Opferstock
Vor dem Gebäude liegt ein Mann, verwildert, bärtig, verfilzt. Seine Schuhe, Risse, Dreck und Löcher, Sohlen ohne Klebstoff. Seine Hose ein Urinal. Im Gesicht die Zeichen seines Lebens, die Zeichen der Sucht, Zeichen der Aufgabe. Er liegt und atmet, das kann er noch. Ein Bündel voller Stofffetzen neben sich, eine halbleere Flasche Fusel, aufgesammelte Kippenstummel.
Eine Frau und ihr Kind gehen an ihm vorbei, die Mutter sieht ihn nicht einmal. Erst als ihr Sohn auf den Mann zeigt und eine Frage stellt wird sie auf ihn aufmerksam. Sie erklärt mit ein paar Worten was ihr Sohn wissen will, die beiden gehen weiter. Für einen kurzen Moment wirft der Junge einen Blick zurück, in seinen Augen das Mitgefühl eines Kindes.
Im Kopf des Mannes wiederholen sich Bilder. Er, wie er einen zweiten Stock abbricht. Wie er damit fechtet, immer wieder „en garde!“ ruft, wie sein Sohn pariert, wie sie beide lachen. Wie sie nebeneinander sitzen und Muster in ihre Stöcke schnitzen, mit ihren gleichen Taschenmessern. Der Mann liegt auf der Straße und atmet schwer, sein Brustkorb hebt sich, sein Herz schlägt ihm Tränen in die Augen.
Ein paar Jugendliche ziehen vorüber. Sie sind laut, einer versucht den anderen an Lautstärke zu übertreffen. Sie stacheln sich gegenseitig an. Der erste spukt dem Mann auf den Rücken, der zweite spukt ihm ins Gesicht. Sie treten seine Flasche um. Der Mann ist nicht getreten worden. Als die Jugendlichen unter der Eisenbahnunterführung stehen hört man sie grölen.
Die Spucke läuft dem Mann in den Bart, er unternimmt nichts dagegen. Er lässt es einfach geschehen. Hat den Widerstand aufgegeben. Er hat sich verloren.
Es ist Nacht und es ist kalt. Durch die Straßen weht ein eisiger Wind. Der Rettungswagen auf dem Weg. Aus dem Lautsprecher die Nachricht, sie sollen einen Obdachlosen aufnehmen, der liegt schon seit heute Morgen an der gleichen Stelle. Die Sanitäter machen Witze über ihren Beruf, so ist er leichter zu ertragen. Als sie den Mann finden atmen beide durch den Mund. So haben sie es gelernt.
Das Neonlicht im Rettungswagen blendet den Mann. Er kneift die Augen fest aufeinander. Sie stülpen ihm eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase. Er hört sie miteinander sprechen. Er weiß, wie er riecht, er weiß, wie er aussieht, er weiß, was er ist. Er weiß es.
Während diskutiert wird, ob er stationär aufgenommen wird, in diesem Krankenhaus, oder in einem anderen, was der Ambulanzleitung lieber wäre, hört er Erinnerungen. Er streichelt seinem Sohn über die Haare, sie singen ein Gute Nacht Lied. Es fällt herab ein Träumelein. Er wird in ein Zimmer gebracht, ein Pfleger, Handschuhe aus Latex, zieht ihn aus, beginnt ihn zu waschen.
Hinter anderen Türen beraten sich die Helfer. Kirche, Versicherung, Sozialstation, verschiedene Träger. Die Frage nach der Familie. Der Mann, wer ist er? Schwarze Flecken, überall auf dem Rücken. Dunkle Male. Er verzieht keine Miene. Sie haben ihn rasiert, ihm die Haare geschnitten, ihm saubere Wäsche angezogen. Doch sein Anblick bleibt trostlos. Sein Wesen ist verletzt, er gebrochen.
Keine Papiere, keine Identität. Ohne Kooperation keine Hilfe, ohne Sprache, ohne Informationen keine Chance. Eine zierliche Frau schreit ihn an, versucht es mit Lautstärke. Ein dicker Mann droht ihm, droht mit Konsequenzen. Er darf durch Türen, wenn man ihn hineinruft, er muss Türen öffnen, die sich hinter ihm schließen, wenn er wieder hinaus will. Ein Seelsorger berührt ihn am Arm.
Auf der Straße, wieder. Davor hatte seine Mutter immer Angst. Er erinnert sich an sie als eine starke Frau. Sie brachte immer so große Geschenke mit, wenn sie seine Familie besuchte, in den größten Tüten, die die Kaufhäuser zu bieten hatten. Zigarettenrauchen auf dem Balkon, während er mit dem Kleinen die Legos zusammenbaut. Zwei Frauen, und der schwache Mann.
Der Mann will gar kein Geld. Der Mann wird nicht betteln. Der Mann hat keinerlei Antrieb mehr, ein Wurm hat sich in seinen Kopf gefressen und ihm den Antrieb geraubt. Der Mann will nicht sterben. Aber er kann auch nicht leben. Sie haben im zweiten Stock gewohnt. Das ist schon einige Jahre her.
Mit einem Nagel, er hat ihn an einer Baustelle auf dem Boden entdeckt, ritzt er Initialen auf eine Wand. Er ist dünn, er muss sich anstrengen, um etwas Oberfläche abzuschaben. Überall in der Stadt finden sich diese Buchstaben. Er, in guten Momenten, glaubt, dass so etwas über bleibt, dass so etwas nicht ganz verschwindet, Bestand hat, ihm einen Griff, einen Halt gibt. Hand in Hand durch das Maisfeld gelaufen, dann der Junge auf seinen Schultern.
Eine Sozialarbeiterin hat etwas ausfindig gemacht. Eine Akte gefunden. Zufällig ein Foto entdeckt. Ist dadurch auf einen Namen gestoßen. Jetzt ist ihre Maschine in Gang gesetzt, ihre Neugierde und ihr Beruf, sie greifen Hand in Hand, die ganze Geschichte soll sich ihr auftun. Sie braucht einen Ansatz. Sie gibt den Mann nicht auf, auch wenn er es schon längst getan hat. Doch wo ist er?
Er liegt wieder. Sie stehen über ihm, einer tritt ihm gegen den Schädel.
Der Mann wacht auf. Jemand hat ihm die Schuhe gestohlen. Das ist das erste, was er bemerkt. Sein Körper schmerzt. Er befühlt seinen Kopf, er muss geblutet haben, Blutkrusten auf der Kopfhaut. Er will sich hinstellen, kann sich aber nur setzen, ihm ist schwindelig. Ihm ist kalt. Nach ein paar Minuten die ersten Schritte, er will hier weg, geht los, geht weiter.
Auf dem Bürgersteig liegt ein Stock. Er nimmt ihn, schwingt ihn durch die Luft. Der Mann mit dem Stock. Das gefällt ihm. Es ist wärmer geworden.
Die Taxifahrer lehnen an ihren Wagen, sie rauchen und reden. Der Mann geht an ihnen vorbei. Einer ruft einen Namen. Der Mann stützt sich auf seinen Stock, es ist ein guter Stock. Als der Taxifahrer vor ihm steht berühren sich Welt und Erinnerung. Der Mann soll hier warten, zwei Stunden, dann ist die Schicht vorbei. Dann will ihn der Taxifahrer mitnehmen. Der Taxifahrer nennt ihn Stephan.
Scham. Er sitzt auf der Bank am Taxistand und empfindet sie. Mit dem Nagel schnitzt er an seinem Stock herum. Muster, Wellen, Buchstaben. Zwischendurch betrachtet er seine Hände. Sie sind wieder schmutzig, dreckige alte Hände. Die Menschen strömen aus den Büros, Anzüge und Kostüme gehen an ihm vorbei. Er wartet. Er versucht es. Zum ersten Mal seit langer Zeit will er schreien.
Ein Geldstück landet vor seinen Füßen. Zwanzig Cent.
Seine Lippen eine gesperrte Brücke, seine Zähne ein Schutzwall, seine Zunge ein gestrandeter, verendeter Wal. Er hat sich geschworen nie wieder zu sprechen, nie wieder. Sein letzter Satz: Kommst Du bitte, das Essen ist fertig. Danach der Alptraum, mit dem Sturz. Schmerzen lassen ihn seitdem am Leben. Er hat Narben an den Knöcheln. Jede Narbe ein Schlag gegen etwas. Er steht auf und geht los.
Ein Gewitter zieht auf, Mütter sammeln ihre Kinder ein, auf dem Spielplatz die Spuren des Tages. Seine Füße im Sand, als die ersten Tropfen fallen. Ein rotes Förmchen, die Form eines Seepferdchens, er gräbt es mit seinem Stock aus. Enten fliegen vorüber, tief. Paarungszeit. Hier bin ich schon einmal gewesen, denkt der Mann. Er stellt sich unter die Hängebrücke aus Holz und wartet auf die Dunkelheit.
Der Mann weint.
Auf einer Litfaßsäule die Werbung für Familienurlaub, der Vater und die Mutter wirbeln ihr Kind zwischen sich in die Höhe, im Hintergrund das Meer. Weiße Zähne, sonnengebräunte Körper, Schönheitsideal. Darunter ein Plakat vom Schauspielhaus, Camus wird aufgeführt, Belagerungszustand. Als der Regen verebbt, fallen kleine Tränen in den Sand.
Der Mann sitzt auf einer Mauer, es ist morgen, er hat die Nacht in einem Gebüsch verbracht. Mücken haben ihn gestochen. Aber er hat lange geschlafen. Er verspürt Hunger, gestern hat er nichts gegessen. Er hat von sich geträumt, wie er immer einschlief, auf dem Sofa im Wohnzimmer, wie er Bier verschüttet hat und davon aufwachte. Wie ihn tappsende Schritte weckten, im Flur, wenn ein Traum ein schlechter Traum war.
Er vermisst seinen Sohn so sehr. Sein Gesicht zieht sich zusammen, ein Grimasse des Schmerzes.
Zuerst findet er seinen Stock nicht wieder, er muss suchen, bis er ihn findet. Er liegt immer noch gut in der Hand. Auf dem Boden liegt ein Bleistift, kleine kämpfende Roboter darauf, muss ein Kind verloren haben, denkt der Mann. Er nimmt ihn auf und steckt ihn in seine Hosentasche. Er verlässt den Spielplatz, die Kirchturmglocken läuten in den Morgen.
Er trinkt einen Schluck Leitungswasser, dann kommt jemand und sagt ihm, er müsse sofort verschwinden, hier dürfe er nicht bleiben, er habe hier nichts zu suchen, wenn er kein Geld habe und sich nichts kaufen würde und man sagt ihm, er stinke und dann kommen noch ein paar Beleidigungen dazu, also geht er hinaus und ist wieder auf der Straße.
Im Park findet er eine Tüte mit alten Brötchen, Entenbrot. Nicht alle sind verschimmelt, er isst, was essbar ist. Um sich die schnatternden Enten. Die Wiese ist noch feucht, er setzt sich auf eine Bank und schaut dem Wasser zu, der Wind malt seine Muster auf die Wasseroberfläche, Blätter treiben darin, Bläschen steigen empor, das Geräusch von Fahrradfahrern auf dem Radweg hinter ihm.
Seine Frau, er denkt an sie, er hat sie seit langer Zeit nicht gesehen. Sie konnte seinen Schmerz nicht heilen, ihr eigener Schmerz zu groß. Anklagen, Beschuldigungen, sie konnte nicht verstehen, warum er nicht mehr sprechen konnte, nie wieder sprechen wollte. Sie musste schreien. Sie nahmen sich nie in den Arm. Blut stand zwischen ihnen, trat aus seinem kleinen Kopf.
Mit dem Bleistift schreibt er eine Zeile auf die Parkbank. Es ist die erste Zeile.
Die Sozialarbeiterin auf dem Weg nach Hause. Der Taxifahrer mit einem Kunden im Berufsverkehr. Sie denken an ihn, hin und wieder. Den Mann, Stephan.
Zuerst muss er immer wieder zu dieser Bank kommen. Kann man den Satz nicht mehr lesen, schreibt er ihn erneut darüber. Dann fällt ihm der Nagel ein, er ritzt jetzt den Satz ins Holz. Er hat seine Aufgabe, er muss diesen Satz beleben. Er beginnt, ihn an anderen Orten in Bänke zu ritzen. Er baut sich eine Route auf, eine Route zu diesem Satz. Er merkt es nicht, aber er beginnt wieder zu leben.
Sein Bart ist wieder lang geworden. Seine Haare auch. Er hat verschiedene Stifte in seiner Tasche, er hat Nägel in seiner Tasche, er läuft mit seinem Stock durch die Stadt. Es gibt ihn nicht, diesen einen Moment, der ihn veränderte. Keine geheilte Zeit, kein Auslöser, kein Schockerlebnis. Ameisen klettern über seine Füße, wenn er im Gras sitzt und nachdenkt.
Es folgen weitere Sätze.
Mit dicken Stiften schreibt er nachts auf Plakatwände. Er schreibt auf Werbebroschüren, er schreibt auf Klingelschilder, er schreibt auf LKW-Anhänger. Er hat einen Weg gefunden, wieder zu sprechen. Das hält die Tränen nicht ab, das macht seine Träume nicht weniger schlecht, das nimmt ihm nicht den Schmerz. Aber er liegt nicht mehr auf der Straße, wird nicht mehr bespuckt und getreten.
Dann das Foto. Der Mann sieht sich in der Zeitung. Er schreibt auf eine Motorhaube. Sein Stock gegen den Kotflügel gelehnt. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen. In dem Artikel die Frage, wer diesen Mann kennt. Worte wie Sachbeschädigung, Schmiererei, Polizei. „Ich habe zugelassen, dass meine Unaufmerksamkeit mein Kind tötet.“ In großen Lettern, auf Seite 5.
Er lacht. Er lacht so laut, dass es ihn erschrickt. Er kann nicht mehr aufhören, mit dem Lachen. Ihm tut der Bauch weh. Er muss sich setzen. Jemand hält ihm eine Flasche zu trinken hin, er nimmt einen tiefen Schluck. Er sagt danke. Neben ihm sitzt ein Obdachloser, er muss sich eben erst gesetzt haben. Bevor der Obdachlose etwas zu ihm sagen kann, ist der Mann schon aufgestanden, das Klicken seines Stocks auf dem Beton.
Sein erstes Wort. Danke. Der Mann kann es nicht fassen. Er ist aufgewühlt und rastlos, er zieht durch die Straßen, tagelang. Es ist Sommer geworden, die Nächte sind warm. Ellie starb auch im Sommer. Seine kleinen Hände, er war gerade in die Schule gekommen, er konnte schon schreiben, er war ein kluges Kind. Der Mann ritzt sich mit einem Nagel Ellies Namen in den Unterarm. Es sind tiefe Schnitte. Der Alkohol des Obdachlosen macht ihn wahnsinnig.
Mit seinem Stock schlägt der Mann auf einen Mülleimer ein, es scheppert in die Nacht. Er hat getrunken, er kann sich seine Worte nicht verzeihen. Ein Pärchen geht vorüber, sie schauen ihn beide an, er blutet am linken Unterarm. Und von den Knöcheln her auch, er hat gegen Bäume und Parkbänke und Spielgeräte gehauen. Es dauert Tage, bis er sich wieder fängt.
Am Taxistand reden die Fahrer über Stephan. Er wird der Straßenpoet genannt. Zeitungen und Fernsehen wollen ihn finden. Ein Student hat über ihn geschrieben, über die Arbeit des Mannes von der Straße, über das Gewicht seiner Worte, über den Zeitgeist, die Struktur. Man findet ein Muster in der Arbeit des Mannes. Die Taxifahrer sagen, der Taxifahrer solle über Stephan sprechen. Etwas Geld rausholen.
Dann die letzte Nacht. Der Mann schreibt seine Sätze an eine Mauer. Sie kommen von hinten. Sie schlagen ihn. Er fällt. Sie treten ihn. Wieder und wieder. Sie zerbrechen seinen Stock. Die Kappe seines Stiftes im Dreck. Sein Stift im Bordstein. Die Laterne ist defekt. Die nächsten Wohnungen weit, Industriegebiet.
Die Sozialarbeiterin meldet ihrem Chef, dass sie schwanger ist. Der freut sich darüber nicht, denn nun muss er eine Vertretung für sie finden. Er gratuliert ihr, lässt sich nichts anmerken.
Unsere Zeit mag keine Kinder, denn aus ihnen werden Monster. Die Monster unserer Zeit sind wir, den wir beachten nicht unsere Kinder. Unsere Kinder leben mit dem Monster der Zeit.
Susanne P. weint um ihren Mann. Er wurde ermordet. Vermutlich mehrere Täter. Stephan P. lebte als Obdachloser seit fünf Jahren in Düsseldorf. Seit dem tragischen Unfalltod ihres Sohnes Elias galt Stephan P. als vermisst. Man glaubt, dass es sich bei P. um den sogenannten Straßenpoeten handelt. Archivfoto.
Schritte in den Straßen. Es ist spät, die Bahnen fahren nicht mehr. Vereinzelt ein Tier zu hören. Die Schritte kommen näher. Vor dem Schuhgeschäft ist es heller. Eigentlich bin ich nicht ängstlich, aber ich habe Angst, Angst, dass ich ein Opfer werden könnte. Ein Opfer der Zeit, ein Opfer der Zeit. An der Wand steht etwas, ich kann es nicht lesen, ich gehe schnell nach Hause.