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Paradieswasser
Entzückend war es, einfach entzückend, dieses kleine Land. Seine hohen, wohlgeformten Berge in der Mitte, von denen die Wildbäche über Felsen stürzten und sich nach dem tosenden Fall lieblich beruhigt durch sonnige Alpmatten schlängelten. In kleinen Weilern wohnten auf sanften Höhen die Bauern und bewirtschafteten von dort aus die fruchtbaren Ebenen und die Weinberge an den grenznahen Seen. Ein Land des Friedens seit Jahrhunderten. Seine Bewohner warfen breitbeinig abgestützt zu den Klängen ihrer Alphörner leuchtend rote Fahnen in den blauen Himmel. Sie tanzten, lachten und jodelten im Wohlstand, den ihnen fremde Menschen aus der ganzen Welt brachten. Kostbares Wasser auf die Mühlen der Bürger, die ohnehin schon im Überfluss schwammen.
Die Fremden kamen als Gäste, aber auch, um dieses Land mit ihren Fähigkeiten zu bereichern. Köstlich hier zu leben, zu arbeiten und zu wandern. An den türkisfarbenen Bergseen zu rasten, den buttergelben, kräuterwürzigen Alpkäse, die cremesahnigsüsse Schokolade aus dem Rucksack zu geniessen. Sich zu vergnügen in den stattlichen Hotels der sauberen Städte. Unter schattigen Linden den breiten Bahnhofstrassen entlang zu schlendern und die prachtvoll mit Juwelen bestückten Uhren in den Auslagen der Läden zu betrachten. Eine Oase war dieses Land, ein Paradies. Längst stand es unter dem Patronat des Weltkulturerbes. ‚Wenn es je dazu kommt’, dachten stolz die Paradiesbewohner, ‚dass die Welt unser Land erbt, dann wahrlich ist die Welt um ein Juwel reicher.’
Doch aus wolkenlos-heiterem Himmel gab es plötzlich Streit mit dem bis dahin so freundlichen Nordland, dessen Bewohner so gerne ihre Chalets im Paradiesland bauten, weil sie die etwas engstirnigen Paradieslölis genauso gerne hatten, wie das gute Leben in der bezaubernden Landschaft.
Im Streit ging es nicht um die hübschen Wasserfälle, Bäche und Flüsse, sondern um die Wasserreservoire, die Talsperren, die unsichtbaren Kanäle und verzweigten Stollen, die die Paradiesländer seit Jahrhunderten bauten, um das Wasser zu sammeln. Solange es sich nur um die Schmelzwasser der landeseigenen Schneeberge handelte, konnte sich darüber niemand aufregen. Aber es waren eben auch die witterungsbedingten Wassermassen aus dem Nordland. Da wollte man nun, ja da musste man ein paar deutliche Worte mitreden dürfen. Es ging doch nicht an, dass Nord- und Ostwinde die Regenwolken über die Grenzen hinweg zu den Bergen des Paradieslandes trieben. Dort blieben sie hängen, regneten ab, ergossen sich über Felsen und Matten, sammelten sich in Kavernen und flossen unterirdisch durch komplizierte Rohrleitungen zu den Talsperren, von wo sie wohldosiert zu den Haushalten der Paradiesler geleitet oder in Strom umgewandelt wurden. Wasser, welches eigentlich den Nordländern gehörte, die aber mangels traumhafter Berglandschaften nicht die Möglichkeiten der Wassersammlung hatten. Daraus erklärte sich wiederum, warum sie nie gleichartige Wassersammlungssysteme entwickelten.
Jetzt bemühten sich Heerscharen von Ingenieuren in nordstaatlichen Diensten um die Bannung der Regenwolken im eigenen Land. Meterhohe Mauern standen zur Debatte und wurden heftig verworfen von Einfamilienhausbesitzern, die um den grenzüberschreitenden Blick auf die paradiesischen Bergketten bangten. Gewaltige Gegenwindkonstruktionen entstanden auf dem Papier, scheiterten aber an den zu erwartenden, enorm hohen Betriebskosten.
„Wo kein Wasser, da auch keine Elektrizität“, mahnten die Gegner und schon bangte man um die Existenzen von Handys und Laptops. Von Regenzinsbesteuerung war die Rede. Einer dauerhaften, jährlichen, besser noch monatlichen Abgabe.
„Überstaatliche Gremien sollten per Dekret die Paradiesländler zwingen, ihre Alpen zu schleifen, damit der Südwind ungehindert die Gegenwindmaschinerie übernehmen kann.“
Alles Ideen, die mangels Durchführbarkeit verworfen wurden. Einzig die Ausschlüsse von Konferenzen und Tagungen und somit auch weltweit von gemeinsamen Beschlüssen waren machbar. Man würde sie einfach abklemmen, trockenlegen, aushungern. Man würde es ihnen schon zeigen, diesen niedlichen, etwas lahmarschigen und wassergierigen Paradiesbewohnern.
Diese glaubten zunächst nicht, was sie zu hören bekamen und erstarrten im Entsetzen. Kreidebleich die Einen, Krebsrot vor Wut die Anderen, sassen sie an ihren Stammtischen, verwarfen Hände und Fäuste, keuchten derbe Flüche und hatten es ja immer schon gewusst:
„Die spinnen, die Preussen!“
Ihre Volksvertreter empörten sich leise, berieten mögliche Zugeständnisse, schlugen separate Abkommen vor, unter anderem auch diskrete Einmalentschädigungen. Gut gemeinte Vorschläge, die aber mit Sicherheit am komplizierten Demokratieverständnis und -verfahren der paradiesischen Bevölkerung scheitern würden. Derweil jammerten die Nordländer:
„Bis euer hinterletzter Bürger seine Zustimmung gibt, sind wir längst verdurstet!“
Bis ein Herr kam, der seinem Namen nach auch gut hätte ein Brückenbauer sein können. Aber er brauchte Wasser für sein Land, paradiesisches Oasenwasser. Nicht mehr und nicht weniger, sondern alles und zwar sofort. Er nahm die Brücke auseinander, die beide Länder bisher verband und warf mit den Steinen um sich, dass die Paradiesler schwindelnd schwarzrotgoldne Sterne sahen. Über seinem dialektfreien Klartext blieb ihnen glatt das ‚Ch’ im Halse stecken. Wie vor Jahren sein Kollege zur Volksbelustigung, begann er lieblich zu singen und dies immer lauter, bis auch die hinterletzten Mattenbewohner verstanden, dass da einer nicht nur lustig ins Horn blies, sondern auch mit der Peitsche knallte und die Rösslein traben liess, um die Pardiesler wie Indianer zu jagen. Schliesslich knirschte er lächelnd mit zusammengebissenen Zähnen: „Jetzt wird gesprengt!“
So geschah es. Unter dem Decknamen Pro Südwind, wurden über Nacht die Wasserreservoire und Talsperren, die Stollen, unterirdischen Kanäle und Rohrleitungen des entzückenden kleinen Landes gesprengt. Sintflutartig wälzten sich die riesigen Wasser- und Geröllmassen über das Paradies und die so sehr begehrten Fluten ergossen sich als ungehemmte Katastrophe über die Grenze.
„Wohin mit all dem Wasser!“, schrien die aufgebrachten Nordländer. Entsetzt sahen sie ihre Deiche brechen. Flüsse traten über die Ufer, Sandsäcke wurden fortgespült, ganze Landstriche ertranken in der aufgewühlten Wasserschwemme des Paradieslandes …
Was blieb? Hier und da ein paar glitzernde Wassertropfen. Der grosse Rest verdampfte an der Sonne, versickerte in verschlammten, brachliegenden Böden, auf denen sich die wenigen Überlebenden prachtvolle Notunterkünfte mit Wellnessanlagen und Schwimmbädern bauten.
Die Regenwolken aber zogen unbehelligt weiterhin ihre wind- und witterungsbedingte Richtung vom Norden zum Süden. Sie blieben an den Bergen hängen, regneten ab, ergossen sich wie eh und je über Felder und Matten und so begannen die Paradiesländler mit dem Wiederaufbau, diesmal allerdings sprengstoffsicherer Talsperren, unterirdischer Stollen, Reservoire, Rohrleitungen und Kanäle. Es dauerte nicht lange, da tanzte, lachte und jodelte dieses putzige Volk wieder in Wasserreichtum und Wohlstand.