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Onkel Frank
Tom hatte von seinen Eltern ein neues Fahrrad bekommen und am Nachmittag wollten wir gemeinsam die erste kleine Tour machen.
Tom war mein Freund und wir unternahmen viel miteinander. Das einzige Problem war, daß er bisher kein richtiges Fahrrad hatte. Das heißt, er hatte schon eines, nur eben ein sehr klappriges, ohne Gangschaltung und so.
Aber das war jetzt vorbei.
Wir würden in unserer Siedlung um die Wette fahren und zum See hinunter und...........
Und dann ein leichter Luftzug.....und dann ein Knall.....und dann sprang ich erschrocken auf, stand neben meinem Tisch im Klassenzimmer und vor mir Frau Ellers, unsere Klassenlehrerin mit einem Stapel Hefte in der Hand. Meines hatte sie gerade vor mir auf den Tisch geknallt.
„Erik, wir besprechen gerade die Klassenarbeit. Es interessiert mich sehr, wann du denn mal wieder die Güte hast, am Unterricht teilzunehmen, anstatt träumend aus dem Fenster zu starren.“
„Entschuldigung.“ brachte ich nur heraus. Was sollte ich auch sonst sagen?
„Die erste Quittung hast du mit dieser Arbeit bekommen.“ Frau Ellers deutete auf das Heft. „Bleib` bitte nach der Stunde noch in der Klasse. Ich habe mit dir zu reden.“
Ich fühlte mich mies und es war mir, als könnte ich die spöttischen Blicke meiner Klassenkameraden spüren. Die Stunde schien überhaupt nicht enden zu wollen. Als es endlich soweit war, stand ich mit hängendem Kopf vor Frau Ellers, die mir auftrug, meinen Eltern zu sagen, daß sie in den nächsten Tagen unbedingt mit ihnen sprechen müßte.
Ich nahm mir vor, gleich als erstes mit meiner Mutter zu reden. Sie war nicht so streng wie mein Vater und hatte oft Nachsicht, wenn ich etwas angestellt hatte. Kleine Unannehmlichkeiten hielt sie gerne von ihm fern. So hoffte ich auch diesmal davonzukommen, indem sie die Klassenarbeit unterschrieb und den Termin in der Schule wahrnahm, ohne daß mein Vater etwas davon erfuhr.
Mein Vater war auch nicht gerade übermäßig streng, aber er ließ sich nicht so leicht beschwichtigen wie meine Mutter. Er war sehr auf Ordnung und Pünktlichkeit bedacht. Und wohl, weil er selber sehr viel arbeiten mußte, war für ihn Fleiß sehr wichtig. Er sagte immer: „ Im Leben bekommt keiner etwas geschenkt. Selbst wenn es den Anschein hat, als käme manches wie von selbst, so muß man früher oder später doch auf die eine oder andere Art dafür bezahlen.“
Mutter würde ich schon rumkriegen, damit ich die geplante Fahrradtour mit Tom trotzdem machen dürfte, denn schließlich war es nicht mehr weit bis zu den Ferien, und dann war noch genug Zeit, etwas für die Schule zu tun.
Als ich dann zu Hause war, lief aber alles ganz anders, als ich es geplant hatte.
Die Hoffnung, als erstes meiner Mutter allein beichten zu können, konnte ich zunächst vergessen. Normalerweise arbeitete mein Vater bis abends, aber an diesem Tag war er schon ungewöhnlich früh zu Hause.
Ich hörte ihn in seinem Arbeitszimmer telefonieren, also stellte ich meine Schultasche schon im Flur ab und suchte meine Mutter. Ich fand sie in der Küche. „Wieso ist Vati denn schon da?“
„Tante Renate hat im Büro angerufen.“ erklärte sie. Ich sah ihr an, daß etwas Unangenehmes passiert sein mußte. „Onkel Frank ist ins Krankenhaus gekommen und die Ärzte haben wohl nicht viel Hoffnung, daß er wieder gesund wird. Sie fürchten sogar, daß er nur noch wenige Tage zu leben hat.“
Mutter nahm mich dann in den Arm und drückte mich ganz fest an sich. Ich spürte ihre Traurigkeit.
Onkel Frank war der Bruder meines Vaters, wohnte aber nicht in derselben Stadt wie wir. Ich wußte, daß er schon einige Zeit krank war.
Oft fiel ihm das Atmen schwer und er mußte dann viel husten und Medikamente nehmen und ein Spray, das ihm dann etwas half.
Wir hörten das Geräusch einer Tür und mein Vater kam aus seinem Arbeitszimmer. Er gab mir mit ernster Miene einen Kuß und setzte sich zu uns. „Ich werde gleich losfahren. Ich kann Renate jetzt nicht alleine lassen.“
Meine Eltern packten einige Sachen zusammen. Eine Stunde später verließ Vater das Haus.
Auch als er fort war, hielt die gedrückte Stimmung an.
Tom hatte ich angerufen und die Fahrradtour abgesagt. Ich hatte nicht mehr gewagt, mit meiner Mutter über die Schule zu sprechen. Mein Glück war, daß wir die Klassenarbeit erst nach einer Woche wieder zurückgeben mußten. Dadurch hatte ich noch etwas Zeit.
Am nächsten Tag ging ich Frau Ellers aus dem Weg, damit sie sich nicht an das Elterngespräch erinnerte.
Es war nicht die richtige Zeit, um für die miese Schulnote gut Wetter zu machen. Um meine Mutter auf das Gespräch mit meiner Lehrerin vorzubereiten, mußte sie in guter Stimmung sein.
Tom und ich hatten noch so viel vor. Wenn ich unüberlegt vorging, bestand die Gefahr, daß ich die nächsten Wochen zum Pauken verdonnert wurde.
Also verhielt ich mich in der Schule so unauffällig wie möglich.
Als ich dann nach dem Unterricht nach Hause kam, saß meine Mutter in der Küche. Auf dem Tisch neben ihr stand das Telefon. Sie sah mich so seltsam ernst an, daß ich fast ein wenig erschrak. „Vater hat gerade angerufen. Onkel Frank ist heute Morgen gestorben.“
Ich fühlte, wie sich mein Magen ganz plötzlich verkrampfte und meine Beine schwach wurden. Ich stellte meine Schultasche neben den Küchentisch und setzte mich ebenfalls. Sie sah so niedergeschlagen aus, daß ich nicht wagte, sie weiter anzusprechen. Wir saßen eine Weile nur still da. Dann nahm ich ihre Hand. „Bist du sehr traurig?“ Mutter sah mich an. “Ja, das bin ich.“
Einen Moment war sie sehr nachdenklich und fuhr dann fort. „Weißt du, wenn Jemand gestorben ist, der einem nahestand, dann denkt man ganz automatisch darüber nach, was man zu seinen Lebzeiten versäumt hat, was man ihm doch eigentlich noch alles sagen wollte, und daß man immer zu wenig Zeit mit ihm verbracht hat.“ Ich konnte sehen, wie Mutters Augen ein wenig feucht wurden.
Ich selbst hatte meinen Onkel nur ein paarmal gesehen. Daher kannte ich ihn nicht besonders gut. Er war aber jedesmal sehr freundlich und hatte immer gute Laune, wenn ich ihn getroffen hatte.
Mein Vater hatte oft von früher erzählt. So wußte ich, daß Onkel Frank ein sehr lieber und freundlicher Mann war.
Onkel Frank und Tante Renate hatten auch einen Sohn, der aber bedeutend älter war als ich.
Jürgen, so hieß er, studierte bereits und wohnte nicht mehr bei seinen Eltern, besuchte sie aber häufig.
Ich hatte oft den Eindruck, daß mein Vater seinen Bruder bewunderte. Ich konnte mich daran erinnern, wie er einmal sagte, als es bei uns Streit darüber gab, wohin es im nächsten Urlaub gehen sollte: „Wir sollten uns an Frank und seiner Familie ein Beispiel nehmen. Die haben kaum Geld, müssen jeden Pfennig zweimal umdrehen und können sich nur selten einen Urlaub leisten. Aber trotzdem sind sie zufrieden und glücklich miteinander.“
Mutter sagte, daß Vater noch einige Tage bei Tante Renate bleiben würde, um ihr zu helfen.
Drei Tage später fand die Beerdigung statt. Mutter und ich waren gemeinsam dort hingefahren. Für mich war es das erste Mal, daß ich solch eine tiefe Trauer miterlebte. Klaus ließ Tante Renate selten allein und hielt ihr oft tröstend die Hand. Außer bei der Beisetzung auf dem Friedhof weinte sie nicht. Aber ihr Gesicht war nicht mehr dasselbe, das ich gekannt hatte.
Sie schien um viele Jahre älter geworden. Ihre Augen hatten eine Traurigkeit, die tief in meine Seele drang. Mir war, als hätte sich ein dichter, grauer Nebel über das Haus gelegt und alles auf sonderbare Weise verlangsamt und gedämpft. Die anwesenden Trauergäste sprachen nur wenig. Es schien, als habe jeder Angst bei dem Anderen die mühsam unterdrückten Gefühle zu wecken und dann von der Traurigkeit mitgerissen zu werden. Ich hielt mich in der Zeit, als wir dort waren sehr zurück und wagte kaum, etwas zu sagen.
Am Tag nach der Beerdigung fuhren meine Eltern und ich gemeinsam wieder heim. Auch auf der Fahrt, die einige Stunden dauerte wurde nicht viel geredet und wenn, dann nicht über die vergangenen Ereignisse, obwohl uns im Inneren nichts anderes beschäftigte.
Der folgende Tag war ein Samstag. Ich brauchte nicht in die Schule und fand am Morgen meinen Vater in seinem Arbeitszimmer. „Darf ich Dich mal etwas fragen?“ Begann ich zögernd.
„Natürlich Erik.“ Sagte er. „Komm und setz dich.“
Ich schloß hinter mir die Tür und nahm auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Platz.
Mein Vater hatte sein Notizbuch, in dem er geschrieben hatte, geschlossen und sah mich an.
„Dich bedrückt etwas. Komm und sprich dich aus.“ Ich überlegte einen Moment wie ich anfangen sollte. „ Ich habe Angst,“ begann ich dann schließlich, „daß so etwas wie mit Onkel Frank auch bei uns passieren könnte.“ Vater lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schenkte mir seine volle Aufmerksamkeit. „Du meinst, daß ich sterben könnte?“ Ich nickte stumm.
„Erik,“ erklärte er. „Sterben ist natürlich, so schlimm es auch für uns erscheinen mag. Wir müssen alle eines Tages sterben und das ist auch ganz richtig so, aber obwohl ich bedeutend älter bin als du, mußt du keine Angst haben. Ich habe wohl noch viele Jahre Zeit, bis es soweit ist.“ Das genügte mir nicht: „Aber das kann man doch nicht wissen.“ platzte es aus mir heraus.
„Onkel Frank war doch auch nur ein paar Jahre älter als du und.......“ „Onkel Frank war lange sehr krank.“ unterbrach mich Vater. „Und ich bin gesund. Daher brauchst du dir um mich keine Sorgen zu machen. Weißt du, Onkel Frank hat früher in einer Fabrik gearbeitet und mußte dabei mit sehr giftigen Stoffen umgehen. Davon ist er krank geworden.“
Das konnte ich nicht verstehen. „Warum mußte er denn diese Arbeit machen, wenn das so gefährlich war?“
Vaters Blick wanderte von mir durch den Raum zu einem alten Familienbild an der Wand, das ihn, meine Großeltern und Onkel Frank zeigte. Ich konnte spüren, wie seine Gedanken in die Vergangenheit abschweiften.
„Damals, „begann er leise, „als Onkel Frank noch zur Schule ging, war für uns eine schwere Zeit. Großvater war arbeitslos und jeder mußte seinen Teil zum Unterhalt der Familie beitragen. Onkel Frank mußte daher nach dem Schulunterricht arbeiten, um dazu zu verdienen. Ich konnte noch nicht helfen, weil ich noch zu klein war.“
Vater machte eine kurze, nachdenkliche Pause, als ob er in Gedanken neue Bilder aus der Vergangenheit in die Erinnerung holte.
„Später, als Onkel Frank dann die Schulzeit hinter sich hatte, brauchte unsere Familie immer noch dringend das Geld, so daß er direkt in die Fabrik ging und dort fest angestellt wurde.
Irgendwann bekam auch Großvater wieder eine Arbeitsstelle und uns ging es etwas besser.
Als ich dann zur Schule ging, brauchte ich nicht nebenbei zu arbeiten. Ich konnte das Abitur machen und anschließend studieren, so daß ich mir einen sauberen und ungefährlicheren Beruf wählen konnte, mit dem ich auch soviel Geld verdiene, daß wir gut leben können. Onkel Frank hatte diese Möglichkeit nicht. Hinzu kommt, daß man früher auch nicht wußte, wie gefährlich seine Arbeit wirklich war.“
Ich schwieg eine Weile und dachte nach.
„Wenn Onkel Frank auch studiert hätte, dann ...........“
„Dann hätte er einen anderen Beruf ergriffen, wäre nicht so krank geworden und wohl wahrscheinlich noch am Leben.“ ergänzte mein Vater leise und ich hörte wieder die Trauer in seinen Worten.
Meine Klassenarbeit hat später Mutter unterschrieben und auch das Gespräch mit meiner Lehrerin hat sie geführt. Wir wollten Vater nicht noch zusätzlich belasten und meiner Mutter konnte ich versprechen, daß sich bei mir einiges ändern würde.
Und so war es tatsächlich.
Ich habe mit meinem Freund Tom auch weiterhin Radtouren unternommen und viele andere Sachen mehr, nur habe ich mir meine Zeit genau eingeteilt, denn das Abitur wollte ich unbedingt machen und möglichst auch studieren.
Und ich habe es dann auch geschafft.
Jetzt habe ich einen Beruf, der mir sehr viel Freude macht und mit dem ich auch genug Geld verdiene, um mit meiner Familie, die ich auch inzwischen habe, gut leben zu können. Weil wir jetzt in einer anderen Stadt wohnen, sehe ich Tom nicht mehr. Irgendwie ist unser Kontakt noch während der Schulzeit abgebrochen.. Er hat irgendwann neue Freunde gefunden und wollte dann auch Geld verdienen. Er wollte ein Motorrad haben, wie seine Freunde und hat dann die Schule geschmissen. Meine Eltern haben mir erzählt, daß er nun in einer Fabrik arbeitet.
Ich wünsche ihm viel Glück und hoffe, daß seine Arbeit nicht so gefährlich ist.