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Opferstock

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10.02.2010
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Opferstock

Vor dem Gebäude liegt ein Mann, verwildert, bärtig, verfilzt. Seine Schuhe, Risse, Dreck und Löcher, Sohlen ohne Klebstoff. Seine Hose ein Urinal. Im Gesicht die Zeichen seines Lebens, die Zeichen der Sucht, Zeichen der Aufgabe. Er liegt und atmet, das kann er noch. Ein Bündel voller Stofffetzen neben sich, eine halbleere Flasche Fusel, aufgesammelte Kippenstummel.

Eine Frau und ihr Kind gehen an ihm vorbei, die Mutter sieht ihn nicht einmal. Erst als ihr Sohn auf den Mann zeigt und eine Frage stellt wird sie auf ihn aufmerksam. Sie erklärt mit ein paar Worten was ihr Sohn wissen will, die beiden gehen weiter. Für einen kurzen Moment wirft der Junge einen Blick zurück, in seinen Augen das Mitgefühl eines Kindes.

Im Kopf des Mannes wiederholen sich Bilder. Er, wie er einen zweiten Stock abbricht. Wie er damit fechtet, immer wieder „en garde!“ ruft, wie sein Sohn pariert, wie sie beide lachen. Wie sie nebeneinander sitzen und Muster in ihre Stöcke schnitzen, mit ihren gleichen Taschenmessern. Der Mann liegt auf der Straße und atmet schwer, sein Brustkorb hebt sich, sein Herz schlägt ihm Tränen in die Augen.

Ein paar Jugendliche ziehen vorüber. Sie sind laut, einer versucht den anderen an Lautstärke zu übertreffen. Sie stacheln sich gegenseitig an. Der erste spukt dem Mann auf den Rücken, der zweite spukt ihm ins Gesicht. Sie treten seine Flasche um. Der Mann ist nicht getreten worden. Als die Jugendlichen unter der Eisenbahnunterführung stehen hört man sie grölen.

Die Spucke läuft dem Mann in den Bart, er unternimmt nichts dagegen. Er lässt es einfach geschehen. Hat den Widerstand aufgegeben. Er hat sich verloren.

Es ist Nacht und es ist kalt. Durch die Straßen weht ein eisiger Wind. Der Rettungswagen auf dem Weg. Aus dem Lautsprecher die Nachricht, sie sollen einen Obdachlosen aufnehmen, der liegt schon seit heute Morgen an der gleichen Stelle. Die Sanitäter machen Witze über ihren Beruf, so ist er leichter zu ertragen. Als sie den Mann finden atmen beide durch den Mund. So haben sie es gelernt.

Das Neonlicht im Rettungswagen blendet den Mann. Er kneift die Augen fest aufeinander. Sie stülpen ihm eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase. Er hört sie miteinander sprechen. Er weiß, wie er riecht, er weiß, wie er aussieht, er weiß, was er ist. Er weiß es.

Während diskutiert wird, ob er stationär aufgenommen wird, in diesem Krankenhaus, oder in einem anderen, was der Ambulanzleitung lieber wäre, hört er Erinnerungen. Er streichelt seinem Sohn über die Haare, sie singen ein Gute Nacht Lied. Es fällt herab ein Träumelein. Er wird in ein Zimmer gebracht, ein Pfleger, Handschuhe aus Latex, zieht ihn aus, beginnt ihn zu waschen.

Hinter anderen Türen beraten sich die Helfer. Kirche, Versicherung, Sozialstation, verschiedene Träger. Die Frage nach der Familie. Der Mann, wer ist er? Schwarze Flecken, überall auf dem Rücken. Dunkle Male. Er verzieht keine Miene. Sie haben ihn rasiert, ihm die Haare geschnitten, ihm saubere Wäsche angezogen. Doch sein Anblick bleibt trostlos. Sein Wesen ist verletzt, er gebrochen.

Keine Papiere, keine Identität. Ohne Kooperation keine Hilfe, ohne Sprache, ohne Informationen keine Chance. Eine zierliche Frau schreit ihn an, versucht es mit Lautstärke. Ein dicker Mann droht ihm, droht mit Konsequenzen. Er darf durch Türen, wenn man ihn hineinruft, er muss Türen öffnen, die sich hinter ihm schließen, wenn er wieder hinaus will. Ein Seelsorger berührt ihn am Arm.

Auf der Straße, wieder. Davor hatte seine Mutter immer Angst. Er erinnert sich an sie als eine starke Frau. Sie brachte immer so große Geschenke mit, wenn sie seine Familie besuchte, in den größten Tüten, die die Kaufhäuser zu bieten hatten. Zigarettenrauchen auf dem Balkon, während er mit dem Kleinen die Legos zusammenbaut. Zwei Frauen, und der schwache Mann.

Der Mann will gar kein Geld. Der Mann wird nicht betteln. Der Mann hat keinerlei Antrieb mehr, ein Wurm hat sich in seinen Kopf gefressen und ihm den Antrieb geraubt. Der Mann will nicht sterben. Aber er kann auch nicht leben. Sie haben im zweiten Stock gewohnt. Das ist schon einige Jahre her.

Mit einem Nagel, er hat ihn an einer Baustelle auf dem Boden entdeckt, ritzt er Initialen auf eine Wand. Er ist dünn, er muss sich anstrengen, um etwas Oberfläche abzuschaben. Überall in der Stadt finden sich diese Buchstaben. Er, in guten Momenten, glaubt, dass so etwas über bleibt, dass so etwas nicht ganz verschwindet, Bestand hat, ihm einen Griff, einen Halt gibt. Hand in Hand durch das Maisfeld gelaufen, dann der Junge auf seinen Schultern.

Eine Sozialarbeiterin hat etwas ausfindig gemacht. Eine Akte gefunden. Zufällig ein Foto entdeckt. Ist dadurch auf einen Namen gestoßen. Jetzt ist ihre Maschine in Gang gesetzt, ihre Neugierde und ihr Beruf, sie greifen Hand in Hand, die ganze Geschichte soll sich ihr auftun. Sie braucht einen Ansatz. Sie gibt den Mann nicht auf, auch wenn er es schon längst getan hat. Doch wo ist er?

Er liegt wieder. Sie stehen über ihm, einer tritt ihm gegen den Schädel.

Der Mann wacht auf. Jemand hat ihm die Schuhe gestohlen. Das ist das erste, was er bemerkt. Sein Körper schmerzt. Er befühlt seinen Kopf, er muss geblutet haben, Blutkrusten auf der Kopfhaut. Er will sich hinstellen, kann sich aber nur setzen, ihm ist schwindelig. Ihm ist kalt. Nach ein paar Minuten die ersten Schritte, er will hier weg, geht los, geht weiter.

Auf dem Bürgersteig liegt ein Stock. Er nimmt ihn, schwingt ihn durch die Luft. Der Mann mit dem Stock. Das gefällt ihm. Es ist wärmer geworden.

Die Taxifahrer lehnen an ihren Wagen, sie rauchen und reden. Der Mann geht an ihnen vorbei. Einer ruft einen Namen. Der Mann stützt sich auf seinen Stock, es ist ein guter Stock. Als der Taxifahrer vor ihm steht berühren sich Welt und Erinnerung. Der Mann soll hier warten, zwei Stunden, dann ist die Schicht vorbei. Dann will ihn der Taxifahrer mitnehmen. Der Taxifahrer nennt ihn Stephan.

Scham. Er sitzt auf der Bank am Taxistand und empfindet sie. Mit dem Nagel schnitzt er an seinem Stock herum. Muster, Wellen, Buchstaben. Zwischendurch betrachtet er seine Hände. Sie sind wieder schmutzig, dreckige alte Hände. Die Menschen strömen aus den Büros, Anzüge und Kostüme gehen an ihm vorbei. Er wartet. Er versucht es. Zum ersten Mal seit langer Zeit will er schreien.

Ein Geldstück landet vor seinen Füßen. Zwanzig Cent.

Seine Lippen eine gesperrte Brücke, seine Zähne ein Schutzwall, seine Zunge ein gestrandeter, verendeter Wal. Er hat sich geschworen nie wieder zu sprechen, nie wieder. Sein letzter Satz: Kommst Du bitte, das Essen ist fertig. Danach der Alptraum, mit dem Sturz. Schmerzen lassen ihn seitdem am Leben. Er hat Narben an den Knöcheln. Jede Narbe ein Schlag gegen etwas. Er steht auf und geht los.

Ein Gewitter zieht auf, Mütter sammeln ihre Kinder ein, auf dem Spielplatz die Spuren des Tages. Seine Füße im Sand, als die ersten Tropfen fallen. Ein rotes Förmchen, die Form eines Seepferdchens, er gräbt es mit seinem Stock aus. Enten fliegen vorüber, tief. Paarungszeit. Hier bin ich schon einmal gewesen, denkt der Mann. Er stellt sich unter die Hängebrücke aus Holz und wartet auf die Dunkelheit.

Der Mann weint.

Auf einer Litfaßsäule die Werbung für Familienurlaub, der Vater und die Mutter wirbeln ihr Kind zwischen sich in die Höhe, im Hintergrund das Meer. Weiße Zähne, sonnengebräunte Körper, Schönheitsideal. Darunter ein Plakat vom Schauspielhaus, Camus wird aufgeführt, Belagerungszustand. Als der Regen verebbt, fallen kleine Tränen in den Sand.

Der Mann sitzt auf einer Mauer, es ist morgen, er hat die Nacht in einem Gebüsch verbracht. Mücken haben ihn gestochen. Aber er hat lange geschlafen. Er verspürt Hunger, gestern hat er nichts gegessen. Er hat von sich geträumt, wie er immer einschlief, auf dem Sofa im Wohnzimmer, wie er Bier verschüttet hat und davon aufwachte. Wie ihn tappsende Schritte weckten, im Flur, wenn ein Traum ein schlechter Traum war.

Er vermisst seinen Sohn so sehr. Sein Gesicht zieht sich zusammen, ein Grimasse des Schmerzes.

Zuerst findet er seinen Stock nicht wieder, er muss suchen, bis er ihn findet. Er liegt immer noch gut in der Hand. Auf dem Boden liegt ein Bleistift, kleine kämpfende Roboter darauf, muss ein Kind verloren haben, denkt der Mann. Er nimmt ihn auf und steckt ihn in seine Hosentasche. Er verlässt den Spielplatz, die Kirchturmglocken läuten in den Morgen.

Er trinkt einen Schluck Leitungswasser, dann kommt jemand und sagt ihm, er müsse sofort verschwinden, hier dürfe er nicht bleiben, er habe hier nichts zu suchen, wenn er kein Geld habe und sich nichts kaufen würde und man sagt ihm, er stinke und dann kommen noch ein paar Beleidigungen dazu, also geht er hinaus und ist wieder auf der Straße.

Im Park findet er eine Tüte mit alten Brötchen, Entenbrot. Nicht alle sind verschimmelt, er isst, was essbar ist. Um sich die schnatternden Enten. Die Wiese ist noch feucht, er setzt sich auf eine Bank und schaut dem Wasser zu, der Wind malt seine Muster auf die Wasseroberfläche, Blätter treiben darin, Bläschen steigen empor, das Geräusch von Fahrradfahrern auf dem Radweg hinter ihm.

Seine Frau, er denkt an sie, er hat sie seit langer Zeit nicht gesehen. Sie konnte seinen Schmerz nicht heilen, ihr eigener Schmerz zu groß. Anklagen, Beschuldigungen, sie konnte nicht verstehen, warum er nicht mehr sprechen konnte, nie wieder sprechen wollte. Sie musste schreien. Sie nahmen sich nie in den Arm. Blut stand zwischen ihnen, trat aus seinem kleinen Kopf.

Mit dem Bleistift schreibt er eine Zeile auf die Parkbank. Es ist die erste Zeile.

Die Sozialarbeiterin auf dem Weg nach Hause. Der Taxifahrer mit einem Kunden im Berufsverkehr. Sie denken an ihn, hin und wieder. Den Mann, Stephan.

Zuerst muss er immer wieder zu dieser Bank kommen. Kann man den Satz nicht mehr lesen, schreibt er ihn erneut darüber. Dann fällt ihm der Nagel ein, er ritzt jetzt den Satz ins Holz. Er hat seine Aufgabe, er muss diesen Satz beleben. Er beginnt, ihn an anderen Orten in Bänke zu ritzen. Er baut sich eine Route auf, eine Route zu diesem Satz. Er merkt es nicht, aber er beginnt wieder zu leben.

Sein Bart ist wieder lang geworden. Seine Haare auch. Er hat verschiedene Stifte in seiner Tasche, er hat Nägel in seiner Tasche, er läuft mit seinem Stock durch die Stadt. Es gibt ihn nicht, diesen einen Moment, der ihn veränderte. Keine geheilte Zeit, kein Auslöser, kein Schockerlebnis. Ameisen klettern über seine Füße, wenn er im Gras sitzt und nachdenkt.

Es folgen weitere Sätze.

Mit dicken Stiften schreibt er nachts auf Plakatwände. Er schreibt auf Werbebroschüren, er schreibt auf Klingelschilder, er schreibt auf LKW-Anhänger. Er hat einen Weg gefunden, wieder zu sprechen. Das hält die Tränen nicht ab, das macht seine Träume nicht weniger schlecht, das nimmt ihm nicht den Schmerz. Aber er liegt nicht mehr auf der Straße, wird nicht mehr bespuckt und getreten.

Dann das Foto. Der Mann sieht sich in der Zeitung. Er schreibt auf eine Motorhaube. Sein Stock gegen den Kotflügel gelehnt. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen. In dem Artikel die Frage, wer diesen Mann kennt. Worte wie Sachbeschädigung, Schmiererei, Polizei. „Ich habe zugelassen, dass meine Unaufmerksamkeit mein Kind tötet.“ In großen Lettern, auf Seite 5.

Er lacht. Er lacht so laut, dass es ihn erschrickt. Er kann nicht mehr aufhören, mit dem Lachen. Ihm tut der Bauch weh. Er muss sich setzen. Jemand hält ihm eine Flasche zu trinken hin, er nimmt einen tiefen Schluck. Er sagt danke. Neben ihm sitzt ein Obdachloser, er muss sich eben erst gesetzt haben. Bevor der Obdachlose etwas zu ihm sagen kann, ist der Mann schon aufgestanden, das Klicken seines Stocks auf dem Beton.

Sein erstes Wort. Danke. Der Mann kann es nicht fassen. Er ist aufgewühlt und rastlos, er zieht durch die Straßen, tagelang. Es ist Sommer geworden, die Nächte sind warm. Ellie starb auch im Sommer. Seine kleinen Hände, er war gerade in die Schule gekommen, er konnte schon schreiben, er war ein kluges Kind. Der Mann ritzt sich mit einem Nagel Ellies Namen in den Unterarm. Es sind tiefe Schnitte. Der Alkohol des Obdachlosen macht ihn wahnsinnig.

Mit seinem Stock schlägt der Mann auf einen Mülleimer ein, es scheppert in die Nacht. Er hat getrunken, er kann sich seine Worte nicht verzeihen. Ein Pärchen geht vorüber, sie schauen ihn beide an, er blutet am linken Unterarm. Und von den Knöcheln her auch, er hat gegen Bäume und Parkbänke und Spielgeräte gehauen. Es dauert Tage, bis er sich wieder fängt.

Am Taxistand reden die Fahrer über Stephan. Er wird der Straßenpoet genannt. Zeitungen und Fernsehen wollen ihn finden. Ein Student hat über ihn geschrieben, über die Arbeit des Mannes von der Straße, über das Gewicht seiner Worte, über den Zeitgeist, die Struktur. Man findet ein Muster in der Arbeit des Mannes. Die Taxifahrer sagen, der Taxifahrer solle über Stephan sprechen. Etwas Geld rausholen.

Dann die letzte Nacht. Der Mann schreibt seine Sätze an eine Mauer. Sie kommen von hinten. Sie schlagen ihn. Er fällt. Sie treten ihn. Wieder und wieder. Sie zerbrechen seinen Stock. Die Kappe seines Stiftes im Dreck. Sein Stift im Bordstein. Die Laterne ist defekt. Die nächsten Wohnungen weit, Industriegebiet.

Die Sozialarbeiterin meldet ihrem Chef, dass sie schwanger ist. Der freut sich darüber nicht, denn nun muss er eine Vertretung für sie finden. Er gratuliert ihr, lässt sich nichts anmerken.

Unsere Zeit mag keine Kinder, denn aus ihnen werden Monster. Die Monster unserer Zeit sind wir, den wir beachten nicht unsere Kinder. Unsere Kinder leben mit dem Monster der Zeit.

Susanne P. weint um ihren Mann. Er wurde ermordet. Vermutlich mehrere Täter. Stephan P. lebte als Obdachloser seit fünf Jahren in Düsseldorf. Seit dem tragischen Unfalltod ihres Sohnes Elias galt Stephan P. als vermisst. Man glaubt, dass es sich bei P. um den sogenannten Straßenpoeten handelt. Archivfoto.

Schritte in den Straßen. Es ist spät, die Bahnen fahren nicht mehr. Vereinzelt ein Tier zu hören. Die Schritte kommen näher. Vor dem Schuhgeschäft ist es heller. Eigentlich bin ich nicht ängstlich, aber ich habe Angst, Angst, dass ich ein Opfer werden könnte. Ein Opfer der Zeit, ein Opfer der Zeit. An der Wand steht etwas, ich kann es nicht lesen, ich gehe schnell nach Hause.

 

Hallo Tierwater!

Man sollte Vorurteile weder gegen Obdachlose, noch gegen Texte die holprig anfangen haben. Erst nach der ersten Hälfte fand ich, wurde dein Text interessant. "Oh Mann, noch so eine Arme-Penner geschichte die den moralischen Zeigefinger gegen den Leser erhebt", war mein Gedanke. Dann fand ich, wurde es jedoch ganz spannend, wenn manchmal sprachlich nicht optimal.
Auch die Form (konkret, die vielen Absätze), die bei mir als erstes eine Ablehnungshaltung auslösten, erschienen mir am Ende nur sinnvoll.

Vor dem Gebäude liegt ein Mann, verwildert, bärtig, verfilzt. Seine Schuhe, Risse, Dreck und Löcher, Sohlen ohne Klebstoff. Seine Hose ein Urinal. Im Gesicht die Zeichen seines Lebens, die Zeichen der Sucht, Zeichen der Aufgabe. Er liegt und atmet, das kann er noch. Ein Bündel voller Stofffetzen neben sich, eine halbleere Flasche Fusel, aufgesammelte Kippenstummel.
Das scheppert alles. Vor welchem Gebäude?
"Das kann er noch", klingt nach Kindersprache.
"Ein Bündel voller Stofffetzen neben sich", meinst du, dass das Bündel neben ihm liegt, oder er das Stofffetzenbündel ist, dass neben sich steht? Ersteres wahrscheinlich, klingt aber missverständlich.
"Aufgabe" dafür würde ich vielleicht Selbstaufgabe nehmen, sonst kann man das auch wie (Test-)Aufgabe verstehen. Also, wenn du diese Zweideutigkeit, vielleicht die Aufgabe des Lebens, als zu bestehender Test und das Auhörenwollen zu leben, nicht drin haben willst. Also ich bin da mit den GEdanken abgeschweift, und musste überlegen, wie du das meinst.
Auch die Aufzählung im zweiten Satz, müsste doch nach "seine Schuhe" einen Doppelpunkt statt Komma haben, oder? "Seine Schuhe: Risse, Dreck ... (So würde ich das machen, bin mir da aber nicht hundert pro sicher)

Als erster Absatz ist das halt echt nicht gerade der Aufhänger. Wie wäre es denn mit einer Traumsequenz von seinem Sohn, der ja als Motiv den ganzen Text macht? Dann erwacht er, und sieht einem kleinen Jungen in die Augen, der Leser ist so orientierungslos wie der erwachte Mann, und bekommt erst danach klar gemacht, was Sache ist.

Er, wie er einen zweiten Stock abbricht.
Da hätten wir auch orientierungslosigkiet, aber an der falschen Stelle eingesetzt, finde ich. Wir haben nie von einem ersten Stock gehört, plötzlich sind da zwei. Du leitest das mit Bildern ein, dann beschreib die doch so, dass der Leser auch welche bekommt. Oder bring auch gleich wieder den Sohn rein, Einleitung mit Bildern im Kopf.... Sohn neben ihm mit einem Stock wartend, wie Er einen weiteren Stock vom Baum abbricht...
Nach dem Schema vielleicht.

der zweite spukt ihm ins Gesicht
spucken

Als die Jugendlichen unter der Eisenbahnunterführung stehen hört man sie grölen.
Komma zwischen stehen und hört
Hast noch ein paar mehr Kommafehler, geh das noch mal durch.

Es ist Nacht und es ist kalt.
Dein Text hat kurze Sätze, das tut ihm gut. Aber diesen kannst du auch noch "vereinfachen"Mach doch, "die Nacht ist kalt" draus.
Hier das Gleiche:
Während diskutiert wird, ob er stationär aufgenommen wird, in diesem Krankenhaus, oder in einem anderen, was der Ambulanzleitung lieber wäre, hört er Erinnerungen.
Es wird diskutiert. Stationär? In welchem Krankenhaus? Der Mann hört nichts. Nur Erinnerungen.
Mach das noch an andren Stellen, die kurzen Sätze passten dann auch hervorragend zu den vielen, kurzen Absätzen. Das vermittelt mir ein Gefühl für die Tage des Obdachlosen. Bei so einem Leben verliert man bestimmt irgendwie sein Zeitgefühl. Zwischen Schlaf und Suff werden die Tage sicher kurz. Man könnte auch sagen, dass sie für wen, der nichts zu tun hat lang sind, aber ich denke, in diesem Fall nicht für diesen Mann hier.

Noch ein Komma Fehler:
Als sie den Mann finden atmen beide durch den Mund. So haben sie es gelernt.
Als sie den Mann finden, ...

Auf dem Bürgersteig liegt ein Stock. Er nimmt ihn, schwingt ihn durch die Luft. Der Mann mit dem Stock. Das gefällt ihm.
Schöne Aufnahme des Motives vom Stock.
Danach der Alptraum, mit dem Sturz.
Kein Komma

Er vermisst seinen Sohn so sehr.
Es gibt TExte, da wird sowas einfach gesagt, und man findet keine Anhaltspunkte sonst für so eine Aussage. Hier ist das anders. Ich glaube es, und es ist die Zusammenfassung von allem, was vorher gesagt wurde. Es klänge für mich noch stärker, nähmest du das "so sehr" raus. Das macht's für mich ein bisschen kaputt.

Auf dem Boden liegt ein Bleistift, kleine kämpfende Roboter darauf,
Die Roboter liegen nicht auf dem Bleistift, oder? So hört es sich wegen dem "darauf" aber an. Nimm vielleicht "daneben" o.ä.
Oh Mann, ne, jetzt kapier ich das. Das ist ein Muster auf dem Bleistift! Das solltest du umformulieren.

Im Park findet er eine Tüte mit alten Brötchen, Entenbrot.
Das gefällt mir. Das Entenbrot. Tolles Wort.

Sie nahmen sich nie in den Arm. Blut stand zwischen ihnen, trat aus seinem kleinen Kopf.
Das hat mich echt aus der Bahn geworfen. Da kapier ich nicht, was du meist. "Das Blut steht zwischen ihnen" klingt, als handle es sich um ein Inzestdrama. Man versteht nicht, dass mit "seinem kleinen Kopf" der des Kindes gemeint ist. Das kann man ja erst später zusammenfügen. Vor allem, weil man das zuerst mit dem Blut aus dem Kopf des Obdachlosen verbindet. Gut, ist er eben ein, im übertragenen Sinne, kleiner Kopf...

Er hat verschiedene Stifte in seiner Tasche, er hat Nägel in seiner Tasche, er läuft mit seinem Stock durch die Stadt. Es gibt ihn nicht, diesen einen Moment, der ihn veränderte. Keine geheilte Zeit, kein Auslöser, kein Schockerlebnis. Ameisen klettern über seine Füße, wenn er im Gras sitzt und nachdenkt.
Mag ich, diesen Absatz. Besonders Fettgedrucktes. Passt wirklich gut.

„Ich habe zugelassen, dass meine Unaufmerksamkeit mein Kind tötet.“ In großen Lettern, auf Seite 5.
Hat das die Zeitung als Aufhänger benutzt, oder hat er das auf das Auto geschmiert? In letzterem Fall ist das wohl ein wenig zu lang, um es auf eine Tür oder Motorhaube zu schreiben, vor allem in "großen Lettern"

Er sagt danke.
Er sagt "Danke".

er war ein kluges Kind
Okay, ich bin ein Arschloch, vielleicht: Aber das ist so Klischee. Ja, ja, alle haben immer kluge Kinder. Setz was originelleres dafür ein, wofür er seinen Sohn geliebt hat. Das ist mir zu banal. Klar liebt man ein kluges Kind das nur gute Noten heimbringt. Das ist zu einfach - und langweilig.

Ein Pärchen geht vorüber, sie schauen ihn beide an, er blutet am linken Unterarm. Und von den Knöcheln her auch, er hat gegen Bäume und Parkbänke und Spielgeräte gehauen.
...beide an. Er blutet am linken Unterarm. Auch an den Knöcheln. Er hat gegen Bäume...
Wie klingt das? Kürzer, knackiger, fügt sich mehr, - find ich.

Die Monster unserer Zeit sind wir, den wir beachten nicht unsere Kinder
..., denn wir beachten unsere Kinder nicht.

Auf die Gefahr hin, jetzt was übersehen zu haben, sage ich, dass der Text die letzten vier Absätze eigentlich nicht mehr braucht.
Vor allem der letzte Absatz, den verstehe ich nicht, warum plötzlich Ich-Perspektive?

Unsere Zeit mag keine Kinder, denn aus ihnen werden Monster. Die Monster unserer Zeit sind wir, den wir beachten nicht unsere Kinder. Unsere Kinder leben mit dem Monster der Zeit.
Da finde ich, schiebst du was ein, was so pseudo-kritisch wirkt.

Der Absatz mit Susanne, den finde ich auch unnötig. Der bringt nichts Neues. Nichts, was mehr zu Geschichte beitägt. Die Infos daraus sind schon hinreichend klar geworden.

Ich sehe den Kern des Textes darin, dass wir "Straßenpoeten" romantiesieren, statt wirklich gesellschaftlich etwas für sie zu tun. Die Realität geht da an der medialen Realität vollkommen vorbei.

Bis dann: Timo

 

Hej tierwater,

mir gefallen die wenigen Stellen, wo Du nur den Mann zeigst, wo dieses Only-a-hobo-Gefühl aufkommt. Leider gibt es davon nicht allzu viele. Den Rest (tut mir leid, aber so geht's mir nunmal damit) finde ich oft unfreiwillig komisch, ungenau oder uninteressant.

Vor dem Gebäude liegt ein Mann, verwildert, bärtig, verfilzt.
Wenn schon dieser Stil, warum nicht trotzdem genauer: Vor dem Gebäude liegt ein Mann, verwildert, bärtig, verfilzte Haare.

Seine Schuhe, Risse, Dreck und Löcher, Sohlen ohne Klebstoff.
Aber wenn die Sohlen ohne Klebstoff sind, warum sind sie dann überhaupt noch da? Sie würden abfallen. Hat er sie vllt mit seinen Schnürsenkeln festgebunden? Das wäre doch ein nettes Detail.

die Mutter sieht ihn nicht einmal.
bemerkt

Der Mann ist nicht getreten worden.
Klingt irgendwie niedlich, als würde ein achtjähriges Kind für eine Schülerzeitung schreiben.

Die Sanitäter machen Witze über ihren Beruf, so ist er leichter zu ertragen. Als sie den Mann finden atmen beide durch den Mund. So haben sie es gelernt.
Warum erzählst Du mir später nicht auch noch, was die Ambulanz-Krankenschwester in ihrer Ausbildung gelernt hat? Oder der Pfleger, der ihn wäscht?

Er kneift die Augen fest aufeinander.
zusammen

Eine zierliche Frau schreit ihn an, versucht es mit Lautstärke.
Ein dicker Mann droht ihm, droht mit Konsequenzen.
Die beiden werden durch die Bezeichnung "dick" oder "zierlich" nicht deutlicher oder plastischer. Viele Menschen sind dick oder zierlich. Manche haben blonde, andere braunes Haar.
Dass die Frau es mit Lautstärke versucht, als sie ihn anschreit, ist offensichtlich.

Der Mann hat keinerlei Antrieb mehr, ein Wurm hat sich in seinen Kopf gefressen und ihm den Antrieb geraubt. Der Mann will nicht sterben. Aber er kann auch nicht leben. Sie haben im zweiten Stock gewohnt. Das ist schon einige Jahre her.
Bis auf den doppelten Antrieb eine gute Stelle. Weil hier mal nicht in der Vergangenheit rumgewschwülstet wird, sondern Fakten beschrieben werden, die zu der von Dir gewählten Sprache passen.

Er ist dünn, er muss sich anstrengen, um etwas Oberfläche abzuschaben.
Ist der Mann so dünn, dass er keinen Nagel mehr halten kann (und versucht es tapfer trotzdem, wahrer Poet, der er ist), oder der Nagel so dünn, dass man nur schwer etwas damit ritzen kann?

Hand in Hand durch das Maisfeld gelaufen, dann der Junge auf seinen Schultern.
Bei den Bildern, die Du da heraufbeschwörst, mag ich den armen Vater schon beinahe beglückwünschen, dass er dieses Postkartenidyll losgeworden ist. Natürlich ist es auch möglich, dass er sich alles so schön ausmalt und sich selber belügt, aber ich finde sonst keinen Hinweis darauf. Was ich sagen will ist: Den Bildern fehlt die Lebendigkeit, die Besonderheit, da ist nichts, was mir nicht jede blöde Wurst öder Joghurt-Werbung liefert, und das viel effektiver.

Jetzt ist ihre Maschine in Gang gesetzt,
Meinst Du "Maschinerie"? Da wäre die Sozialarbeiterin nur ein Rädchen im Getriebe. Übrigens tut sie (wie die Sanitäter) nur was sie gelernt hat ;)

Sie sind wieder schmutzig,
Wieso "wieder"?

Die Menschen strömen aus den Büros, Anzüge und Kostüme gehen an ihm vorbei.
Ich würde das "die" weglassen, weil es nahelegt, dieser Satz hätte noch etwas mit den Händen zu tun. Das Bild der vorbeigehenden Anzüge und Kostüme find ich ungünstig.

Sein letzter Satz: Kommst Du bitte, das Essen ist fertig.
:shy: ... äh, eine ziemliche Leistung, übrigens, sich so einen banalen Satz zu merken. ich meine, er wusste ja zu dem Zeitpunkt nicht, dass es der "letzte" sein würde.

es ist morgen
Morgen, wie hier : die Kirchturmglocken läuten in den Morgen.

Dann die letzte Nacht.
Du könntest auch schreiben: Wer keine Lust mehr hat, dem sage ich hier schon mal, wie es ausgeht.

Unsere Zeit mag keine Kinder, denn aus ihnen werden Monster. Die Monster unserer Zeit sind wir, den wir beachten nicht unsere Kinder. Unsere Kinder leben mit dem Monster der Zeit.
Ist es das, was der Mann überall eingeritzt hat?

Eigentlich bin ich nicht ängstlich, aber ich habe Angst, Angst, dass ich ein Opfer werden könnte.
Was bedeutet jetzt dieses "ich"?
An manche Geschichten möchte ich klopfen und fragen: "Wer spricht da?"

Ein Opfer der Zeit, ein Opfer der Zeit.
Aber mal ehrlich, wer oder was wird denn kein Opfer der Zeit?

An der Wand steht etwas, ich kann es nicht lesen, ich gehe schnell nach Hause.
Entschuldige bitte vielmals, aber hier überlege ich ernsthaft, ob man noch weniger Handlung/Information in noch mehr Worte zwängen könnte.

An der Wand steht etwas geschrieben, ich kann es nicht besonders gut lesen, ich gehe so schnell wie ich nur kann nach Hause.

An der Wand steht etwas, das mit einem Nagel eingeritzt ist (woher ich das weiß? das sieht man doch!), ich kann es nicht lesen, weil irgendwelche Idioten ihre Schriftzeichen darüber gekritzelt haben (mit blauem Edding, den sie sich auf der bröckligen Wand bestimmt versaut haben) was schade ist, vielleicht wäre es wichtig gewesen, aber weil ich da sowieso nichts mehr machen kann, gehe ich schnell nach Hause.

Nichts für ungut, vielleicht sehen andere alles ganz anders.
Überarbeitungswürdig ist es allemal.

LG
Ane

 

Moin.
Insgesamt zu neutral geschrieben für meinen Geschmack, obwohl da wirklich viel drin wäre, was einen Leser packen könnte.So aber hab ich das Ganze nur quergelesen, weil es mich nicht berühren konnte in seiner Lakonie...
Schade, aber vielleicht noch einmal zu überarbeiten?
Auch ich fände das sehr lohnenswert. Obwohl ich ein eifriger Verfechter von Absätzen bin, fand ich diese hier dann doch Übertrieben zu viel eingesetzt, das stört für mich den Lesefluss und bleibt nur fragmenthaft im Kurzzeitgedächtnis haften.

Meint: Der Lord

 

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