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Ordinary World
Ich blicke in die Menge der verzweifelten Gesichter. Kann eine Gesellschaft ohne Zukunft den Verlust ihrer Vergangenheit verkraften?
Unbewusst dachten wir wohl alle, dass der alte Svenson ewig leben würde; und immerhin ist er stolze 125 Jahre alt geworden. Doch was sind gut einhundert Jahre seiner beruhigenden Anwesenheit gegenüber den mehr als fünftausend, die uns auf dieser Reise noch bevorstehen?
Der Park namens Osiris ist eigentlich zu klein, um die Menge der Trauernden aufzunehmen, doch Gedränge ist uns allen bestens vertraut. Die Wächter des Lichts stehen in der ersten Reihe, die Hände in den Ärmeln ihrer Kutten verborgen, die Häupter in Demut gesenkt. Neben ihnen wie üblich die gepanzerten Prätorianer.
Baltasar, der älteste der Wächter, tritt einen Schritt nach vorne. Seine kräftige Stimme konterkariert sein gebrechliches Äußeres. "Meine Freunde! Unser Bruder Svenson ist in die Unendlichkeit gegangen. Er war der letzte Mensch, der noch einen Sonnenaufgang erlebt hat. Berge und Ozeane gesehen hat. Die Hitze des Sommers und die Kälte des Winters gespürt hat.
Sein Geist ist nun ebenso vergangen wie der Planet, doch seine zahllosen Geschichten darüber leben in uns Sternenkindern fort. Und auch wenn es von nun an schwerer fallen mag, dürfen wir eines nie vergessen: Dädalus und der Raum, den er durcheilt, sind nur die vorübergehende Heimat der Menschheit. Wir haben eine Vergangenheit namens Erde und eine Zukunft namens Gaia. Seid euch dessen stets bewusst. Lehrt. Lernt. Hofft. Wir sind die letzten Tausend und die Saat der Zukunft." Er hält einen Moment inne und räuspert sich.
"Meine Geschwister und ich haben die letzten Tage mit Meditation und Diskussionen verbracht. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen ist, mit dem Übergang zu beginnen." Ob es seine Absicht war oder nicht, diese Worte bewirken zumindest, die Erstarrung der Anwesenden zu lösen. Unruhe breitet sich aus.
Der junge Alejandro wagt als erster den Protest. "Warum sollen wir unsere Körper an einen Planeten anpassen, den wir niemals betreten werden? Es sind doch noch Jahrtausende Zeit. Das könnt ihr uns nicht antun!" Die Prätorianer neben Baltasar straffen sich, doch er winkt ab und antwortet Alejandro ruhig. "Ein solcher Übergang braucht viel Zeit, um sich auf die Physionomie und letztlich auf das Erbgut selbst auszuwirken. Es ist notwendig, dass unsere Nachkommen perfekt angepasst sind, wenn sie den Überlebenskampf außerhalb dieser geschützten Umgebung aufnehmen müssen." Alejandro sieht nicht zufrieden aus, doch er erwidert nichts darauf.
Nach einigem Zögern versuche ich es. "Sind wir absolut sicher, dass der diesbezügliche Datensatz korrekt ist? Immerhin sind wir noch über 300 Lichtjahre entfernt ..."
Baltasar blickt mich streng an. "Gerade du müsstest wissen, dass wir Daten wie Tageslänge und Gravitation bereits mit einer Genauigkeit von über 93 Prozent bestimmen können. Deshalb werden wir den schiffsweiten Tag/Nacht Zyklus auf 18/14 Stunden setzen, und die Kineten auf 1.9 g beschleunigen. Dies wird natürlich nicht schlagartig geschehen, sondern über mehrere Monate hinweg."
Noch einige andere versuchen es mit Protest, doch auf jeden Einwand hat Baltasar eine Antwort. Niemand kann einen triftigen Grund nennen, den Übergang einer späteren Generation aufzubürden. Die kalte Logik ist gegen uns.
Langsam zerstreut sich die Menge. Der Park leert sich. Die Gesichter zeigen alte Trauer und frischen Zorn.
Ich bleibe stehen und hänge meinen Gedanken nach. Mehrere Monate also, bis alles fast doppelt so schwer sein wird wie bisher. Insbesondere unsere Körper mitsamt den inneren Organen.
Ich bin so vertieft, dass ich kaum bemerke, dass einer der Prätorianer ebenfalls im Park geblieben ist. Plötzlich stapft er auf mich zu. Das Schwarz seiner insektenartigen Panzerung glänzt im künstlichen Sonnenlicht. Er fasst an die Seite seines Helms. Die Visierplatte klappt nach unten und enthüllt ein vertrautes, freundliches Gesicht. "Hallo Maria", sage ich. "Ich will dir nochmals mein Beileid wünschen."
"Vielen Dank, Indira. Mein Großvater hat immer viel von dir gehalten." Sie lächelt dünn. "Ich glaube sogar, er war ein wenig verknallt in dich."
"Und kaum ist der alte Svenson tot, zählt auch die alte Erde nichts mehr", murmle ich. "Gaia-Zeit, Gaia-Schwerkraft, wahrscheinlich bald Gaia-Früchte."
"Wir werden schwerlich in den Hydro-Kuppeln etwas anbauen können, das wir nicht im entferntesten kennen", lächelt sie. "So leistungsstark sind die Teleskope auch wieder nicht."
"Wie auch immer. Vorhin dachte ich einen Moment lang tatsächlich, ihr Carbonhelden wollt euch auf den armen Alejandro stürzen."
Maria wird wieder ernst. "Indira, du weißt, dass wir keine Unterdrücker sein sollen, sondern Vorbilder an Stärke und Disziplin. Und davon werden wir alle noch sehr viel brauchen. Der ewige Kampf zwischen der Verantwortung zum Erhalt der Spezies und der persönlichen Selbstaufgabe droht verloren zu gehen. Wir Prätorianer und die Wächter können unterstützen, aber unsere Macht ist begrenzt. Ich muss dir leider sagen, dass es zwei versuchte Selbstmorde innerhalb von 48 Stunden nach Großvaters Tod gegeben hat."
Ich erschrecke. In meinen 26 Lebensjahren - nach der Erdzeit gerechnet - hatte es nur wenige unnatürliche Tode gegeben. Ich denke kurz nach. "Maria, bitte sei ehrlich. Wurde der Übergang etwa nur deshalb so früh beschlossen, um uns abzulenken?"
Maria nickt langsam. Sie beugt sich nach unten, um mir ins Ohr zu flüstern. "Sie lenken uns ab, indem sie uns vor eine neue Herausforderung stellen. Die Herausforderung körperlichen Schmerzes." Was für eine Strategie, denke ich erschüttert.
Vier Wochen später. Ich kann kaum mehr schlafen. Der veränderte Tageslicht-Zyklus hat den natürlichen, in Millionen Jahren erlernten Rhythmusgestört, und es hilft nichts, dass mich zwanzig zusätzliche Kilogramm in die Matratze drücken. "Stärke und Disziplin" sind die Worte, die ich mir einzutrichtern versuche. Stärke, um das zusätzliche Gewicht zu tragen; Disziplin, um endlich einschlafen zu können.
Ich will mir nicht vorstellen, wie es mir in den nächsten Wochen bei einer Schwerkraft von 1.9 ergehen wird. Doch Maria hatte Recht: es ist die perfekte Ablenkung. Es hat keine Selbstmordversuche mehr gegeben. Wir haben nun dringendere Probleme als die Melancholie einer verlorenen Generation. Es gibt wieder ein Ziel (neben dem 300 Lichtjahre entfernten): Den Körper zu zwingen, die Veränderung seiner Umwelt durchzustehen. Schmerz - und Wut - sind erstaunlich wirksame Antidepressiva. Es gab noch einige Versuche schwachen Widerstands, der jedesmal durch die Überzeugungskraft der Wächter des Lichts und die Unbezwingbarkeit der Prätorianer schon im Ansatz scheiterte. Stärke und Disziplin.
Acht weitere Wochen. Liegen ist eine Qual. Ebenso das Sitzen oder Stehen. Meist verzichte ich auf jede Art aufrechter Bewegung und krieche durch mein Quartier. Maria habe ich seit Wochen nicht mehr gesehen. Es gibt nichts mehr außer der Schwere. Auch wenn Selbstmord inzwischen wie eine recht verlockende Alternative klingt, ich hätte nicht mehr die Kraft dazu.
Baltasar meldet sich über Lautsprecher. Seine einst kräftige Stimme hat gelitten. "Meine Freunde. Eure Tapferkeit sucht ihresgleichen. Denkt immer daran, dass jedem, den einmal der Mut verlassen möge, meine Tür offen steht.
Nun habe ich eine freudige Nachricht für euch! Die Zeit der stetig wachsenden Qualen ist vorbei. In diesem Moment erreicht die Gravitation einen Wert von 1.9 g. Die Anpassung der Schiffssysteme ist damit abgeschlossen. Mit jeder Woche, die vergeht, werdet ihr euch nun besser und stärker fühlen."
Das ist auch dringend notwendig. In diesem Moment fühle ich mich nämlich so kaputt wie noch nie in meinem Leben. Ich will mir nicht ausmalen, wie es den Kindern und den Alten ergeht. Aber immerhin ist der Gipfel der Qual nun überschritten.
"Können wir reden?" Maria steht vor meiner Tür. Ohne ihre Panzerung ist sie nur einen Kopf größer als ich.
"Sicher." Wir gehen hinein, ich in gebückter Haltung, Maria aufrecht wie ein Bleistift. "Wie machst du das nur?", frage ich und lasse mich auf einen Stuhl fallen, der unter dem Gewicht ächzt. "Ach so, natürlich. Die Disziplin."
Wider Erwarten lächelt sie nicht. "Indira, ich will dich um etwas bitten. Als Planeten-Spezialist hast du doch Zugriff auf sämtliche Gaia-Daten."
"Ja ...?"
Sie senkt die Stimme. "Bei der letzten großen Versammlung - Wächter und Prätorianer gemeinsam - hat Baltasar uns zum überstandenen Übergang des Zeitalters der Terraner zur dem der Gaianer gratuliert. Äskulap und zwei andere haben darauf seltsam reagiert."
"Sie leiden wohl genau wie alle anderen."
"Es wirkte eher so, als müssten sie sich auf die Zunge beißen und als würde der Stuhl unter ihnen in Flammen stehen."
Ich blicke sie erstaunt an. "Du glaubst, die Wächter verschweigen uns etwas?"
"Ja. Und das Naheliegenste ist ein Problem mit den Gaia-Daten."
Ich aktiviere den Computer und rufe die Forschungsergebnisse auf. Auf dem Bildschirm erscheint Gaia in ihrer ganzen Pracht. Sie ist viel grüner, als es die Erde gewesen war. Zwar ist die Visualisierung teilweise spekulativ - wir können nicht sagen, welche Pflanzen dort wachsen, und wie groß der bewaldete Teil genau ist. Doch mich interessieren sowieso mehr die Daten zu Atmosphäre, Wasser, Strahlung, Temperatur, Gravitation. Fünf Stunden lang kämpfen wir uns durch das Material. Werten Spektraldaten aus, sichtbares Spektrum, Infrarot, Lichtablenkung. Analysieren und rechnen.
Erschöpft trinke ich einen Schluck Wasser. "Für mich sieht Gaia nach wie vor recht lebensfreundlich aus, mal von der Schwerkraft abgesehen. Wenn mit dem Planeten etwas nicht stimmen würde, wären wir doch nicht auf die Reise gegangen."
Maria streift sich mit der Hand durch ihre kurzen blonden Haare. "Großvater hat mir die Situation der letzten Jahrzehnte der Erde geschildert. Die Gesellschaft stand vor dem Zusammenbruch. Es musste ein Symbol her. Dädalus war die große Hoffnung und der Stolz der Menschheit. Zweifellos eine unglaubliche technische Leistung, für die fünfzig Prozent der Weltressourcen eingesetzt wurden." Ich nicke; die Geschichte habe ich selbst oft gehört.
"Das Ziel der Reise war nie das ganz große Thema. Viel zu weit enfernt, sowohl räumlich als auch zeitlich. Das Schiff war es, das man in den Nachrichten in Großaufnahme zeigen konnte, und von dem jeder bis zuletzt hoffen konnte, an Bord gehen zu dürfen; selbst wenn die Chance nur bei eins zu neun Millionen lag. Als dieses Symbol schließlich aus dem Erdorbit verschwand und Milliardenvon Totgeweihten zurück ließ, war die Zivilisation am Ende."
"Ich weiß", sage ich. Die aufgezeichneten Übertragungen der letzten Jahre der Erde lassen auf eine Hölle schließen, für deren Bewohner die vernichtenden Feuer der Supernova geradezu erlösend gewirkt haben müssen. "Meinst du, Gaia ist eine Falle?"
"Nein, sie war unter den gegebenen Umständen - Zeitdruck, zu schwache Teleskope - bestimmt die beste Wahl. Aber was bedeutet die beste Wahl in einem derart lebensfeindlichen Universum?"
"Aber was ist es dann genau, das die Wächter verschweigen?"
"Tja, wenn ich das nur wüsste. Jetzt dröhnt mir jedenfalls der Kopf. Was hältst du davon, wenn wir damit ein anderes Mal fortfahren? Immerhin", sagt sie lächelnd, "sind noch 5000 Jahre Zeit, es heraus zu finden."
Monate später habe ich noch immer keine Ahnung, was die Wächter verschweigen, oder ob alles nur Marias Einbildung gewesen ist. Das Leben hat sich etwas normalisiert. Unsere Muskeln sind stärker geworden, ebenso wie Herz und Lunge. Der Alltag ist noch sehr anstrengend, aber keine Qual mehr.
Ich gehe durch den zentralen Korridor. Wie immer bin ich von vielen Leuten umgeben. Ich passiere die Kantine, den Sportraum, die Labors sowie das Krankenrevier, das nun stets ausgelastet ist - gebrochene Knochen, Kreislaufzusammenbrüche und so weiter. Eine Zeit lang bleibe ich vor dem großen Panoramafenster stehen. Die Ausläufer von Apophis sind hier gut zu sehen: der Asteroid, der uns als Energiequelle und Wasserreserve dient. Dahinter die Sterne. Ihr vertrauter Anblick ändert sich nie, und nichts deutet darauf hin, dass wir mit über 20000 Kilometern pro Sekunde durch das All rasen.
Plötzlich spüre ich Aufregung um mich herum. Ich drehe mich um und sehe Alejandro, der von zwei Prätorianern und Nathan, einem Wächter des Lichts, umringt wird.
Nathan versucht auf Alejandro einzureden, doch der lässt sich nicht beruhigen. "Ich weiß, was ich gesehen habe, selbst, wenn ich es nicht vollständig dekodieren konnte. Ihr dürft das nicht geheim halten!" Der ganze Korridor beobachtet mittlerweile die Szene.
"Niemand will etwas geheim halten", sagt Nathan ernst. "Wir glauben nur, was du gesehen hast, war nichts weiter als ein Systemfehler. Komm bitte mit uns in die Versammlungshalle, dann klären wir das."
Widerwillig folgt Alejandro ihm und den Prätorianern. Die Gruppe kommt direkt an mir vorbei. Alejandro blickt mich kurz an. Unvermittelt flüstert er mir ins Ohr: "PST Strich sieben acht null". Dann beeilt er sich, wieder zu den dreien aufzuschließen.
Ich wende mich um. Laufen darf ich nicht, um kein Aufsehen zu erregen. Dennoch weiß ich, dass mir nicht viel Zeit bleibt, bevor der Eintrag, was auch immer sich dahinter verbirgt, gelöscht wird.
Alejandro muss mich bewusst für seine Botschaft ausgewählt haben. Als Hacker weiß er, dass ich über mehr Computerprivilegien als die meisten anderen verfüge. Kaum in meinem Quartier angelangt, suche ich nach dem Code und werde tatsächlich fündig. Doch mit dieser Art Datei habe ich nicht gerechnet.
Wie erwartet befindet sich PST-780 in der Datenbank für elektromagnetische Aufzeichnungen; allerdings handelt es sich um ein Signal im Kurzwellenbereich, das zur Planetenanalyse weitgehend irrelevant ist. Ich sichere die Datei auf meinen lokalen Speicher. Doch der Versuch, sie zu öffnen, scheitert an einer Passwortabfrage. Zum Glück kenne ich jemanden, der mir hier eventuell weiterhelfen kann.
Zehn Minuten später steht Maria in meinem Quartier. "Ein Kurzwellensignal? Was soll das sein?"
"Das wollen wir ja heraus finden. Kennst du das Passwort?"
"Ich kenne ein paar ältere. Vielleicht haben wir Glück und eines davon passt."
Tatsächlich, nach drei Fehlversuchen öffnet sich die Datei und ein Muster erscheint auf dem Display. Es ist auf den ersten Blick sichtbar, dass es sich um kein natürliches Signal handelt, sondern eine Logik dahinter stecken muss.
Maria begreift es zuerst. "Das ist ein frequenzmodulierter Audiostrom. Eine Funknachricht. Und sieh dir das Datum an: sie wurde abgeschickt, nachdem die Supernova die Erde bereits erreicht hatte." Ich starre Maria an.
In diesem Moment öffnet sich die Tür. Baltasar tritt ein. Seine aufrechte Haltung täuscht: Ich weiß, dass er seinen Rücken mit einer Prothese verstärken hat lassen. Doch seine Stimme ist wieder kräftig und klar wie vor der Anpassung. "Meine Schwestern! Wie ich sehe, habt ihr da eine seltsame kleine Sache entdeckt. Wir werden das wieder in Ordnung bringen. Auf sein Nicken hin tritt der Prätorianer, den er mitgebracht hat, auf uns zu. Baltasar fährt fort: "Ich würde euch bitten, die Datei, die ihr offensichtlich rechtzeitig sichern konntet, nun zu löschen. Es handelt sich um nichts weiter als um das Echo einer der letzten Radiosendungen von der Erde, die versehentlich von unserem Computersystem aufgezeichnet wurde."
"Warum wollt ihr sie dann verbergen?", fragt Maria gerade heraus.
"Unnötige Erinnerungen einer verlorenen Zeit. Wenn ihr nun so freundlich wärt."
Wir rühren uns nicht. Baltasar wendet sich an den Prätorianer. "Erledige du das!"
Der Gepanzerte tritt zum Computer, doch Maria versperrt ihm den Weg. "Hör mir zu, Amir! Diese Aufzeichnung ist wichtig für uns, sonst hätten sie keine Angst davor!"
Amir zögert. Seine Stimme klingt gedämpft durch den Helm. "Um ehrlich zu sein, würde ich es auch gerne hören."
Bevor Baltasar regieren kann, drücke ich auf den Wiedergabe-Knopf. Der Raum füllt sich mit Rauschen, doch nach einigen Sekunden ist undeutlich eine Stimme zu hören. Ich verändere einige Parameter, bis die Wiedergabe klar ist. Baltasar starrt mich wütend an.
"...system notdürftig wieder in Gang gesetzt. Mindestens fünf Milliarden tot. Weltweite Ernte verbrannt. Ackerböden vernichtet. Nahrungsmittelreserven streng rationiert. Existenz der Überlebenden vorläufig gesichert. Zukunft des Planeten unsicher. Ich wiederhole: Vollständiger Kataklysmus abgewendet. Kommunikationssystem notdürftig wieder in Gang gesetzt ..." Ich beende die Wiedergabe.
"Die Erde existiert noch." Maria ist die erste, die ihre Worte wieder findet.
"Als trostloses Wüstenland, ja", sagt Baltasar kühl.
"Aber es gab Überlebende! Ihr habt es uns verschwiegen!", rufe ich.
"Meine Schwester. Du weißt so gut wie ich, dass unsere Zukunft auf Gaia liegt. Welchen Sinn hätte es gehabt, euch mit Träumereien über die verlorene Heimat zu quälen? Einer Heimat, die keiner von euch gekannt hat", fügt er hinzu. "Was ändert es, dass es kurz nach der Katastrophe noch einige darbende Überlebende gab? Das ist Jahrzehnte her. Die Geschichten des alten Svenson handelten von einer wunderschönen Welt, nicht von einem verbrannten Ödland."
Amir meldet sich zu Wort. "Gab es noch weitere Übertragungen?"
Baltasar schüttelt den Kopf. "Die ursprünglichen Wächter des Lichts, unsere direkten Vorfahren, kamen überein, die zur Erde gerichtete Empfangsantenne nach der ersten Übertragung abzuschalten."
"Das heißt, niemand weiß über die derzeitige Situation Bescheid", sagt Maria wütend.
"Natürlich tun wir das. Die Situation ist, dass wir uns wie geplant weiter Gaia nähern und uns nicht mit Geschwätz von der Erde aufhalten. Wir müssen uns auf die Zukunft konzentrieren. Seht es ein: Abgesehen davon, dass ein Kurswechsel um 180 Grad immense Energievergeudung und Trägheitsbelastung bedeuten würden - wir wären alle tot, bevor wir die Erde erreichen. Wollt ihr wirklich, dass eure Kinder dann einen verwüsteten Planeten vorfinden?"
"Lieber einen verwüsteten Planeten, als dieses verdammte Gewicht", brumme ich. "Ich sehe nur eine Möglichkeit: wir lassen die Leute entscheiden."
"Nein! Das verbiete ich!"
Ich bleibe standhaft. "Baltasar, wir respektieren dich, aber du hast keine Wahl. Wenn du nicht willst, dass es bekannt wird, wirst du uns drei umbringen müssen, und Alejandro ebenfalls." Einen Moment lang glaube ich tatsächlich, dass sich der gebrechliche Mann auf mich stürzen will, aber dann belässt er es bei einem finsteren Gesichtsdruck.
Eine Woche später. Die tausend Bewohner von Dädalus sind informiert. Alle waren von der Nachricht schockiert. Die meisten sind sich einig, dass die Empfangsantenne wieder aktiviert und versucht werden soll, mit der Erde Kontakt aufzunehmen. Doch auf eine mögliche Antwort müssen wir gut dreißig Jahre warten. Das wird hart werden. Die große Frage ist, was bis dahin geschehen soll.
Eine Minderheit will von der Erde nichts mehr wissen und die Reise fortsetzen. Einige wenige meinen, es sei ihnen egal, wo das Schiff hinfliegt - sie würden die Ankunft sowieso nicht erleben. Ein recht großer Teil will direkt umkehren und auch die Schwerkraft wieder reduzieren.
Fast alle sind sich einig, dass die Wächter des Lichts bestraft werden sollen, und zwar auf die schlimmste Art: Ihre Macht wird ihnen genommen, die sie mehrmals missbraucht haben. Die erste Generation nahm unseren Vorfahren die Chance, zu ihrer Heimat zurück zu kehren, die doch nicht vernichtet worden war. Und es waren Baltasar und seine Geschwister, die diese wichtigste Botschaft, die Dädalus je erhalten hat, weiterhin zurück gehalten haben.
Selbst wenn wir die Reise fortsetzen, wird es große Veränderungen auf dem Generationenschiff namens Dädalus geben.
Maria und ich stehen inmitten der Menge in dem kleinen Park Osiris. Ohne dass wir es gewollt hätten, sind wir zu einer Art Anführerinnen geworden. Die Unsicherheit ist größer denn je, doch die Freiheit zu entscheiden liegt nun endlich bei uns allen. Keine Geheimnisse mehr.
Wir schreiten zu der Abstimmung, deren Ausgang die Zukunft der - vielleicht - letzten Menschen entscheiden wird.