Hallo hexy!
Wer in Freiheit schwimmt,
wird niemals empfinden können,
was einer fühlt, der am Haken hängt.
(Vanessa Redgrave in „Zweiter Aufschlag“, so ungefähr, habs aus dem Gedächtnis zitiert)
Ich hätte Dir wirklich gern eine positive Kritik geschrieben, aber das ist mir leider nicht möglich – zu viel sträubt sich in mir gegen diese und jene Stellen Deiner Geschichte (siehe unten) und auch gegen so manche Aussage in dem Thread.
Dazu möcht ich aber sagen, daß ich die Kritik keineswegs böse meine, auch wenn sie sich stellenweise so liest. Mir ist nur der Pfefferstreuer aus der Hand gefallen, drum ist es so scharf… 
Zuerst zur Geschichte:
Es beginnt beim Titel: „Opfer“ – Ich selbst bin „Opfer“ von Kindheit an, durch Mißhandlungen meiner Mutter und auch durch eine versuchte Vergewaltigung, die letztlich eine Nötigung war, und noch einige andere nette Sachen. Aber niemals würde ich eine meiner Geschichten „Opfer“ benennen. Auch bei sim findest Du so etwas glaub ich nicht. – Das ist der erste Punkt, der Dich in meinen Augen von wahren Opfern unterscheidet, und ganz ehrlich: Es wirkt nicht nur der Titel auf mich sensationsgeil – es geht bei der Einleitung gleich weiter…
Das Ritzen und...
Aber ich weiß, dass mein Leben nicht mehr mein Leben ist. Dass ich mühsam jeden Tag nur grade so überlebe und meine Angst vor der Nacht, vor der Dunkelheit, mich schon am Morgen lähmt.
…liest sich für mich wie „Schaut her, wie arm ich bin, ich muß mir selbst weh tun, weil ich so arm bin“.
Auch dieses „Aber ich weiß“ macht auf mich den Eindruck einer selbst nicht betroffenen Schreiberin. Jemand, der die Gefühle hat, der weiß sie nicht – der fühlt sie.
Keine Frage: Wirkliche Opfer brauchen Mit-Leid um das Erlebte zu verarbeiten – aber eben das Opfer und nicht die Freundin des Opfers. Warum hat eigentlich Deine Freundin nicht selbst diese Geschichte geschrieben? Aus ihrer Feder würde sie sicher ganz anders wirken, vermutlich viel mehr betroffen als mitleidheischend, vielleicht sogar mit wesentlich mehr Abstand zum Erlebten.
Aber noch einmal zum Ritzen: Es scheint mir sehr unwahrscheinlich, daß jemand, der vorher glücklich und fröhlich war, durch eine Vergewaltigung, die noch dazu von Fremden ausgeführt wird (was ja wesentlich leichter verarbeitet werden kann, als wenn es durch Verwandte oder Bekannte geschieht), anfängt, sich zu ritzen. Wenn das auf Deine Freundin wirklich zutrifft, dann könnte es sein, daß da noch mehr Unverarbeitetes in ihr schlummert, von Mißachtung durch die Eltern bis zu sexuellem Mißbrauch kann da alles drinstecken…
Manchmal ist so etwas auch ein Punkt, an den man dann alle seine schlechten Gefühle hinschiebt, weil es einfacher ist, als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Daß die schlechten Gefühle eigentlich schon vorher da waren, durch das Erlebnis nur wieder hochgespült wurden, die wahre Ursache also in der Kindheit liegt und die, die wirklich die Schuldigen fürs Ritzen darstellen, die eigenen Eltern oder sonstige Bezugspersonen sind. Leichter ist es, die Ursache bei diesen Typen zu suchen, denen kann man alle schlechten Gefühle hinterherschieben und die Eltern schonen. – Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich will damit nicht die Tat an sich weniger verächtlich machen – sie kann bloß in meinen Augen nicht allein für solche seelischen Zustände die Ursache sein. Ein seelisch gesunder Mensch steckt das ganz anders weg als einer, dessen Unterbewußtsein schon mit negativen Gefühlen vollgepflastert ist, die bei Bedarf nur abgerufen werden müssen.
Es war Donnerstag, Mitte Januar.
Teilweise, wie hier die Angabe „Es war Donnerstag“, sind mir die Erinnerungen zu genau und obendrein unwichtig für die Geschichte. Meiner Meinung nach würde zum Beispiel „Wir hatten Mitte Jänner. Eisig war es an dem Tag“ viel besser passen.
Aber auch »Zuhause hatte ich den letzten Rest Kaffees in mich geschüttet, dann war ich losgesaust, in Gedanken schon bei den Themen der nächsten Tage« finde ich unangebracht für die Geschichte, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sowas in der Erinnerung eher verblaßt bzw. in den Hintergrund tritt, wenn man das danach Geschilderte erlebt hat. – Wenn Du nur kurz erwähnen würdest, daß sie es eilig hatte, vielleicht in Form von „Ich war schon eine viertel Stunde zu spät dran“, reicht das völlig.
Aber jetzt kommt der Punkt, der mich eigentlich am meisten stört:
Wisst Ihr, ich bin eine große Frau. Groß und kräftig, für meinen Geschmack zu kräftig.
… ich warf mir im Spiegel noch einen letzten Blick zu. Da wir immer noch Winter hatten, trug ich eine dicke Jacke über einem warmen, selbst gestrickten Pulli und Jeans. Meine Haare waren knapp schulterlang, dunkelblond und meine braunen Augen blitzten mir kurz zu, bevor ich die Türe aufklappte und mich die Kälte draußen wie immer überraschte.
Warum beschreibst Du sie so? Warum muß sie sagen „Wisst Ihr, ich bin eine große Frau“? Wenn Du willst, daß die Geschichte ganz sicher auch nicht für
den einen Leser erregend ist, dann laß das weg. Eine große Frau impliziert lange Beine – etwas, auf das viele Männer stehen. Und dazu auch noch die direkte Anrede – warum sagt sie nicht gleich „Schaut, was ich für lange Beine hab“? „für meinen Geschmack zu kräftig“ läßt
den einen Leser dann vielleicht denken „Aha, ein bisschen was dran ist auch an ihr…“ und er hat schon sein komplettes Bild.
Nachdem wir schon wissen, daß Mitte Jänner ist, ist es auch nicht notwendig, sich für das Tragen einer dicken Jacke zu entschuldigen – das alles dient nur einer für die Geschichte völlig irrelevanten Beschreibung, die nur
dem einen Leser etwas bringt.
Es kommt mir auch sehr seltsam vor, daß eine Frau, die von ihrer Vergewaltigung erzählt, sich dabei Gedanken um ihre Figur macht („für meinen Geschmack zu kräftig“).
Der Spiegel: Gibt es in Deutschland tatsächlich finstere Autobahnparkplätze, wo Spiegel in den Toiletten hängen?

– Oder dient der Spiegel nur dazu, die schulterlangen, dunkelblonden Haare und die blitzenden braunen Augen auch noch schnell unterzubringen? – Ich bin noch nie beim Schreiben einer Geschichte, in der ich reale Erlebnisse aufgearbeitet hab, auf die Idee gekommen, mich selbst körperlich zu beschreiben, und mir fällt jetzt auch keine Geschichte von anderen Autoren ein, bei denen ich weiß, daß sie real sind, in der das der Fall wäre, insbesondere, wenn sie in Ich-Form geschrieben ist (außer, es geht um für den Plot relevante Äußerlichkeiten). Es geht doch um das, was man empfindet und nicht um das, wie man aussieht.
Scheinbar aus dem Nichts, aber eben aus der winterlichen Dunkelheit tauchten drei Kerle auf.
So dunkel, daß jemand plötzlich aus dem Schwarz auftaucht und vor einem steht, ist es wohl auch auf einem Autobahnparkplatz nicht. Vielleicht sind sie ja von hinten gekommen – dafür muß man sich nicht mit der Dunkelheit rechtfertigen.
Den Unterschied zwischen winterlicher und sommerlicher Dunkelheit kenne ich auch nur so, daß es im Winter früher finster wird, was aber mit der Dunkelheit an sich nichts zu tun hat. Eher ist es im Winter heller, wenn Schnee liegt und das wenige Licht reflektiert, ohne Schnee ist die Dunkelheit zumindest annähernd dieselbe (wenn man vom unterschiedlichen Sternenbild am Himmel absieht), und daß Winter ist, wissen wir ja ohnehin schon. ;-)
Einer packte mich rechts, einer links und der Dritte hielt mir von hinten den Mund zu.
Wenn ich mir das so vorstelle, war es für die drei wohl ein ziemliches Gedränge, was doch ziemlich unpraktisch ist.
Dann zerrten sie mich weiter in die Finsternis
Eben war es schon so finster, daß Menschen aus dem Nichts auftauchten, und jetzt wird es noch finsterer?
Es war dunkel, der Laster war dunkel, dunkelrot? Irgendetwas stand auf dem Auflieger, aber was, konnte ich in meinem Entsetzen nicht entziffern.
Deutet dieses „dunkel“ an, daß es jetzt wieder heller ist? ;-) Da es ja eben schon dermaßen stockfinster war, muß es so sein, sonst könnte sie die Farbe des LKW nicht erkennen und auch nicht sehen, daß eine Aufschrift darauf ist.
Ich schrie, laut, so laut ich konnte. Was ich schrie? Ich weiß es nicht mehr. Hilfe? Ihr Schweine? Ich weiß es nicht.
Das klingt auf mich so, als hättest Du selbst hier beim Schreiben überlegt, was sie wohl geschrien haben könnte.
Ich mag direkte Anreden des Lesers eigentlich überhaupt nicht, wie vorhin das „Wisst Ihr …“, am allerwenigsten mag ich es aber, wenn mir als Leser eine Frage in den Mund gelegt wird, die ich ja vielleicht gar nicht gestellt habe, wie es bei »Was ich schrie?« der Fall ist.
Deine Protagonistin ist übrigens unglaublich mutig, wenn sie sich da noch schreien traut. Bei mir war es nur einer und der war nicht so brutal, aber ich hätte mich das niemals getraut.
Auch von der Tat selbst sind mir die Beschreibungen zu ausführlich – daß sie jede Bewegung so genau im Kopf hat, wirkt unglaubwürdig auf mich. Das würde anders wirken, wenn Du die Geschichte als Außenstehende beschreibst.
Im Nu war einer neben mir, kniete sich auf mich und schlug mir ins Gesicht. Mein Kopf flog zur Seite, krachte auf den dreckigen Boden
Daß der Boden dreckig war, ist auch so ein Punkt, der mir zu überzogen klingt. Wenn der Kopf auf den Boden kracht, tut das in erster Linie weh – der Dreck ist in dem Fall Nebensache, die Erwähnung wirkt auf mich wiederum mitleidheischend.
Auf dem Rücken rutschte ich in wilder Panik nach hinten
“in wilder Panik“ paßt einerseits auch nicht unbedingt in die Ich-Erzählung, andererseits kann ich mir das als Leser ganz gut vorstellen, die Erwähnung ist überflüssig.
Auch hier wieder:
Ich blickte in meiner Panik um mich
Nackt an die Wände gefesselt.
Den Einwand von Dion finde ich hier berechtigt. Sie kann nicht zugleich an mehrere Wände gefesselt sein – „Nackt an die Wand gefesselt“ wäre besser. Es stellt sich mir nur die Frage:
Für wen dieses Bild der an die Wand gefesselten Frau?
Beschmutzt, benutzt, gequält, verbrannt, gepeitscht, missbraucht und voller Ekel und Entsetzen gegen mich selbst.
Würde ich so einen Satz in meine realen Geschichten schreiben, würde ich wohl keine Kommentare bekommen, weil jeder sagen würde, ich wolle nur Mitleid erzeugen…
Ich glaube, es war der, der mir als Erster ins Gesicht gepisst hatte, nachdem der letzte noch in meinem Hinterteil steckte und der dritte mir genüsslich seine hundertste Zigarette auf den Brüsten ausgedrückt hatte.
Hier hab ich – abgesehen davon, daß ich die Stelle auch für überflüssig halte – Probleme mit der Vorstellung: Wenn einer in ihrem Hinterteil steckt, nehm ich an, sie kniet mit dem Gesicht Richtung Boden oder liegt am Boden auf dem Bauch. Dabei kann man ihr aber doch schlecht ins Gesicht pissen und auch, die Zigaretten auf der Brust auszudrücken, ist etwas umständlich. – Klingt also nicht sehr real, eher so, als hättest Du schnell drei Tätigkeiten kombiniert, die Dir gerade eingefallen sind, ohne darauf zu achten, daß sie zusammenpassen.
Ich war nackt, es war mir egal.
Nach so einem Erlebnis ist es ihr egal, nackt zu sein? Wo man doch eher etwas Schützendes um sich haben will? Sie hat sich auch später nicht angezogen?
Und blieb im Auto sitzen. Es war nach Mitternacht. Um sieben war ich auf der Toilette gewesen. Ich glaube, ich wusste noch nicht einmal mehr meinen Namen.
Den hörte ich, als eine meiner Bekannten plötzlich an meiner Autotüre stand und entsetzt meinen Namen rief.
Immer noch nackt?
Wieso glaubt sie nur, ihren Namen nicht mehr gewußt zu haben, weiß aber zugleich, wie spät es war, als sie auf die Toilette ging?
Auch dieser Punkt scheint mir nicht ganz zu passen: Offenbar wohnt die Bekannte dort, sonst würde sie ja nicht frühmorgens vor ihrer Autotüre stehen, möglicherweise ist es auch ein Studentenheim oder so. Warum aber geht die Protagonistin wer weiß wo aufs Klo und dann wieder ins Auto zurück, statt die sichere Wohnung aufzusuchen?
Jetzt noch kurz zu ein paar Aussagen:
hexy schrieb:
ich denke, gerade die Täterperspektive wäre doch am ehesten ... erregend für den Leser, denn der Täter ist ja grade scharf darauf, zu tun, wonach immer es ihn gelüstet.
Deiner Vermutung kann ich nicht zustimmen. Solchen Männern geht es darum, Macht über die Frau zu haben
und sie leiden zu sehen. Es braucht dafür nicht die Täterperspektive, die denkt er sich ohnehin selbst dazu.
Chica schrieb:
Mein Kommentar beginnt mit einer Bedingung: Solltest du in dieser Geschichte sowie in "Willkommen in meiner Welt" eigene Erfahrungen mit Missbrauch und Gewalt aufarbeiten und dadurch Trost und Hilfe erfahren, bitte ich dich sehr, nicht weiterzulesen.
Liebe Chica, warum sollte jemand, der davon betroffen ist, nicht auch darüber diskutieren können?
Opferliteratur ist eine sichere literarische Investition.
Opferliteratur sollte aber, wie schon der Name sagt, auch von Opfern geschrieben werden, und nicht von Leuten, die sich literarisch drauf aufbauen wollen und schreiben, was sie sich so vorstellen.
Opferliteratur ist auch nur dann wertvoll, wenn sie die Wahrheit – die selbst erlebte oder mindestens mit-erlebte Wahrheit (z.B. die Tochter von der geschlagenen Mutter) – spricht. Alles andere verwässert nur die Phantasie mit der Realität und bringt im Endeffekt dann niemandem etwas.
Juxi schrieb:
dem Leser die Chance zu geben, sich in die Opferrolle zu versetzen und mit dem Opfer zu leiden
Das ist auch so eine Sache: Mit realen Opfern zu leiden bringt den Opfern etwas, da jedes Mit-Leid natürlich auch einen Teil des Leides vom Betroffenen nimmt. Wie, wenn man aus dem vollen Rucksack ein Stück in einen anderen Rucksack geben darf.
Es gibt nicht viel Mitleid auf dieser Welt, und Geschichten, die nicht von Opfern selbst geschrieben wurden, sondern oft rein aus der Phantasie entstanden sind, ziehen von diesem Mitleid auch noch einen guten Teil ab. In einer Phantasiegeschichte mitzuleiden ist wie Wasser auf den Asphalt zu gießen, statt in die trockene Erde.
Dion schrieb:
Aufklärungsquoten in Bayern im Jahre 2003
- Vergewaltigung 88,8%
Ich hoffe, das genügt.
Nicht ganz: Die Aufklärungsquote bezieht sich nur auf die angezeigten Fälle. Die Dunkelziffer und damit die Quote nicht aufgeklärter Fälle liegt weitaus höher.
So, ein paar Kleinigkeiten noch:
»Zuhause hatte ich den letzten Rest Kaffees in mich geschüttet«
– „den letzten Rest Kaffee“ (ohne -s) oder „den letzten Rest des Kaffees“
»setzte ich den Blinker und rollte in den nächsten Parkplatz«
– rollte auf den nächsten Parkplatz
»Einer packte mich rechts, einer links und der Dritte hielt mir von hinten den Mund zu.«
– der dritte
„Der Andere trat mir gegen die Beine, so, dass ich stürzte, dann kann der Dritte und gemeinsam warfen sie mich in den Anhänger.“
– Der andere … dann kam der dritte
»Ich hörte ein Geräusch und ein Lachen, dann drückte mir einer Paketband über die Lippen. Ich versuchte wieder zu schreien, aber ich hörte selbst, dass nur eigenartige Geräusche aus meinem Hals kamen.«
– zweimal „ich hörte“, würde das zweite streichen und schreiben: aber es kamen nur eigenartige Geräusche aus meinem Hals.
»und ich sah mich den Dreien gegenüber«
– den dreien
»und der dritte mir genüsslich seine hundertste Zigarette auf den Brüsten ausgedrückt hatte.«
– auf der Brust (diese eine Zigarette ist nur eine, die wird er auch nur auf einer Brust ausdrücken)
»„Geh!“, sagte er, „Geh!“«
– sagte er. „Geh!“
»der mich gehen ließ, warf mir einen mitleidigen Blick zu, als ich einfach auf den Boden fiel, draußen.«
– warum muß das „draußen“ so hintenangestellt sein? Besser: als ich draußen einfach auf den Bode fiel.
Liebe Grüße,
Susi