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Petti Rosso
Die toten Vögel purzeln auf den Tisch. Ein Rotkehlchen landet unmittelbar vor Mira und die kleinen, schwarzen Augen starren sie an. Wie vertrocknete Zweige stehen die Beine vom Körper ab. Paulo breitet die steifen Körper mit der Hand aus. Mira wendet sich ab, versteckt sich hinter ihren dunklen Locken. Es ist bereits Nachmittag, Zeit, die abendliche Falleninspektion in dem kleinen Waldgebiet Richtung Brescia zu planen. Paulo stutzt bei Miras Anblick. „Alles gut bei dir? Kannst du das heute Abend durchziehen?“ Mira nickt.
Sie fahren mit dem Transporter auf immer schmaler werdenden Wegen zum Rand eines Buchenwaldes, um nach Spuren der Wilderer zu suchen, die sie zu den Fallen führen. Trockene Äste knacken unter ihren Wanderstiefeln, frische Zweige biegen sich an ihren Körpern zu Seite. Nach einer knappen Stunde haben sie noch immer nichts gefunden. Mira läuft auf wackligen Beinen durch das Unterholz. Als sie über eine Baumwurzel stolpert, greift Paulo ihren Arm. „Lass uns eine Pause machen.“
Erst will sie protestieren, aber setzt sich dann doch auf einen Baumstumpf ihm gegenüber. Der Schluck Wasser hilft etwas. Die Finger ihrer ausgestreckten Hand streifen über das Moos. Hier und da sind letzte Gesänge in der Dämmerung zu hören.
„Das Bild des Rotkehlchens, wie es mich anstarrt, bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf.“
Sie rollt die Flasche in den Handflächen und dreht sich ein Stück weiter zu ihm. „In alten walisischen Sagen heißt es, das Rotkehlchen versengte sich die Brust, als es den in der Hölle schmorenden Seelen etwas Wasser geben wollte.“
Er zieht die Augenbrauen hoch. „Hm, und zum Dank kommt es zum Mittagessen in die Pfanne.“
Mira schnaubt und steht auf. „Komm weiter!"
Sie geht los, schaut dann zurück zu Paulo, der seine Sachen in dem Rucksack verstaut. Als sie ihren Blick wieder nach vorn richtet, erstarrt sie und stößt einen Schrei aus. Paulo springt auf, lässt den Rucksack fallen und stolpert hastig durchs Unterholz. Dicht genug hinter ihr, sieht er, was sie sieht: rund zehn Bogenfallen. In jeder ein kleines, gefiedertes Knäuel. Kopfüber, die Flügel wie im Flug ausgebreitet, die zerschmetterten Beine in der Kordelschlinge gefangen. Der Fallensteller scheint sich zu verspäten, denn eigentlich werden die Vögel frisch, noch lebend abgesammelt. Mira nimmt in einer der Fallen ein Flattern wahr. „Da hinten lebt noch einer.“ Sie bricht einen Ast ab, um an die Falle zu gelangen, biegt die Haselnussreifen zurück und legt den Sicherungshaken um. Vorsichtig greift sie den kleinen Finken. Ein Flügel steht unnatürlich weit nach hinten ab, den Kopf kann er trotz aller Kraftanstrengung kaum halten. „Wir müssen ihn mitnehmen, den Flügel schienen. Und am besten geben wir ihm was von der Vitamin-E-Lösung.“ Sie hebt das kleine Etwas höher und begutachtet es.
„Ich glaube nicht, dass er es schaffen kann.“ Damit nimmt er ihr langsam den Vogel aus den Händen, geht ein paar Schritte und wendet sich ab.
Als Paulo am folgenden Nachmittag auf seinen Hof fährt, sitzt Mira vor dem Haus und blickt starr geradeaus. Er folgt ihrem Blick zu einer kleinen Schar Sperlinge an dem alten, mit Regenwasser gefüllten Blumenkübel. Sie rückt auf den Eingangsstufen ein Stück. Er setzt sich ein bisschen dichter neben sie, als es die Stufenbreite notwendig macht, und legt ihr die Hand auf den Unterarm. „Vielleicht drucken wir nochmal Infoblätter über den Artenschutz.“ Paulo lächelt und sie spürt, wie ihre Wangen heiß anlaufen.
„Die letzten Flugblätter haben die Leute ungelesen weggeworfen. Ihr Aberglaube.“ Mira zuckt mit der Schulter. „Das ist das Einzige, was sie zum Umdenken bewegen kann.“
Paulo nickt. „Schön. Dann geben wir denen etwas, worüber sie nachdenken!“
Die A5-großen Blätter werden in der Mitte geknickt. So passen sie in jeden Briefkasten. Paulo ist ein guter Zeichner: Die schwarzen Augen der Vogelgestalt starren mit stechendem Blick. Die blutrote Brust geweitet, der Schnabel überproportional groß und an den Kanten ausgefranst. Anstelle stockähnlicher Gliedmaßen hat sie muskulöse, befederte Oberschenkel, sehnige Unterschenkel, an deren Enden sich scharfe Krallen in einen Baumstumpf drücken. Im Hintergrund hängen menschliche Körperteile in feinmaschigen Fangnetzen. Als alle Blätter gefaltet sind, packt jeder von ihnen einen Stapel, um die Zettel im Schutz der Abenddämmerung im Ort zu verteilen.
Zwei Abende später isst Paulo in der Taverne unten im Ort. Carmela, die Schwester des Besitzers, bringt ihm einen Krug Wasser an den kleinen Tisch, gleich gegenüber dem Tresen. Im Gastraum hört er lautes Stimmengewirr. Carmela tippt sich an die Schläfe. „Man merkt gleich, wenn hier mal was passiert.“ Er runzelt die Stirn, woraufhin sie erklärt: “Vito ist in den Netzen am Waldrand hängen geblieben.“
Paulo winkt ab, lehnt sich auf dem Stuhl nach hinten. „Ach, das geschieht ihm Recht. Was treibt er überhaupt bei den Fanganlagen?“
„Das allein ist es nicht.“ Sie kommt Paulo ein Stück entgegen. Das kleine goldene Kreuz pendelt vor ihrem Schlüsselbein hin und her. „Es ist wie auf diesem Bild. Das mit Petti Rosso!“ Carmela richtet sich auf und greift in ihre Schürzentasche, will das Flugblatt herausziehen, doch Paulo legt die Hand auf ihre.
„Schon gut, ich kenn die Zeichnung.“ Für heute hat er eigentlich genug. Doch bei ihm auf dem Hof wartet Mira sicher schon. Sie will heute noch in den Wald, um nach Fanganlagen zu suchen und sie unschädlich zu machen. Seit dem Abend mit dem Bogenfallen ist sie nicht davon abzubringen, jede freie Minute auf Patrouille zu gehen.
Das zweite Flugblatt zeigt eine nicht weniger zornige Gestalt, mit Krallen, die blutverkrustet sind und einem zum Schrei geöffneten Schnabel. Unter dem dunkel bewölkten Himmel liegen mehrere Menschen auf einer Lichtung, ihre Körper durchlöchert, ihre Augen ausgepickt. Und ringsherum auf den Ästen sitzen hunderte Rotkehlchen, Buchfinken und andere Singvögel, die dem Treiben zuschauen. Dieses Mal sind sie beim Verteilen vorsichtiger. Es soll besser niemand den Ursprung der Zettel kennen. Zum Glück schlägt der Hund des Bürgermeisters nicht an, als Mira über den Zaun klettert, zum Schuppen schleicht und das Flugblatt mittig auf die Werkbank legt. Im Regal über der Holzarbeitsplatte entdeckt sie eine Schrotflinte und drei Packungen feinkörniger Munition. Die Fingerknöchel treten weiß hervor, weil sie die Hände so stark zu Fäusten ballt.
Mira reckt am nächsten Morgen lächelnd ihre Nase in die Frühlingsluft. Sie liebt diesen Geruch. Nicht den offensichtlichen Duft der ersten Blüten. Eher das Gefühl der sonnenwarmen Luft kurz vor dem Einatmen. Im Wald sieht das einfallende Licht bestimmt wundervoll aus. Sie schlendert zu Paulo, der auf einem Hocker unter dem verkrüppelten Apfelbaum sitzt, die Unterarme auf die Knie gestützt, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen.
„Ich habe mit Carmela gesprochen. Der Bürgermeister hat beim Flintenputzen im Schuppen eine Schrotladung ins Bein bekommen.“ Paulo schüttelt den Kopf. „Erst Vito und jetzt noch er … ich meine, das mit meinen Zeichnungen.“
Mira schmunzelt. „Hat die Aberglaubenummer bei dir am Ende besser funktioniert als bei den Wilderern?“
Anfangs weigert sich Paulo. Doch Mira redet so lange auf ihn ein, bis er schlussendlich eingewilligt, eine neue Zeichnung anzufertigen. Es soll wieder eine Szene im Wald werden. Doch dieses Mal hat Petti Rosso kein Blut an den Krallen. Die Körperhaltung zeigt keine Spur der Aggressivität der vorherigen Darstellungen, der Blick ist fast gütig, im Schnabel ein kleiner Zweig. Mira kommt an den alten Holztisch und sieht Paulo fragend an, der daraufhin den Stift beiseitelegt. Die Handflächen nach oben zeigend, streckt er seinen Rücken durch.
„Was? Wenn ich es ohne Blutvergießen zeichne, folgt Petti Rosso meinem Beispiel vielleicht.“ Er lässt die Hände sinken.
„Und mit dem Zweig im Schnabel …“, Mira verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln, „fliegt es los, um sich ein gemütliches Nest zu bauen?“
„Hm. Das symbolisiert die Wiedergutmachung. Es heißt, ein Rotkehlchen kann keinen toten Menschen sehen. Es fliegt los, um einen Zweig zu holen und bedeckt dann damit das Gesicht, in dem Versuch, es etwas zu verhüllen.“
Mira schnalzt mit der Zunge. „Paulo, es sind nur Zeichnungen, mit einer von uns erfundenen Figur. Okay, dir ist nicht wohl dabei. Aber ich glaube wirklich, dass die Aktion was bringt, weil sich die Wilderer im Wald beim Gedanken an Petti Rosso fast ins Hemd machen. Hast doch gehört, wie sich die Leute im Ort darüber unterhalten.“ Mira grinst ihn an und schlägt mit den Armen, als wären es Flügel. „Hey, sehe ich da ein Lächeln?“ Dann lässt sie sich neben ihm auf die Bank fallen und legt ihrem Kopf an seine Schulter. „Mir gefällt`s.“
Die Taverne ist ein paar Tage später wieder gut besucht. Paulo sitzt kaum, als Carmela auf ihn zustürzt. Ihr sonnenverwöhntes Gesicht ist heute blass und eine tiefe Falte zeigt sich über der Nasenwurzel. „Paulo, ich …“, Sie schaut sich nach allen Seiten um, beugt sich noch ein Stück näher zu ihm, das pendelnde Kreuz ist dicht vor ihm. „Bitte komm kurz mit nach hinten.“ Er folgt ihr hinter den Tresen, in das kleine Büro neben der Küche und als er das Zimmer betritt, erkennt er das Flugblatt in ihrer Hand. „Mein Bruder, er ist seit gestern verschwunden. Keiner weiß, wo er steckt. Und an sein Handy geht er nicht ran.“ Sie hebt zittrig die Hand. „Das lag hier hinten auf seinem Tisch.“
Paulo nimmt ihr den Zettel ab. Eine bräunliche Flüssigkeit sprenkelt die Rückseite. Beim Anblick der Zeichnung stutzt Paulo. Die von ihm gezeichnete Vogelgestalt mit dem Zweig im Schnabel ist um einige Leimruten ergänzt worden, deren menschliche Opfer den Betrachter mit schmerzverzerrtem Blick ansehen. Die Darstellungen sind nicht sehr detailgetreu und nicht wirklich proportional, aber dennoch realistisch genug, dass Paulos Mund trocken wird – und er weiß sofort, wer dahintersteckt. Mira hat den fertigen Entwurf vervielfältigt und anschließend verteilt. Paulo war ihr dankbar, dass sie die ganze Arbeit auf sich nimmt.
Vito schwitzt. Die buschigen Brauen können die Tropfen nicht daran hindern, in die Augen zu rinnen. Alles Blinzeln hilft nicht gegen das andauernde Brennen. Er beugt den Kopf runter, um die Stirn am Ärmel abzuwischen. Gestern, als die Sonne unterging, ist er zum Pflücken in den Wald gegangen. Seine Vorräte in der Kühlung gehen langsam zu Ende und die Gäste verlangen nach den traditionellen Gerichten. Und sie bezahlen gut dafür. Er hat sich das Hemd ausgezogen, um es vor dem klebrigen Saft zu schützen. Als er die Hand ausstreckt, um einen Vogel zu greifen – er steht einen Schritt entfernt und muss sich etwas noch vorn neigen – fliegt eine Singdrossel so dicht an seinem Gesicht vorbei, dass deren Schwingen sein Gesicht durchziehen, Vito nach vorn strauchelt und mit der Brust an einer der Leimruten kleben bleibt. Wie eine Obstfliege am Sirupband hängt er da. Aus einem Impuls heraus nimmt er die Hände zur Hilfe. Er drückt so fest er kann, doch der Leim gibt seinen Oberkörper nicht frei. Beide Hände sind nun auch unlöslich mit dem hölzernen Stab verbunden. So hängt er die gesamte Nacht, schläft von Zeit zu Zeit ein, bevor ein Vogelschrei ihn wieder weckt.
In seiner Hosentasche klingelt das Handy. Trotz aller Verrenkungen wird er nicht rankommen, das weiß er von vorherigen Versuchen. In den Klingelton mischt sich eine gepfiffene Melodie. Als Vito Mira vor sich sieht, atmet er erschöpft aus.
Sie pfeift weiter, wippt auf den Füßen – vor und zurück, greift nach einem kräftigen Buchentrieb, biegt ihn zurück und bricht vorn ein Stück ab. Feuer rinnt durch ihre Adern. Es beginnt in den Fingerspitzen und bündelt sich in ihrer Brust. Nichts um sie herum existiert mehr. Dann neigt sie ein wenig den Kopf, während sie noch immer den im Bogen gespannten, spitzen Ast in der Hand hält. Vito schaut ihr mit weit aufgerissenen Augen ins Gesicht, dann zu ihrer Hand und wieder zurück in ihr Gesicht. Mira sieht, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt, sieht wie sich seine Lippen bewegen, aber hört nur ihr eigenes Pfeifen und öffnet ihre Hand. Sie zwinkert nicht, als ihm der hölzerne Speer seitlich im Hals stecken bleibt und sein Blut blubbernd an der Rinde vorbei quillt. Sein Herz pumpt und das Moos zu seinen Füßen saugt es gierig wie ein Schwamm auf. Mira spürt in den Fußsohlen, wie der Waldboden zu pulsieren beginnt. Vögel kommen in Scharen, setzen sich auf die umliegenden Bäume und stimmen in Miras Melodie ein. Ein Rotkehlchen flattert an ihr vorbei. Im Schnabel trägt es einen Zweig.