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- 04.03.2018
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Petit Papillon
Giampiero Toto Calogero Rizzo. Seine Eltern in Taormina hielten es für einen guten, einen wohlklingenden Namen. Ihn selbst störte daran das Schwülstige, die Anmutung von Pathos, wenn er ihn aussprach. Dennoch war es sein Name und er mochte es, wenn jemand anderes ihn vollständig aufsagte – richtig betont und ohne Fehler. Das gelang im Zirkus nur Irina. Der wundervollen Seiltänzerin Irina Romanowa, genannt 'Petit Papillon'. Stern der Hoffnung für Toto, Zugpferd für die Vorstellung.
Die anderen im Zirkus riefen ihn Toto, solo Toto. Nur Direktor Ferlani beließ es bei Signore Rizzo. Aber das lag an dem Lohn oder vielmehr dem Handgeld, das er Toto für seine Dienste zahlte. Ferlani hielt es mit allen so. Mit Distanz war es leichter, nein zu sagen. Der Herr Ferlani zeigte große Umsicht bei allem, was sein Geld betraf.
Die ersten Besucher, zwei Mädchen, hüpften auf seinen Käfig zu. In den Händen wippten aufgespießte Kokons aus Zuckerwatte. Ihre ausgehfeinen Wollkleider aufgeplustert vom salzigen Küstenwind der Stadt am Meer.
Toto wartete, bis sie die linke Ecke des Käfigs erreicht hatten. Ein tiefes »Bonan Tagon«, ein leichtes Rütteln an den Eisenstäben. Kreischend suchten die Mädchen das Weite. Flocken rosiger Zuckerwatte flatterten zu Boden, kreiselten im Wind. Die Eltern hasteten durch den Gang hinter der Kasse, hielten nervös Ausschau nach dem Grund des Lärms. Bei den tanzenden Flocken blieben sie stehen.
»Saluton«, grüßte Toto, die rechte Hand an der Schläfe. Beide zuckten unmerklich zusammen. Unter dem weißen Glockenhut hinweg straften ihn kalte Augen. Toto kannte diesen Blick. Ruhig hielt er stand. Das Fell verlieh ihm Mut – etwas, das er sonst in nur geringem Ausmaß besaß.
»Pardonon!«, brummte er, klatschte linkisch, zuckte mit den Schultern, schaute schräg von unten. Die Frau zog ein Gesicht und schüttelte mit dem Kopf, doch Toto sah die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen.
Einige ältere Zirkusgäste schlurften an den Stäben vorbei. Toto beschränkte sich darauf, Bananen zu schälen und sie ihnen hinzuhalten. Allein das fesselte ihre Aufmerksamkeit, mehr musste er nicht tun. Dabei linste er verstohlen durch den Ritz in der Bretterrückwand des Käfiganhängers hinüber zu Irinas Wagen. Die Tür war geschlossen und eines der Fenster auf Spalt gestellt. Nicht mehr lange, sagte er sich, nicht mehr lange.
Eine Handvoll Halbstarker bog lärmend um die Ecke. Mit den hellen Strümpfen, die aus ihren Knickerbockers ragten, erinnerten sie Toto an junge Hähne und auch die ausgestellten Armen taten ein übriges dazu. Toto wartete auf den richtigen Moment, sprang mit allen Vieren an die Gitterstäbe und gab seinen einstudierten Schrei zum Besten. Nach einer Schrecksekunde fingen die größeren Jungs an, nervös zu lachen, saugten dankbar an ihren Kippen, bis die Finger glühten. Verstohlen schielten sie durch den Rauch zum Käfig.
Der Kleinste aus der Runde saß auf seinem Hosenboden. Das Gesicht kreidebleich. Zwischen den Beinen wuchs ein dunkler Fleck. Zum Glück heulte er nicht.
»Mi pardonpetas.« Die Fellhand, die Toto ihm zum Schütteln hinhielt, ließ der Junge in der Luft stehen. Toto zuckte mit den Schultern, griff hinter sich und hielt ihm sein Versöhnungsgeschenk hin. Der Junge nahm es zögerlich. Im Gehen betrachtete er die gelbe Frucht von allen Seiten und steckte sie behutsam in seine Jacke.
Das Gorillakostüm und der Käfigwagen waren die letzten großen Investitionen des Zirkus Ferlani. Seit Liliputaner Egon verstorben war, blieb der Platz an der Schaugasse vakant. Richtige Sensationen, wie eine Frau mit zwei Köpfen oder behaartem Gesicht, waren nicht so leicht zu bekommen. Und wenn, waren sie für Direktor Ferlani unbezahlbar. So kam er auf die halbgare Idee mit dem Affen.
»Signore Rizzo, lass dir was einfallen«, sprach er zu Toto und schaufelte ihm das neu erworbene Kostüm auf die Arme.
Damals bekleidete Toto die Stellung des Faktotums. Er half beim Aufspannen des Viermastzelts, versorgte die Tiere und reparierte die Wagen.
Signore Rizzo sei ein ungewöhnlich kühler Italiener, sagte Herr Direktor, erst recht, wenn man seine sizilianische Herkunft bedachte. Mit ein wenig Überlegung werde er schon das Richtige finden.
Toto runzelte die Stirn und grübelte, wie es ihm gelingen sollte, dem Fellhaufen Leben einzuhauchen – bis er sich abzeichnete, der Esperanto sprechende Gorilla. Die wenigen Brocken, die er benötigte, konnte er von Irina lernen, was ihm kostbare Gelegenheiten schuf, ihr nahe zu sein. Im Stillen musste er zugeben: Das hatte seine Entscheidung nicht unwesentlich beeinflusst.
Direktor Ferlani war zunächst skeptisch. Doch sobald er sah, dass der Esperanto sprechende Affe half, die Zeltreihen zu füllen, gab er seinen Segen.
Toto zog alle Register seines Könnens, bis die Zuschauer an ihm vorbeimarschiert waren. Dem letzten rief er noch ein »Ĝis nuntempe« hinterher – in der Gewissheit, dass er es nicht verstehen würde.
Er nahm die Gorillamaske vom verschwitzten Schädel und öffnete die Käfigtür. Den Rest des Kostüms streifte er vorsichtig ab, ohne die Nähte zu beschädigen. Zuletzt zog er die Kipplade an der Rückseite des Wagens auf und verstaute das Fell darin.
Auf dem Weg zum Artisteneingang ging Toto das neue Programm im Kopf durch. Keine halbe Stunde, bis Irina an der Reihe war. Er schaute zu ihrem Wagen hinüber und sah sie hinter dem Fenster, in ihrer Hand Puderquast und Handspiegel. Heißes Blei rauschte durch seine Adern, seine Augen suchten auf dem Boden nach Halt.
Durch die gewachste Stoffbahn vernahm er das theatralische Timbre des Herrn Direktor. Kurz darauf setzte das Orchester ein und mischte blecherne Hornstöße unter das Pferdegetrappel. Es blieben wenige Minuten Zeit. Toto fingerte zitternd eine 'Nil' Orientzigarette aus der Tasche. Ein Laster, das ihm half, kühlen Kopf zu bewahren.
Die Plane des Zeltvorbaus wurde mit einem Klatschen aufgeworfen. Schlagartig schwoll der Applaus an. Sechs schwarze Wallache preschten aus der Manege an Toto vorbei und wurden in Empfang genommen. Die weißen Straußenfedern in ihren glitzernden Stirnriemen flatterten, als sie in einer Staubwolke zu stehen kamen. Toto griff eines der Zaumzeuge und redete beruhigend auf das Tier ein. Es war Charcoal, Irinas Liebling unter den Wallachen. Jedes Mal, wenn die Seiltänzerin ihm über den Hals strich, stellte er sich vor, sie würde das bei ihm tun – nur nicht am Hals.
Mit den anderen eskortierte er die Pferde in den Unterstand – wie üblich eine schnell zusammengenagelte Bretterbude. Vorsichtig befreiten sie die Pferde von ihren Geschirren, gaben ihnen Wasser und frisches Heu.
Die Wallache waren das hochtrabende Kapital vom Herrn Direktor, somit war äußerste Vorsicht angebracht. Sanft fuhr er mit den Fingern über Charcoals Blesse und fantasierte, er würde Irina berühren – nur nicht an der Stirn.
Auf dem Rückweg schlug er einen Bogen vorbei an den Behausungen der Artisten. Wie jedes Mal, wenn er an Irinas Wagen vorbeiging, blieb er unter dem aufgestellten Fenster stehen. So kurz, dass niemand stutzig wurde, und doch lange genug, um tief den betörenden Duft einzuatmen, der aus dem Spalt drang. Es war für ihn der Wohlgeruch aus einem fernen Land, von dem er wusste, dass er niemals dorthin reisen werde. Ein Land namens Petit Papillon. Mit Grenzkontrollen, die einen sizilianischen Gehilfen aus dem Zirkus Ferlani niemals passieren ließen.
Toto wandte sich ab, die Nase angefüllt mit ihrem Duft, seine Lippen formten ein tonloses »Adiaŭ«. Erst als er ihr Fluidum vollständig verloren hatte, kehrte er zurück zum Artisteneingang und zog die nächste 'Nil' aus der Brusttasche.
Durch die schwere Baumwollplane drang gedämpfter Applaus. Vereinzelte Rufe nach einer Zugabe gingen im Tamtam des Orchesters unter. Clown Gustav war mit seiner Nummer durch, jetzt folgte Janko mit seinen Messerwürfen.
Bald war es so weit. Toto sah sie in ihrem Tutu aus dem Wagen flattern und wandte schnell den Blick ab. Er hielt schon den Schemel bereit, sie würde sich die Ballerinas erst auf den trockenen Spänen anziehen. Als Irina bei ihm war, hauchte sie ein zartes »Koran Dankon«, das Toto einsaugte und es so lange wie möglich in seinen Lungen behielt.
Aus dem Zelt drangen einzelne Trommelschläge und das rhythmische Raunen des Publikums. Totos Unruhe stieg, was nicht direkt an den geworfenen Messer lag, sondern an dem Umstand, dass mit jedem Klatschen des Metalls in die drehende Holzscheibe Irinas Auftritt näher rückte.
Unbeeindruckt schnürte Irina die Ballerinas und sang dabei leise den Gassenhauer aus ihrer russischen Heimat, dessen Melodie Toto auswendig kannte und den er so leise mitsummte, dass nur Irina es hören konnte. Irina tat so, als wäre nichts geschehen, hörte jedoch nicht auf zu singen und gestattete ihm in stiller Übereinkunft das tägliche leise Duett, für das Toto alles opfern würde, solange nur Mund und Augen übrig blieben.
Erneut brandete Applaus auf, das Verfolgungslicht erlosch. Kurze Umbaupause. Totos Herz raste, es war soweit. Als sie an ihm vorbeisegelte, warf sie ihm ein kleines Lächeln und einen flüchtigen Blick zu, den nur er auffing und den er dahin fallen ließ, wo schon all die anderen lagen.
Zum Stakkato des Orchesters wurde das Gestänge hereingetragen und aufgestellt. Eilig wurden die Späne in die Mitte gekehrt. Darüber wurde das Hochseil verspannt. Toto stahl sich in den Schatten unter der Orchesterempore, wo er gute Sicht auf die Manege hatte und wo vor allem Ferlani ihn nicht sehen konnte.
Irina trat ins Licht. Sie schwebte wie eine Feder über die Sägespäne. Ihr schwarzes Haar wurde von einem roten Charleston-Stirnband gehalten. Ein Knicks und ein Lächeln in jede Richtung und schon war sie auf dem ersten Holm. Der Lichtkegel erfasste sie, sobald sie oben aus der Leiter stieg und ließ sie nicht mehr los. Die Bläser setzten aus und Direktor Ferlani bat um absolute Ruhe. Das Orchester wartete, bis das Gemurmel verebbte, dann begann der Trommelwirbel aufs Neue.
Leichtfüßig hüpfte Irina über das Seil. In der einen Hand hielt sie einen großen, roten Fächer, in der anderen einen zierlichen, weißen Sonnenschirm aus Papier. Sie tänzelte vor und zurück, bis zur Mitte, sprang hoch, spreizte schnell die Beine zur Schere und landete sicher.
Jede Seilberührung wurde von einem Schlag auf der Blechtrommel begleitet. Im Gegensatz zu ihren Übungen am Morgen war das Seil höher gespannt und die Manege nicht mit Polstern ausgelegt.
Toto hielt die Luft an, ein bitteres 'mio Dio!' auf den Zähnen. Wie jedes Mal, wenn der Petit Papillon durch die Luft flatterte.
Irina wirkte auch ohne weißes Pulver angstfrei, ganz so, als würde ihr das eigene Leben nichts bedeuten. Genau das beunruhigte Toto, denn er hatte gelernt, dass eine gesunde Portion Angst die Instinkte schärft. Nicht so bei Irina. Mit schlafwandlerischer Sicherheit tanzte sie durch ihr Programm und zog ihre Bahnen wie ein einsam leuchtender Stern in der dunklen Kuppel des Zirkuszeltes.
Eine Kehre weiter begann Toto zu beben, denn er wusste, es steuerte unaufhaltsam auf das Finale zu. Den grausamen Salto vorwärts, bei dem sein Herzschlag regelmäßig aussetzte.
Von der Angst, die Irina nicht zu kennen schien, hatte Toto reichlich und sie schnürte ihm den Hals zu. So fest, dass er keine Luft mehr bekam. So fest, dass sein Hals kratzte und sich zu dem kalten Rauch auf der Zunge der bittere Geschmack von Magensäure gesellte. Seine gewohnten Begleiter, die ihn dort in der Dunkelheit im Schatten der Orchesterempore plagten. Und die er erst wieder loswurde, wenn der Salto vorwärts geglückt war.
Unbewusst fuhr seine Hand vor den Mund, weil er spürte, dass heute etwas anders war. Da war ein aufsteigender Hustenreiz, der seine verätzte Kehle emporkroch, und Toto spürte, dass er ihn nicht lange unterdrücken konnte. Doch anstatt leise in die Hand zu husten, versuchte er weiter, ihn so lange wie möglich einzuhalten, was die Sache verschlimmerte, bis es schließlich aus ihm herausbrach. Unkontrolliert entfuhr ihm zwischen zwei Trommelschlägen ein Stakkato harter Keuchtöne.
Irina hatte schon Anlauf für den Salto genommen und diese winzige Ablenkung reichte aus, sie aus ihrer schlafwandlerischen Sicherheit aufzuwecken. Mit einem flüchtigen Nicken drehte sie den Kopf. Vielleicht, weil sie diese Art Geräusch nicht kannte oder weil es aus einer völlig unerwarteten Richtung kam.
In der Folge geschah eine Reihe ganz außergewöhnlicher Dinge. Irinas linker Fuß landete zum ersten und einzigen Mal wenige Millimeter zu weit außen, was eine sichere Landung verhinderte und das Unvermeidliche folgen ließ. Irina strauchelte und auch ihre rudernden Arme konnten den Sturz weder verhindern noch aufhalten. Wie in Zeitlupe fiel die Seiltänzerin zu Boden, ganz so als wolle sie kopfüber in das Meer der Sägespäne eintauchen.
Das ungläubige Aufraunen des Publikums wurde beendet vom dumpf knackenden Aufschlag des Petit Papillon im Bett der auffliegenden Sägespäne. In die Stille hinein segelten der rote Fächer und der weiße Papierschirm zu Boden. Sanft wie Schmetterlingsflügel.
Für Toto gab es kein Halten mehr. Schon als er zu ihr hinstürzte und ihren Kopf in seine Hände nahm, spürte er, wie das Leben sie verließ. Auch wenn es Toto die Seele aus dem Leib riss, sah er durch die Tränen in ihrem Gesicht etwas, das dort nicht hingehörte. Neben Unglauben eine Spur Empörung. Ein erster, stiller Vorwurf an das Leben, dann war der Moment vorüber und Irinas Gesicht wurde blank.
Giampiero Toto Calogero Rizzo hörte auf zu existieren. Es herrschte Grabesstille. Herr Ferlani war der erste, der aus der Starre erwachte und wild gestikulierend dem Orchester zu spielen befahl. Irgendetwas.
Als die ersten schrillen Töne erschallten, ging alles ganz schnell. Ein großes Tuch wurde gespannt, um Irina von den Blicken abgeschirmt aus dem Zelt zu befördern.
Wie aufgestachelt liefen Stelzenläufer, dankbar von den Beleuchtern in Szene gesetzt, durch die Manege und warfen händeweise Konfetti. Zwischen ihren Stangenbeinen schlugen die Trapezkünstler Flic-Flacs, während im Dunkeln schnell das Seilgestänge weggerafft wurde.
Ronni war mit seiner Keulenjonglage der Nächste im Programm, doch das sah Toto schon nicht mehr. Er schlich zurück zum Käfigwagen, gebückt wie ein alter Mann. Dort nahm er das Affenkostüm aus der Kipplade, zog es an und setzte sich in den Käfig. Erst vereinzelt, dann als großer Strom zogen die Zuschauer an ihm vorbei, obwohl das Orchester immer noch spielte.
Eltern nahmen ihre Kinder in die Mitte und beförderten sie mit sanftem Nachdruck vom Gelände. Niemand hatte ein Auge für das schwarze Fellknäuel auf dem Boden des Wagens, aus dem eine letzte, beinahe unmenschliche Klage drang.
Erst als einige Zeit später eine Sirene lauter wurde, verstummte auch das Orchester, das bis dahin die Leere des Zeltes überspielt hatte. Fast so, als versuchte es damit, das Unabwendbare aufzuhalten, was ebenso sinnlos war, wie alle Maßnahmen, die der Arzt wenig später ergriff.
Direktor Ferlani rannte mit irrem Blick über den Zeltplatz, die Arme erhoben wie ein Dirigent. So wild er auch gestikulierte, es gab nichts, was er noch tun konnte, um die Katastrophe abzuwenden. Das Stigma der verunglückten Seiltänzerin würde an seinem Zirkus haften bleiben. Und daran war nur dieser Toto Rizzo mit seinem Gekeuche schuld. Vermutlich hatte er das sogar absichtlich getan, um ihm zu schaden. Gar zu ruinieren! Ferlani schnaufte durch seine zusammengebissenen Zähne. Dafür würde der Sizilianer bezahlen!
Ferlani suchte die Wagen ab, schaute bei den Tierunterständen nach und hetzte zuletzt zum Affenkäfig. Doch auch hier fand er Toto nicht. Die Käfigtür quietschte in den Angeln, Toto war ausgeflogen.
Mit aller Wucht schlug er das Gitter zu, das Getöse ließ den Wagen erbeben. Ferlani stierte mit rot geränderten Augen in die Runde. Ein Knallen seiner Peitsche teilte den Tross, der ihm gefolgt war. Fluchend stapfte er zurück zu den Wagen.
Am nächsten Morgen ließ Signore Ferlani in aller Frühe die Zelte abbrechen und hastig auf den Wagen verstauen. Umgehend ließ er sie hinter sich, die tote Seiltänzerin und die Stadt am Meer – allein, um den amtlichen Untersuchungen zu entgehen. Erst beim Verzurren des Affenkäfigs fiel jemandem auf, dass mit Toto auch das Gorillakostüm verschwunden war.
Ich teile den Hügel aus schwarzem Staub, schiebe ihn weg mit flachen Händen und spüre, wie er sich hinter mir wieder vereint. Nirgendwo ein Atemrest, alles ist verbrannt, verbraucht. Es bleibt leere Luft, die rußig schmeckt mit einem Rest Salz. In meinen Lungen legt sich beißender Rauch auf Schleimhäute. Der Staub schluckt jedes Geräusch. Vergeblich spucke ich Nebel aus finsterem Puder, schleudere sie in die Nachtschwärze. Von oben rinnt weiter dunkler Quarz auf meinen Scheitel, lässt mich husten, keuchen, sprotzen.
Roter Schmerz pulsiert vor den Augenlidern. Als ich sie öffne, sehe ich fahles Licht. Ein schwacher Neumond glüht mit letzter Kraft. Ich rolle mich zur Seite, kotze dicke Klumpen Teer, sauge eisige Schärfe in krampfende Lungen. Spüre, die Luft hier schmeckt wie reines Wasser. Fühle unter meinen Muskeln festen Boden, unnachgiebige Glätte, spiegelblanker Nero Assoluto. Stehe auf und schüttele mich, verteile staubige Hautschuppen auf kaltem Stein. Stolpere erste Schritte und sehe die samtglänzenden Abdrücke meiner nackten Füße.
In der Ferne deutet der Neumond Konturen an, Erhebungen aus dem toten Spiegelglatt, dorthin wende ich mich. Augenblicklich gesellt sich zur Hoffnung ein neues Gefühl. Es zehrt und zerrt an mir, lässt mich schneller gehen, laufen, hasten. Das Trappeln der Füße ist ab jetzt meine Unruh. Schwingen. Pendeln. Bis sie kaum noch den Boden berühren. Alles an mir ist Rhythmus, neu und unverbraucht. Meine Gedanken ein schwarzer Fluss erstarrter Lava. Stürmen, Hetzen, Jagen. Der Wüste entkommen, der ich entsprungen. Zum Horizont, wo grauer Wind silbrige Wipfel streichelt. Ich wechsele die Gangart, auf allen Vieren bin ich schneller. Mit weichen Pranken abwechselnd federnd, spielerisch stampfend im Aufgalopp. Der schwarze Flaum weht bei jedem Schritt. Als ich dort bin, wo sich blätterige Arme in den Himmel recken, ist er so dicht, dass ich meine Haut nicht mehr sehe. Ich blähe meine Nüstern, lasse den dunklen Waldduft tief hinein in meine Lungen. Mein Herzschlag beruhigt sich, alles fühlt sich anders an, wohltuend anders und zum ersten Mal richtig.
Einige Zeit später wurde in den Wäldern um die Stadt am Meer ein seltsames Wesen gesichtet. Eine einsame Kreatur mit schwarzem Fell, die sich beinahe bewegte wie ein Mensch. Und auch, wenn es anfänglich erhebliche Irritationen gab, gewöhnten sich die Waldbesucher an die Erscheinung. Sie suchten es auf, warfen ihm regelmäßig Obst hin und wunderten sich über die Laute, die es daraufhin ausstieß. Auch wenn es für sie unverständliches Kauderwelsch blieb, klang es beinahe wie eine menschliche Sprache. Fast bekamen sie den Eindruck, als würde sich das Wesen für ihre Gaben bedanken.
Mit den Jahren wurde das Fell blasser, der Affe wurde gebrechlich, schien beinahe zu schrumpfen. Die Kinder wurden mutiger und zogen an seinen festen grauen Haaren. Sanft streifte er ihre Hände ab, brummte kurz und stieg auf den nächsten Baum. Nie kam etwas Lautes oder gar Zorniges über seine Lippen.
Den jungen Mann in Knickerbockers, der Jahre später auf Besuch in die Stadt am Meer kam und aufgeregt davon erzählte, dass er den Affen einst in einem Zirkus gesehen und der ihm dort eine Banane geschenkt habe, verlachten sie oder hörten ihm nicht zu.
Dennoch behauptete der junge Mann eisern: Den leisen Singsang, den das graubefellte Wesen fortwährend wiederholte, hatte er dort auf dem Weg zum Zirkuszelt schon einmal ganz ähnlich gehört.
„Pardonpetas … Pardonu … Petit Papillon.“