wenn nicht ...

Aber im 18. Jh. wurden Personen niederen Ranges als „Er“ angesprochen. Das Kind hat den niedrigsten Status überhaupt erreicht, fällt die Leiche (nix anderes als der Leib bei den Altvorderen) nun unters bürgerliche Sachenrecht, geht nicht, aber wird zur Sache.
Endlich mit ihm allein!
Jeder stirbt für sich allein. Allein sein mit beiden - Friedhof wie Kind liegen
… ja nah, mitten in der Stadt.

„Und die Erde war Wirrnis und Wüste. / Finsternis allüber Abgrund. / Braus Gottes brütend allüber den Wassern“ übersetzen Buber / Rosenzweig das Buch im Anfang die Welt –
vor der Trennung des Tages von der Nacht und der Düsternis des Grabes.

Ein wenig bedauer ich, dass Umgangssprache verwendet wird, obwohl die Mutter ja nichts umgeht:
Egal ist die umgekippte acht ∞ …;
der hochwachsende Efeu, eine Kletterpflanze, steigt nicht nur auf am Baum, sie rankt sich auch um ihn;
dem aufen Schirm, pardon, der zue …

Es wäre noch ein kleiner Schnitzer anzuzeigen:

Er wär jetzt in die nächste Klasse gekommen, wenn nicht...
Die drei Auslassungspunkte zeigen in der Form an, dass an der Lungenentzündung ein/mehrere Buchstaben ausgelassen wären. Besser wäre zwischen der Verneinung und den Auslassungspunkten ein Leerzeichen zu setzen.

Gern gelesen vom

Friedel,
der noch ein schönes Wochenende wünscht!

 

Hallo Friedel!

Danke für deine treffenden Beobachtungen und Gedanken!

Ja, das Es! So taufte Freud in der Tat unser Unterbewusstsein mit seinen/unseren Trieben, die wir so gerne von uns abspalten, weil sie uns oft lästig sind, uns üble Streiche spielen und sogar in Gefahren reinreiten können. Aber das id gehört nun mal zu uns, zu unserer Identität. „Es“ zieht die Frau auf den Friedhof, wo Gefahr lauert – sehr gut deine Deutung der anderen Frau mit dem noch lebenden Kind als Gewissen, das auf den Plan gerufen wird, wenn das Es die Regie übernehmen will…

Hier in Köln fängt gerade der Eisregen an, aber mich zieht heute nichts mehr nach draußen!

LG gerthans

 

Hallo gerthans,

mir ist der Text zu kurz, da komme ich nicht wirklich rein. Sobald ich drin bin, bin ich auch schon wieder draußen. Das ist ein atmosphärisches Blitzlicht, das eine Geschichte beinhaltet, die sich natürlich sinngemäß erschließt, die mich aber nicht erreicht und auch nicht mitnimmt. Alles bleibt vage, als würde ich einen Klappentext eines Buches lesen.

Auch hier habe ich keine Kommentare gelesen. Entweder erreicht mich ein Text, oder er erreicht mich nicht.

Mag sein, dass sich in den Worten Symbolik zu erschließen gibt, mir ist das nicht gelungen ...

Rick

 

Hallo gerthans,

so sehr mich der Titel anspricht, so wenig habe ich von dem kurzen Text, tut mir leid. Schon als ich las "Er wär jetzt in die nächste Klasse gekommen", war für mich alles klar und der weitere Text widerspricht meiner Annahme, das hier eine Mutter um ihr Kind trauert, nicht. Hier mehr hinein zu interpretieren, Symbole zu sehen etc., vielleicht wäre ich dieser Versuchung ebenfalls erlegen gewesen, hätte ich nicht folgenden Satz lesen müssen, der mir partout nicht gefällt, ja, verzeih, ich finde ihn ungelenk:

Kalter Regen füllt die Vogeltränke mit den zwei Spatzen aus weißem Stein, gießt den Efeu, der an einem alten Baum und einem Grabstein hochwächst, und macht sie nass bis auf die Haut.
  • Spatzen aus weißem Stein >> Kalksteinspatzen? Farben hast du ja schon genug in der Geschichte (Ampeln), und im Dunkeln sind Steine nicht weiß
  • Meine Kritiklaune hängt sich auch am Efeu gießenden Regen auf. In meinen Augen eine ausgesucht schwachbrüstige Metapher, hier vertust du eine Chance, den Leser bei seinen Sinnen zu packen. Gerade der dickblättrige Efeu macht aus Regen ein ziemlich ätzend lautes Ereignis. Da gießt nix, das klickt und knackt und kracht beinahe. Wenn es nicht gerade Nieselregen ist, natürlich
  • seinem Grabstein od. einem fremden Grabstein? … Hab ich mich unnötigerweise gefragt
  • macht sie nass bis auf die Haut, das kannst du besser. >> dringt durch Mantel und Kleidung, die bald klamm haftet an ihrer Haut. Kalt, Kalk, knackt/klickt/..., Kleidung, klamm, diese Wörter würden für die passende Atmosphäre im Satz sorgen, schon vom Klang her.

Übrigens bin ich für einen Absatz mit Leerzeile zwischen wenn nicht … und Endlich mit ihm allein. Wirkt sonst auf mich so merkwürdig zeitlich unmittelbar, als läge das Grab des Sohnes direkt an der Straße.

Die Frage

Willst du auch krank werden?
entschuldigt wieder ein bisschen für das erwähnte Malheur im Hauptteil der Geschichte. Es drängt sich mir förmlich eine Stimme aus dem Off auf, die gedachte Stimme ihres Sohnes. Insofern jedenfalls kann ich die Umkehrung der Beziehung zwischen Mutter und Kind nachvollziehen.

 

Die zweite Frau mit dem Kind an der Hand kann doch unsere Protagonistin ermahnen, nicht bei Rot über die Straße zu gehen. Tut sie wohl, um ihren Ärger über die implizite Antithese ihrer Erziehungsmaximen Luft zu machen, vielleicht auch, um pädagogisch gesinnt eventuell falsche Schlussfolgerungen bei ihrem Kind an der Hand entgegenzuwirken. Und dass die Hauptfigur eine Mutter und nicht ein Vater ist, wird ja aus dem »sie« klar.

[offtopic]Ich gehe nach mehr oder weniger Abwägung der Risiken auch mal bei Rot über die Straße, und bin nicht mehr jugendlich. Das ist falsch und bußgeldbewehrt, ich weiß, andererseits komm ich mir auch reichlich dumm und überdeutsch vor, wenn ich weder Auto noch kleine Adressaten meiner bürgerlichen Vorbildseinspflicht erblicken kann. Aber darum geht es ja hier nicht.[/offtopic]

 

floritiv schreibt:

Die zweite Frau mit dem Kind an der Hand kann doch unsere Protagonistin ermahnen, nicht bei Rot über die Straße zu gehen. Tut sie wohl, um ihren Ärger über die implizite Antithese ihrer Erziehungsmaximen Luft zu machen, vielleicht auch, um pädagogisch gesinnt eventuell falsche Schlussfolgerungen bei ihrem Kind an der Hand entgegenzuwirken.

Ja, das geht in die richtige Richtung, Danke :)

Jetzt sag ich doch noch was zur Entstehung meiner Geschichte:

Einmal im Herbst hatt meine Lebensgefährtin ein merkwürdiges Erlebnis, das sie mir erzählte. Sie ist in Köln, als weit und breit kein Auto in Sicht war, bei Rot über eine Ampel gegangen und wurde deshalb heftig kritisiert, richtiggehend angefaucht. Aber nicht etwa von einem alten Nazi-Opa, der seinen Krückstock gegen die zuchtlose Jugend ohne Anstand und Moral schwenkt, sondern von einer jungen Frau (die kein Kind dabei hatte). Wir unterhielten uns mit Arbeitskollegen über den Fall und kamen zu dem Schluss: Es handelt sich wahrscheinlich um eine Mutter, deren Kind gerade eingeschult worden ist und die es vielleicht aus Sorge noch einige Monate zur Schule begleitet und es abholt und es dabei fest an der Hand hält, es aber irgendwann allein zur Schule gehen lassen muss und Angst hat, dass das Kind Erwachsene, die bei Rot über die Ampel gehen, nachahmt und überfahren wird. Auch bei einem guten Bekannten, der eigenlich liberal eingestellt ist,aber zwei Kinder hatte, die gerade in die Schule gekommen waren, merkte ich Unmut über fremde Erwachsene, die unvorbildlich bei Rot über die Ampel gehen.

Hallo Rick!

Das "Blitzlicht" ist ja schon was! danke für deine ehrliche Antwort, die besser ist als ein falsches Kompliment.


Hallo opa-uwe (jetzt mit manierlichem Nick!)

Für das Wörtchen "plötzlich" habe ich dir ja schon eine Erklärung gegeben... Und das soll genug sein, denn ich will Leser, denen mein Text aus irgendeinem Grund nichts sagt, nicht wie begriffsstutzige Schüler mit Selbstinterpretationen traktieren!

 

Also, für mich ist die dritte Variante die beste. Die anderen erfordern mehr Zugeständnisse. Wie ist Eure Meinung?
Da du explizit danach fragst: Ich meine, dass du dir mit solchen übertriebenen analytischen Überlegungen unnötig die Tastatur verschleißt. ;) Ne, im Ernst: Sie hat ihr Kind verloren, ihr kann es egal sein, dass das neue Schuljahr begonnen hat und hat ihre Trauer noch nicht so gut verarbeitet, dass sie fremde Kinder ein klitzekleines Stückweit als ihr eigen begreifen könnte, wie es bei Frauen, weniger ausgeprägt auch bei Männern (man spricht von Mutter-/Vaterinstinkt), behaupte ich mal, üblich ist.

 

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