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Omphalophobie
Nadias Haut war glatt und sanft wie Seide. Ihr Gesicht hätte einer Marmorstatue der Venus entstammen können. Ihr Blick frass sich tief in Peter und ihre Berührungen hinterliessen brennende Punkte. Punkte, die sie immer wieder verwöhnte. In wenigen Minuten hatte sie seinen Körper besser kennengelernt, als andere Frauen in einem halben Jahr. Sie wusste genau, was er mochte. Ihre Küsse entführten ihn in den Garten Eden der Lust, einem Gefängnis für Verliebte, aus dem er schlecht wieder herauskam.
Hinter den Gittern der Wonne hörte Peter ihre Schreie.
Lange, penetrante Schreie.
Sie zitterte am ganzen Leib. Mit der linken Hand drückte sie auf seine Brust. Es war nicht mehr das sanfte, erregende Drücken. Ebensowenig wie ihre panischen Schreie einem intensiven Stöhnen entsprachen.
Peter liess sich aus dem Gefängnis reissen. Als er auf dem kalten Boden der Realität landete, wollte er ihre Substanz erst gar nicht erkennen. Das nackte Mädchen verwehrte seinem Körper den Kontakt. Sie hatte sich an den Rand des Bettes zurückgezogen. Weiter schaffte sie es nicht. Ihre weit ausgestreckte linke Hand kämpfte vergeblich, um die rechte zu befreien, diese aber befand sich in gezwungener Verbindung mit seinem Bauch. Ihr Zeigefinger hatte seinen Nabel verwöhnen wollen.
Dort hatte der Schrecken begonnen.
„Peter! Peeeeeter, lass mich looos!“
Der Finger reichte bis einen Zentimeter in Peter hinein. Nadia versuchte ihn mit aller Kraft herauszuziehen, drückte mit der linken Hand immer fester auf seine Brust und kreischte dabei als sässe ihr eine behaarte Spinne im Nacken.
Peter sah ihr wie erstarrt zu.
Das konnte nicht wahr sein. Sein Nabel...
Nein!!
Sein Bauchnabel...
Unmöglich!!
... war dabei Nadias Finger zu verzehren und sie versuchte ihn im wilden Kampfe zu befreien. Er selbst spürte nichts, als hätte man ihm alle Nerven herausgerissen. Seine Augen aber folgten gebannt dem Schauspiel. Stand er etwa unter Drogen?
Genau, das musste es sein – ein Trip des Wahnsinns.
Nun verlangte Nadia, dass er sie losliess, aber wie konnte er das bewerkstelligen? Er war es ja nicht, der sie festhielt...
Langsam befreite er sich von seiner Starre und erlangte die vermisste Handlungsfähigkeit wieder. Er schickte seine Hand an die Front, wo sie Nadias Finger ergriff und zog. Die Schreie vervielfachten sich, aber dafür zeigten sich die ersten Erfolge: Der Zeigefinger befreite sich Millimeter für Millimeter aus seiner Falle.
Nach kurzer Zeit war der Tumult vorbei, Nadia stand in der Ecke des Zimmers und betrachtete ihren verloren geglaubten Sohn. Lediglich ein Stückchen Haut war auf der Strecke geblieben, der Fingernagel sass wohlbehalten auf seinem Träger, wenn auch um einen halben Zentimeter verrückt. Nadia hatte aufgehört zu schreien. Als sie sprach vermischten sich ihre Worte mit dem Klappern ihrer Zähne.
„Peter, was war das!?“
„Ich weiss es nicht, Nad, sowas hab ich noch nie erlebt...“
„Aber du hast es gesehen, oder? Es hat mich einfach festgehalten und...“ sie brach in Tränen aus, „und ich konnte nichts mehr tun, ich war gefangen... Sieh dir meinen Fingernagel an, Peter, sieh in dir an!“
Sie schob ihn an seinen alten Platz zurück, im Wissen, dass dies nur eine vorübergehende Lösung sein konnte.
Eine Weile sagte Peter nichts. Er versuchte seine Gedanken zu fassen. Für alles gab es eine rationale Erklärung. Auch dafür. Abgesehen von geringen Blutspuren wies nichts auf das geschehene Unglück hin. Sein Bauchnabel war ein Nabel wie jeder andere. Klein und ruhig.
Sogleich erschien ihm das Bild des ‚Fressens‘ lächerlich. Was abgelaufen war liess sich sicherlich biologisch begründen. Als er nach einer Erklärung suchte, schoss ihm plötzlich eine Geschichte durch den Kopf, die der Anekdoten-Erzählkünstler Dorian ihm erzählt hatte.
Eine Frau – war es die Cousine eines Freundes seiner Schwester? – verkrampfte sich beim Sex und konnte den Stab zwischen ihren Beinen nicht mehr loslassen. Der Geliebte versuchte verzweifelt sein Glied zu befreien, opferte es dabei aber beinahe. Das im Akt des Fleisches unglücklich zusammengebundene Paar hatte schlussendlich den Arzt rufen müssen, damit dieser die beiden mit Mühe und Not auseinanderbringen konnte.
Mit seinem Bauchnabel war zweifellos nichts anderes geschehen. Irgendwelche Muskel hatten sich wohl zu hektisch dem Spiel der Lust hingegeben, als Nadia ihren Finger in das Fleisch gesteckt hatte.
Dann liess er Nadia an seinen kopfinternen Nachforschungen teilhaben:
„Ich weiss was passiert ist: Ich habe mich verkrampft. Das muss es sein!“
Nadia war zwar der Meinung, es gäbe keine Krämpfe solcher Art, es sei viel zu schlimm gewesen, aber nachdem Peter Dorians Geschichte zum Besten gegeben hatte, beruhigte sie sich.
„Vielleicht hast du recht...“, sie warf einen Blick auf Peters Bauchnabel, „im Nachhinein sieht es auch gar nicht so schlimm aus. Ich war wohl einfach zu sehr geschockt, um rational denken zu können. Da schien es wirklich so, als wollte das Scheissding mich... verschlingen.“
Sie sass aufs Bett, wenn auch in einem gewissen Abstand zu Peter und musterte den Boden.
„Übernachtest du trotzdem hier?“, wollte Peter wissen.
Überrascht sah sie auf. Sie schien vergessen zu haben, dass sie den Mann, der neben ihr auf dem Bett sass, vor wenigen Minuten noch hatte lieben wollen. Ihr Blick huschte über seinen Körper. Von der Lust war auch bei ihm nicht mehr viel zu sehen.
„Eigentlich würde ich jetzt lieber gehen, wenn du mich verstehst.“
„Wie du willst. Ich kann dir nichts vorwerfen. Ist schade, aber ich nehme an, wir sehen uns wieder?“
Er legte ihr die Hand auf die Schulter und wollte sie zum Abschied küssen.
Sie schob seine Hand beiseite, klemmte den Mund zu, als hätte sie Angst, eine Wespe könnte hineinfliegen und stand auf.
Ohne den Boden aus den Augen zu verlieren, kleidete sie sich an und ging.
Peter stand auf und eilte zum Fenster. Sein schlaffes Glied baumelte einem Pendel gleich durch die Luft. Er zog den Vorhang auf, wartete bis Nadia aus dem Haus trat und sah ihr nach, wie sie sich entfernte.
„Musste das sein?“, hauchte er die Scheibe an.
Als Antwort trübte sie ihm lediglich die Sicht und raubte Nadias Gestalt die Eigenart, welche sie ausmachte.
Peter verliess seinen Beobachtungsplatz und liess sich auf das Bett fallen. Dort vergrub er seinen Kopf im Kissen und begann zu schluchzen. Nachdem er ein Dutzend mal die Frage wiederholt hatte, sorgte er für Abwechslung, indem er das Wunder Nadia anzweifelte:
„Ein Mädchen wie jedes andere.“
Die Worte erstickten im Kissen und verloren ihre Glaubwürdigkeit. Peter musste sich selbst berichtigen.
„Nein!“
Er nahm das Kissen und schleuderte es durch das Zimmer.
„Sie war die Beste! So eine Frau hatte ich noch nie!“
Schliesslich begann er mit seinem Bauchnabel zu spielen. Er streichelte und kratzte ihn. Plötzlich musste er ab der Absurdität der vergangenen Stunde zu lachen. Am Anfang gequält, da ihn Nadias Abgang schmerzte, mit der Zeit aber immer ausdrucksloser, bis er nicht mehr wusste, ob er nur deshalb lachte, weil er sonst weinen würde, oder weil ihm tatsächlich etwas Spass bereitete.
Als er sich schliesslich beruhigt hatte, kehrten seine Finger zurück. Sie trugen Blut mit sich. Erschrocken fuhr Peter zusammen und starrte auf den Nabel.
Er sass mitten in seinem Bauch, so klein und ruhig. Das bisschen Blut hatte also Nadia zusammen mit dem Stück Haut hinterlassen.
Noch ein paar Minuten sass Peter auf seinem Bett und versuchte an irgend etwas anderes zu denken, als an seinen Bauchnabel und die verpasste Nacht.
Doch wie üblich bei solchen Versuchen, scheiterte er. Er löschte das Licht und langsam verlor die Kontrolle seiner Gedanken an den Schlaf.
Er träumte. Nadia lag in seinen Armen und lächelte ihn an. „Wetten, ich kann dein Herz gewinnen!“
Als sie ihn küsste wusste er, dass er nie auf die Wette eingehen würde. Ein seltsames Flattern hinter seinem Bauch weckte seine Aufmerksamkeit. Es war Nadia. Ihre Hand wühlte in seinen Eingeweiden und suchte.
„Wetten?“, fragte sie.
„Was du hier machst, ist sehr gefährlich, Nad“, belehrte er sie.
„Ich hab’s!“, jubelte sie auf. Sie hatte aufgehört zu suchen. Sie zog den Arm wieder aus seinem Bauchnabel heraus und zeigte ihm, was sie in der Hand hielt. Es war sein Herz. Allerdings passte es nicht ganz durch die Öffnung und blieb klemmen.
„Was machst du da, Nad? Tu das wieder rein!“
„Nie im Leben! Ich hab doch gesagt, dass ich dein Herz gewinnen kann, oder? Ausserdem ist es viel zu gefährlich, wenn ich wieder hineingehe, die Öffnung geht schon zu.“
Tatsächlich – der Bauchnabel zog sich um Nadias Hand und das Herz zusammen. Sie befreite ihre Hand. Erzürnt über den einen Verlust umschlang der Nabel um so fester sein zweites Opfer.
Nadia schluchzte:
„Peter, zählt das auch als gewonnen? Ich meine, ich hätte es ja fast geschafft, aber dann ist mir der scheiss Nabel dazwischengekommen...“
„Nadia, halt die Klappe, sonst passiert bald was!“
Sie sah ihn mit durchnässten Augen an. Dann wanderte ihr Blick zum Zentrum des Geschehens. Tatsächlich geschah was: Das Herz sah aus wie ein überfüllter Wasserballon, den man mit allen Mitteln erwürgen wollte. Als der Ballon schliesslich platzte, spritzte das Blut bis an die Decke und von der Decke tropfte es wieder hinunter.
Nadia begann aus lautem Halse zu schreien. Sie versuchte sich das Gesicht sauber zu wischen, doch dabei bestrich sie bis anhin verschont gebliebene Stellen. Peter konnte nichts anderes mehr tun, als aus leeren Augen zu starren – sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Der bemerkenswerte Abstand zwischen Ober- und Unterkiefer zeugte von der panischen Erkenntnis, die ihn vor Kurzem noch getroffen hatte. Seine Hände schwebten; sie hatten in einer rhetorischen Eleganz ihre Ewigkeit gefunden.
Dann kippte er vom Bett und fiel.
Gerade als er in Nadias Geschrei einstimmte, riss ihn der harte Boden aus dem Schlaf.
Als er sich beruhigt hatte, rieb Peter sich den Halbschlaf aus den Augen und rappelte sich auf.
Er wischte sich einen Schweisstropfen von der Brust und strich bis zum Nabel weiter, der lediglich so gross war wie eine Rosine. Mit Erleichterung stellte er fest, dass sein Herz schlug, wenn auch etwas schnell.
Die Morgendämmerung, sowie die Befürchtung erneut zu träumen, verhalfen ihm zur Entscheidung, wach zu bleiben.
Er ergriff das Badetuch und war überzeugt, seinen Geist mit eiskaltem Wasser wachrütteln zu müssen. Unter der Dusche überlegte er es sich allerdings rasch anders. Kaltes Wasser war eine furchtbare Qual, wenn man müde war und die Möglichkeit bestand, mit einer simplen Handbewegung warmes Wasser heraufzubeschwören.
„Das Schöne an solchen Alpträumen“, dachte er, während er sich überschwemmen liess, „ist wenn man aufwacht und feststellt, dass die Sonne trotzdem scheint.“
Amüsiert über den philosophischen Touch seiner Gedanken fing er an zu kichern. Dann zielte er mit der Dusche auf seinen Bauchnabel und bespritzte ihn mit so viel Wasser wie nur möglich.
„Da! Und da! Nimm das! Du kannst mich mal, bekloppter Bauchnabel!“
Bevor Peter zur Arbeit ging, rief er Nadia an. Nach mehrmaligem Klingeln nahm sie ab. Sie klang niedergeschlagen, als sie sich flüsternd für irgend etwas entschuldigte. Peter entschuldigte sich seinerseits für den Krampf und wollte sich mit ihr verabreden.
„Peter, das ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ich dich die nächsten drei Tage noch sehen werde. Ich habe gestern Abend das Kunststück fertiggebracht, die Treppe hinunterzufliegen. Höchstwahrscheinlich ist etwas gebrochen. Heute muss ich zum Arzt, wenn nicht gar ins Spital. Ich hoffe du verstehst mich.“
„Oh? Dann wünsch ich dir jedenfalls viel Glück und gute Besserung.“
„Danke, werde ich gebrauchen können. Achja, Peter, stell dir vor, heute habe ich von uns geträumt.“
„Was!? Du auch?“
„Ja. War allerdings kein schöner Traum.“
„Meiner auch nicht, stell dir vor! Hast du mir zufälligerweise das Herz herausgerissen?“
„Schon? Hab ich das in deinem Traum? Okay, ist auch nicht wichtig. Meiner war schrecklich. So schlimm, dass ich ihn dir nicht erzählen will. Ich sag dir nur; heute Morgen war ich wirklich froh, als ich endlich aufwachte und Sonnenlicht auf meine Augenlider fiel.“
Peter musste grinsen. Nadia war ihm verdammt ähnlich. Im Grunde genommen waren sie das perfekte Paar und die leise Befürchtung, sie habe ihn fallengelassen, konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erklären. Nur weil sie ihm am Vorabend den Kuss verweigert hatte? Das war lächerlich.
Aber ihr Traum interessierte ihn dennoch brennend.
„Sag mir was du geträumt hast, ich will es wissen.“
„Nein, sag ich dir nicht. Musst du nicht ohnehin bald zur Arbeit, Peter? Ich melde mich mal wieder.“
„Aber...“
„Nein, Peter, nichts ‚aber‘!“
Bevor er noch etwas erwidern konnte, trennte sie die Verbindung.
Von seiner einstigen Effizienz war im Geschäft nichts zu sehen. Seine grauen Zellen waren zu sehr damit beschäftigt, die Ereignisse, der letzten vierundzwanzig Stunden und insbesondere das Telefongespräch mit Nadia wiederzukäuen. Die Ergebnisse waren alles andere als erfreulich. Peter begriff nichts, ausser dass Nadia gelogen hatte.
„Es ist viel zu einfach“, dachte er, als er in den Bus stieg, „bei Gelegenheit kann jeder schnell die Treppe hinunterfliegen. So entzieht man sich auf wunderbare Weise irgendwelchen Verabredungen!“
Das Spital war zweifellos nur eine billige Ausrede. Das war eine sehr schwache Lüge, aber keine schlechte für die Not. Und immerhin wusste er jetzt, was sie von ihm hielt.
‚Höchstwahrscheinlich ist etwas gebrochen‘, hatte sie gesagt. Die Worte jagten ihm durch den Kopf und summten wie eine im Kleiderschrank eingeschlossene, fette Fliege.
Höchstwahrscheinlich ist etwas gebrochen, flüsterte er, höchstwahrscheinlich mein Herz!
Es wunderte ihn, warum er am Morgen noch nicht fähig gewesen war, diese Notlüge als solche zu identifizieren. Wäre da nicht noch das Handicap der nachhallenden Liebe gewesen, so hätte er sein Schimpfwörter-Repertoire durchwühlt, um Nadias Namen zu schänden und er hätte seinen Frust als Aggressivität an die freie Luft geschickt.
Doch er stand reglos da, brodelnd im Innern, ausdruckslos gegen aussen.
Dank einer alten Frau, die am selben Ort wie er aussteigen musste, hielt der Bus an. Peter selbst hatte den Halt nicht verlangt und wäre weitergefahren – so weit wie möglich.
Zuhause angekommen, opferte er seinem angeschlagenen Selbstbewusstsein einen Six-Pack Bier. Bald wäre Nadia wieder seine hübsche Freundin, die nach ihrer kleinen Krise zurückkommen und mit ihm ins Bett gehen würde, um ihn mit ihrer Haut aus Seide zu verwöhnen.
Das durch den Alkohol heraufbeschworene, künstliche Verständnis für ihre Reaktion verursachte eine 180 Grad Drehung seiner Denkart. Die Schuldige wurde zum Opfer und ein anderer Mitspieler wurde angeklagt: Der Bauchnabel.
Peters Sprachrepertoire lieferte eine Fülle an mehr oder weniger passenden Fäkalbegriffen und eine heftige Tirade begann.
Nach einigen Sekunden waren ihm die schlimmsten Wörter ausgegangen und er nahm den letzten Schluck der vorletzten Flasche Bier zu sich. Dann riskierte Peter einen Blick unter sein T-Shirt.
Die Flasche fiel ihm aus der Hand.
Von Ruhe konnte nicht mehr die Rede sein. Der Nabel sah aus wie ein Vulkan. Der Krater war bis an den Rand gefüllt mit Lava und spuckte.
Wie in Trance ergriff Peter ein am Boden liegendes Stück Flaschenglas. Die spitzige Seite voraus, näherte er sich damit dem Loch, das sich deformierte und ausdehnte. Einen kurzen Moment überlegte Peter, ob es nicht doch eher sein Auge war, das ausgestochen werden müsste, weil es ihm im Rausche Streiche spielte. Doch wenn dem so war, dann hatten sich seine Augen ausgezeichnet mit dem Gehör abgesprochen, das ihm die passenden Geräusche lieferte.
Als er sich vergewissert hatte, dass es tatsächlich der Nabel war, der eine seltsame Metamorphose vollzog, begann das Schauspiel ihn zu fesseln. Plötzlich konnte er nicht anderes, als gebannt zuzusehen.
Es ruckte und zuckte. Das Loch hatte eine bedrohliche Grösse erreicht. Lippen, die Peter an auf der Strasse liegende, verbrannte Würmer erinnerten, formten sich, um sogleich wieder zu platzen. Blutige Rinnsale durchdrangen die Lippengeschwüre und verzierten Peters Unterleib.
Obwohl die grässliche Wunde die Mitte seines Körpers schmückte, fühlte Peter an Ort und Stelle keinen Schmerz.
Ein Beben liess seinen Rumpf leicht erschüttern.
Seine Hand hatte sich krampfhaft um die Scherbe geschlossen, dabei bohrte sich scharfes Glas in sein Fleisch. Der daraus resultierende Schmerz jedoch war weit davon entfernt, registriert zu werden. Wie eine Sprechpuppe, der man zu oft auf den Bauch gedrückt hatte, war er damit beschäftigt, stets den gleichen Gedanken zu wiederholen.
„Das kann nicht wahr sein, unmöglich, das... das kann nicht wahr sein, das kann...“
Ein unappetitliches Gurgeln erinnerte ihn abrupt an den Gegenstand zwischen seinen Fingern und dessen Zweck.
Was auf seinem Bauch geschah war der Wahnsinn und es wurde Zeit, dass es ein Ende fand. Als er aber auf den Nabel einstechen wollte, zog sich dieser plötzlich zusammen und wurde so ruhig, dass Peter an seinem Verstand zweifelte.
War das doch nur ein ganz normaler Nabel?
Der Befehl aber war erteilt worden und die Hand gehorchte. Die Spitze schoss in den Bauch und schenkte dem Rosinen-Bauchnabel einen ebenbürtigen, blutenden Konkurrenten.
Obwohl Peter nicht wusste weshalb, lachte er auf.
„Es...“, mit der Hand fuhr er über seinen Bauch und betastete den Nabel, „ist vorbei! Es war wieder nur ein Traum! Es ist der Wahnsinn, der reinste, purste Wahnsinn!“
Peter liess sein T-Shirt wie ein Vorhang fallen, der ein auf der Bühne simuliertes Massaker verbergen muss.
Dann legte er die Glasscherbe beiseite und ergriff das letzte Bier. „Soll mir mal einer sagen, dass ich diese Flasche nicht vollkommen verdient hätte!“, dachte er sich und entfernte den Deckel.
Wie würde wohl Nadia aussehen, müsste sie einer solchen Illusion assistieren? Nicht besonders gut, dachte er, diesbezüglich war sie ein sehr empfindliches Mädchen.
Die Vorstellung zwang Peter zu einem unfreiwillig breiten Grinsen, welches wiederum dafür sorgte, dass die Hälfte des Biers den Mund verpasste und über das Kinn tropfte.
Die nächsten Schlücke gingen einwandfrei den Rachen hinunter und Peter begann sich zu erholen. Dann aber fiel sein Blick auf das T-Shirt. Es klebte regelrecht auf seinem Bauch und hätte in einer spanischen Arena dazu benutzt werden können, Stiere in den Wahnsinn zu treiben. Vorsichtig zog Peter es hinauf.
Da weder Vulkane ausbrachen, noch tote Würmer platzten, liess er den feuchten Vorhang wieder fallen.
„Also doch nur die Scherbenwunde. Gott sei Dank! – ich hab schon befürchtet, es sei das Blut von der Eruption.“, er stand auf und nahm den letzten Schluck Bier. „Ist aber schon erstaunlich viel Blut für diese kleine Wunde!“, stellte er nebenbei fest.
Die ebenso erstaunliche Tatsache, dass ihm die Wunde keine Schmerzen bereitete, fiel ihm nicht auf. Er stellte die leere Flasche auf den Boden und stapfte ins Badezimmer, um dort wieder über den Sinn von Alpträumen und Illusionen zu philosophieren.
Unter dem künstlichen Regen fiel ihm zudem eine nette Idee ein, wie er den Abend beenden könnte.
Nadia klang alles andere als begeistert, als er anrief.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich die Tage melde! Es bringt nichts, wenn du Telefonterror betreibst.“
Er ignorierte ihre Gereiztheit. Ihre Ohren würden sich schon noch spitzen.
„Verzeihen Sie die Störung, geehrte Nadia. Dürfte ich mit Ihnen sprechen?“, wenn er getrunken hatte, gelang es ihm immer wunderbar, seine Stimme zu verstellen. Den devot-verzweifelten Tonfall traf er wie erhofft.
„Was ist passiert, Peter!?“
„Sehr viel ist passiert. Sehr Schlimmes. Zum einen mit dem Bauchnabel und zum anderen hat mir das Fehlen deiner Küsse hart zugesetzt.“
„Was ist mit dem Bauchnabel?“, sie klang fast ein wenig erschrocken. Die zweite Bemerkung ignorierte sie.
„Er hat sich verändert. Aber die Geschichte erzähl ich dir später. Zuerst möchte ich mich über den Zustand deiner Verletzung erkundigen. Wo hast du dich eigentlich verletzt?“
Sie schwieg. Das Thema schien ihr nicht zu gefallen.
„Es interessiert mich, weisst du. Ich vermisse deine Küsse.“
Das ‚Küsse‘ sprach er derart schroff aus, dass das Wort keinerlei Zusammenhang mit seiner Bedeutung mehr hatte. Hohn und Abscheu drangen nun durch seine Worte.
„Du kannst schon etwas sagen, oder bist du etwa im Krankenhaus und kannst nicht mehr sprechen?“
„Nein, der Arzt hat gesagt, dass...“
„Nichts hat der Arzt, der Sack ist in den Ferien, die Praxis ist geschlossen. Ich wollte einen Termin wegen dem Bauchnabel.“
Dem Arzt hatte er noch nicht angerufen, aber die Lüge erzielte ihre Wirkung.
Sie verschlug Nadia für mehrere Sekunden die Sprache.
„Ich glaube, wir meinen nicht den gleichen Arzt“, flüsterte sie schlussendlich in die Leitung.
Peter legte eine Kunstpause ein, bevor er nachfragte:
„Achja? Wirklich?“
Diese beiden Worte klangen nach einem schweren Vorwurf, ebenfalls genau auf der richtigen Tonlage ausgesprochen.
„Peter, verdammt, was hast du denn!? Seit dem Krampf bist du so komisch, was ist los mit dir?“
Wut schwang in ihren Worten mit. Peter musste grinsen. Das hatte er bereits an vielen Frauen bewundert: Die Fähigkeit im Unrecht zu stehen und dennoch den Ankläger zu spielen. Wahrscheinlich würde sie ihn noch stundenlang anlügen können und ausrasten, wenn er ihr nicht glaubte.
Daran hatte er aber keinen Bedarf. Ihre Reaktion hatte seine Vermutung bewiesen und er konnte sich damit zufriedengeben, zu wissen, was sie von ihm hielt. Mehr hatte er von ihr nicht mehr zu erwarten. Seine Lust würde mit einer anderen Frau gestillt werden müssen – schade, aber wenigstens hatte er noch den Rest eines durchaus amüsanten Telefongespräches zu geniessen.
„Nimm es mir nicht übel, aber auf deine Frage möchte ich nicht eingehen. Sei doch froh, dass wir uns einig sind. Oder soll ich dir etwa erzählen, mein Onkel aus Amerika käme zu Besuch und ich sei deshalb so komisch, weil ich nicht wüsste, was ich ihm kochen dürfte? Wäre doch beinahe so gut, wie deine Treppe. Meines Erachtens sogar einen Funken origineller. Aber Schwamm drüber.“
„Peter, merkst du nicht, dass du mich quälst?“
Das war ihre Geheimwaffe – das Schild der Sensibilität. Aber diesmal wollte er nicht darauf einfallen.
„Wenn du noch erfahren willst, was mit meinem Bauchnabel passiert ist, dann halt die Klappe!“
So giftig hatte er zu Beginn gar nicht sein wollen, doch im Laufe des Gespräches, hatte er sich mehr und mehr über Nadia aufgeregt.
„In diesem Falle will ich es gar nicht wissen. Behalte es für dich selbst.“
Sie hängte auf.
Peter konnte es nicht fassen. Er starrte auf sein Telefon, als könnte es ihm eine Erklärung liefern. Doch das Telefon schwieg. Ein ungesundes Rot stieg in seinen Kopf. Warum verlor er immer? Es konnte doch nicht sein, dass er bei Frauen immer den Kürzeren zog! Alles hatte er einwandfrei vorbereitet: Das Gespräch, die dramatisierte Bauchnabel-Story. Alles! Und dann hatte diese Schlampe aufgelegt...
Wütend stellte er das Telefon ab. Es war zu teuer, um herumgeworfen zu werden. Dazu waren Kissen und kleinere Stühle wie geschaffen.
Als Peter sich ein wenig beruhigt hatte, stellte er sich vor, was Nadia gerade machte. Vielleicht hatte sie nach dem Gespräch geweint. Es war ihr sicherlich nicht einerlei, dass er ihre Lüge aufgedeckt hatte. Und schliesslich hatte er sie auch, wenn auch auf ganz subtile Art, doch ziemlich beleidigt. Er hatte ja auch ungefähr den Tonfall eingeschlagen, mit dem man Nutten erklärte, dass man nichts von ihnen hielt.
Mit einem in den Mundwinkeln verborgenen Lächeln griff Peter nach seinem Telefon. Bevor er die Arztpraxis anrief, hob er das frische T-Shirt auf, um sich nach dem Befinden des Nabels zu erkundigen.
Es sah beinahe alles normal aus. Die Dusche hatte das meiste Blut wegbringen können und neues war nicht dazugekommen. Die von ihm erschaffene Wunde war verkrustet.
Auch der Nabel selbst rührte sich nicht.
Nur war er doppelt so gross, wie kurz zuvor.
„Teufel!“, fluchte Peter, als er es erkannte. Gleichzeitig drückte er die Direktwahl für die Arztpraxis. Sein T-Shirt hielt er aber hoch und liess den Nabel bis eine angenehme Frauenstimme ertönte nicht aus den Augen.
Nachdem er seinen Namen angegeben hatte, fragte er nach dem Arzt. Dieser sei beschäftigt, erklärte die Stimme, die Peter aufgrund der rauhen Aussprache gewisser Konsonanten dem Ostblock zuordnete.
Peter wollte wissen, inwiefern der Arzt beschäftigt sei, ob er nicht zwei Minuten an den Apparat kommen könnte. Der Assistentin wollte er nichts vom Bauchnabel erzählen. Wahrscheinlich würde sie ihn nicht ernst nehmen können.
„Herr Huber betreut gerade einen Patienten. Wünschen sie einen Termin?“, das ‚r‘ von Termin rollte sie so stark, dass Peter es sich nicht verkneifen konnte, sie nachzuahmen:
„Einen Terrrmin? Ja, am besten noch heute Abend. Es wäre sehr wichtig...“
„Heute ist es leider nicht mehr möglich. Ausser für Notfälle. Wenn jemand schwer verletzt ist, machen wir Ausnahmen. In zehn Minuten schliesst Huber die Praxis. Also müssen Sie morgen zu uns kommen. Wenn sie wollen, können Sie mir jetzt aber schon sagen, um was es geht, dann ist Herr Huber schon informiert, wenn Sie kommen.“
„Es ist dringend.“
„Bluten sie stark, schlägt ihr Herz unregelmässig, haben sie ernsthafte Probleme mit der Atmung oder dergleichen?“
„Nein, nicht mehr, aber...“
„Dann ist es leider kein Notfall.“
Sollte er der Frau vielleicht doch lieber erklären, was das Problem war?
„Sie würde mich auslachen und fragen, ob ich Drogen genommen habe“, dachte er, „schliesslich ist sie ja vom Ostblock, wo man selbst mit einem abgehackten Arm noch nicht zum Arzt geht.“
Und so dringend war sein Problem ja auch wieder nicht, wenn man davon absah, dass der Nabel um einiges schneller wuchs, als Unkraut. Peter starrte ihn an. Es hatte sich noch mehr verändert, als lediglich die Grösse. Es war regelrecht ein Loch entstanden. Ein dunkles Loch, durch das er Einblick in sein Fleisch bekam. Kurz hatte er das Gefühl, dass sich dieses regte, aber nach mehrmaligem Blinzeln, stellte sich zumindest dies als Illusion heraus.
Am Rand des Lochs, türmten sich geschwürartige Lippen auf.
Wie fühlten sie sich wohl an?
„Sagen Sie Huber, dass er seinen Augen nicht trauen wird und dass ich morgen eine schnelle Behandlung haben will“, erklärte er der Assistentin.
„Wie Sie wollen. Morgen um halb sieben in der Praxis, geht das in Ordnung?“
Auf diese letzte Frage konnte Peter keine Antwort geben. Das Telefon war ihm aus der Hand geglitten und auf den Boden gefallen.
Es war eine sehr schlechte Idee gewesen, die Lippendinger zu berühren. Vor allem hatte er die Reaktionsfähigkeit seiner Hand überschätzt.
Fassungslos starrte er seinen Mittelfinger an. An der Spitze fehlte die Haut und ein wenig Fleisch. Vom Nagel war nichts mehr zu sehen.
„Wie mit Nadia, verdammt!“, fuhr es ihm durch den Kopf. Er streifte sein T-Shirt ab, um es nicht andauernd hochhalten zu müssen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Bauchnabel sich ungesehen nur noch schneller verwandelte.
Dann nahm er die noch blutige Scherbe vom Boden auf. Vielleicht würde sie auch diesmal wieder eine Illusion beenden. Anschliessend würde er einen Tee trinken, unter die Decke springen und über seinen Horrortrip lachen. Am nächsten Morgen würde er dem Arzt von seinen chronischen Halluzinationen erzählen und dieser könnte ihm dann eine Dose Placebos andrehen.
Doch als erstes musste er die Mutation seiner Monsterwunde beenden. Wahrscheinlich würde er sich wieder selbst schneiden, aber dieses Risiko ging Peter gerne ein.
Er sammelte all die Kraft zusammen, die ihm der Tag noch übriggelassen hatte, zielte auf eine der Lippen und jagte die Spitze in sein taubes Fleisch. Die Scherbe blieb stecken, Eiterblut spritzte und im Loch bewegte sich etwas. Peter wollte sie wieder herausreissen, aber das Glas glitt ihm aus der Hand.
Als er erneut zugriff, war es mehrere Zentimeter tiefer gesunken. Seine Hand war feucht vor Blut und ihn selbst fesselte das Schauspiel zu sehr, als dass er die nötige Kraft hätte aufbieten können, die Waffe dem Feind wieder zu entreissen.
Dieser begann zu schlucken. Die toten Würmer umklammerten das Glas, um es nach unten zu ziehen.
Peter liess los. Keine Sekunde später war vom Glas nichts mehr zu sehen.
Von der Illusion allerdings schon. Sie blieb und blieb einfach, als wäre sie Realität.
Im ehemaligen Nabel begann es wieder zu brodeln. Die Würmer spuckten ihren Eiter aus. Die Haut platzte und das Loch wurde mit jeder Sekunde grösser und tiefer.
Peter war ins Sofa gefallen. Dort räkelte er sich, bis sein Blick auf das Telefon fiel. Es lag in Griffnähe von ihm auf dem Boden. Wenn schon der Spuk nicht vorbeigehen wollte, so würde er wenigstens sämtliche Ärzte und Polizisten der Stadt wecken, damit sie an der einmaligen Vorführung teilhaben durften. Jetzt konnte ihm niemand mehr sagen, dass es kein Notfall war.
Er beugte sich nach vorne, um nach dem Telefon zu greifen. In diesem Moment ertönte ein Knurren. Peter kümmerte sich nicht darum. Wenn sein Nabel sich plötzlich wie ein tollwütiger Hund benahm, so war das zwar neu, aber auch nicht mehr wirklich erstaunlich.
Er wollte Hubers Praxis wählen, als ihm durch den Kopf fuhr, dass er den Arzt wohl nur noch privat erreichen konnte.
Also entschied er sich für die Polizei.
Als er die Nummer eingab, hörte er eine Stimme.
„Lass das!“
Peter hielt inne.
„Wirf das Telefon weg, oder es passiert etwas!“
„Viel kann ja nicht mehr passieren, ich bin mir mittlerweile so ziemlich alles gewohnt, oder?“, warf Peter den toten Lippen entgegen, überzeugt, gleich dem Wahnsinn zu verfallen.
„Da täuschst du dich aber grausam – ist aber natürlich nur meine persönliche Meinung.“
Ein blutiger Spitz tauchte aus dem Loch hervor. Peter erkannte das Glas, mit dem er dem Spuk ein Ende hatte setzten wollen. Bevor er danach greifen konnte, sank es wieder in seinen Körper.
„Gib her, das Teil ist mir!“, fluchte er.
„Alles mit der Ruhe, hat ja noch mehr davon am Boden. Einen brauche ich aber, du wirst gleich spüren warum.“
Peter hatte nicht mehr zugehört. Er war damit beschäftigt gewesen, die letzte nötige Taste zu drücken, damit die Polizei seinen Anruf bekam. Anschliessend hatte er seine Hände zusammengefaltet und ein verloren geglaubtes Wort in den Mund genommen.
„Gott!“, er krallte sich an dem Wort fest, wie ein seilloser Bergsteiger am Fels, wiederholte es einige Male im Flüsterton und ergänzte: „Bitte hilf mir! Lass es endlich vorbei sein!“
Ein furchtbarer Schmerz in der linken Niere erinnerte ihn daran, dass Gebete nicht immun machen. Sogleich starrte er auf den ehemaligen Bauchnabel. An der Oberfläche bewegte sich nichts, aber eine schlimme Vorahnung erfasste Peter.
Er spürte, wie in seinem Körper etwas auseinandergerissen wurde. Kurz darauf sprudelte eine Welle Blut aus dem Loch und Peter stellte mit Unbehagen fest, dass er schwächer wurde.
Wenn er Widerstand leisten wollte, musste er sich beeilen. Aber wie konnte man sich seinem eigenen Körper widersetzen?
„Hey, was machst du?“, fragte er das Loch und glaubte die Antwort bereits zu wissen.
Es dauerte einige Sekunden, bis der ehemalige Bauchnabel antwortete. Er schien damit beschäftigt zu sein, den Foltermeister des Körpers zu spielen, was Peter mal in den Nieren, mal wieder in der Magengegend erfahren durfte.
„Ich schneide ein bisschen herum. Wenn du genug hast, schreist du einfach und dann besprechen wir die Bedingungen unseres zukünftigen Gemeinleben.“
„Kann denn der Scheiss nicht endlich aufhören!?“
Peter war sich selbst nicht sicher, ob er die Frage an alle allmächtigen Götter richtete, damit sie den Horrortrip beendeten oder an den Bauchnabel persönlich.
Eine Antwort erhielt er, wortlos aber unmissverständlich.
Seine Blase wurde durchbohrt.
Als seine Schreie langsam verklangen, vernahm Peter wieder die Stimme auf seinem Bauch. Zwischen gurgelnden Lauten stellte sie die Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben dar.
Der erste Punkt bekräftigte ein Waffenstillstandsabkommen beiderseits, von dem vor allem Peter profitiert hätte.
Bei dem zweiten begann es sehr unangenehm zu werden. Neben dem dritten wiederum erschien dieser wie eine unter besoffenen Freunden mit einem Handschlag unterzeichnete Abmachung.
Der dritte übertraf alles:
„Du musst mich mit deinem Fleisch ernähren.“
Peter sass wie erstarrt da. Er konnte nicht anders.
Das Loch sprach weiter, es schien ihn vom Handel überzeugen zu wollen:
„Deine Hände zum Beispiel. Oder ein Auge, das lass ich auch als Fleisch durchgehen.“
Das ‚Nein‘, das Peter darauf flüsterte, war der vorletzte Fehler, den er machte.
Sogleich begann eine rasende Glassplitterstecherei auf seine Blase. Unerbittlich wurde er für die Ablehnung des Vertrags bestraft, bis er schliesslich ein ‚Ja‘ in seine Schreie mischte. Der Schmerz aber hörte nicht mehr auf, sodass Peter seinen zweiten Fehler begang:
Instinktiv presste er seine Hand auf den Unterleib, einem Verletzten gleich, der die wunde Stelle entlasten und schützen will.
Dabei steckte er sie genau in die Höhle des Löwens.
*
Schweissgebadet wachte Nadia auf. Ein bitterer Geschmack klebte in ihrem Rachen.
Sie hatte seinen Namen geschrien. Jetzt hallte er in ihrem Kopf nach. Wieder hatte sie von ihm geträumt. Wieder das Gleiche. Die Bilder waren eine Qual. Sie öffnete den Vorhang und fing den Sonnenschein mit der Stirn auf.
Zum Glück nur ein Traum! Zum Glück wieder nur ein Traum!
Doch der Sonnenschein vermochte die Übelkeit nicht zu verdrängen. Und die Bilder wollten nicht gehen. Nadia riss sich aus dem Bett und torkelte zum Waschbecken. Dort versuchte sie ein letztes Mal die Bitterkeit hinunterzuschlucken.
Dann übergab sie sich.
Als sie sich den Mund abgewischt und ein Glas Wasser getrunken hatte, rieb sie sich den Schlaf aus den Augen. Je klarer sie mit ihnen sah, desto weniger war sie auf das innere Auge angewiesen.
Das Telefon klingelte.
Peter?
„Bei dem, was der mir gestern gesagt hat, braucht er wirklich nicht mehr anzurufen“, dachte sie uns ging ins Arbeitszimmer. Ohne sichtliche Eile ergriff sie den Apparat und sah auf den Display.
„Tatsächlich, Peters Nummer...“
Einen Augenblick lang kämpfte sie mit dem Gedanken, nicht abzunehmen und zurück ins Bett zu gehen, aber Peter hätte ihr gleich nochmals angerufen. Und ausserdem hatte er ihr noch etwas vom Bauchnabel erzählen wollen. Vermutlich brannte er darauf, sie mit einer selbst erfundenen Story zu schocken.
Um sie für ihre Treppensturz-Lüge zu bestrafen.
Die Lüge war tatsächlich mehr als billig gewesen, aber was hätte sie ihm sonst sagen sollen? Dass sie ihn aufgrund eines Traumes nicht sehen wollte? Das sie Angst hatte – wie ein kleines Kind, das sich weigerte, in den Estrich zu gehen, weil man ihm erzählt hat, dass dort oben ein gefrässiges Krokodil wartet?
Sie nahm ab.
„Ja?“
„Guten Morgen Frau Rechsteiner. Sie hatten bis vor Kurzem noch Kontakt zu Peter Albrecht. Sie waren seine Freundin, stimmt das?“
„Wer sind Sie?! Was ist passiert?! Ja, das stimmt.“
„Ich bin Fred Bauer, von der Polizei“, erklärte der Anrufer ihr und im weiteren Verlaufe des Gespräches wechselten Nadias Gesichtsfarben von kreideblass zu einem mindestens ebenso ungesunden Grau.
„Mein Gott – nein, das kann nicht sein, mein Gott...“, flüsterte sie, wenn sie nicht gerade dem Polizisten etwas sagte.
Als Bauer erklärte, Peters Tod weise höchst seltsame Eigenarten auf und liesse sich schwer diagnostizieren, wusste sie genau, dass die Polizei sie um Hilfe ersuchte.
Obwohl etwas in ihr sich heftig dagegen sträubte, erklärte sie sich mit einem Nicken bereit, so schnell wie möglich zu erscheinen. Dann stellte sie fest, dass Fred Bauer ihr Nicken unmöglich sehen konnte und übersetzte es rasch in die Sprache.
„Ja, ich komme.“
Bauer führte sie in Peters Wohnzimmer. Ein weiterer Polizist wartete an der Türe. Peter lag reglos im Sofa. Sein T-Shirt, Scherben und das Telefon lagen verstreut auf dem Boden. Peter hatte den Mund weit aufgerissen und schien selbst über das Leben hinaus seinen Todesschrei ausstossen zu wollen. Auf dem ganzen Bauch klebte Blut und Eiter. Dem Toten fehlte eine Hand. Aus einer monströsen Wunde am Bauchnabel hingen Eingeweide.
Bevor der Polizist seine Frage stellte, gab Nadia die Antwort:
„Nein, dieses... Loch habe ich noch nie gesehen. Aber am grässlichsten ist das... das was dort hinaushängt.“
Sie deutete mit dem verletzten Zeigefinger auf die Eingeweide. Der Polizist sah ihr nicht zu uns starrte auf den Boden.
Als er sprach war ihm der Ekel auf dem Gesicht abzulesen.
„Ja, genau das! Furchtbar, nicht? Manchmal...“, Bauer schien zu zögern, als befürchtete er, etwas Lächerliches zu sagen, „manchmal habe ich das Gefühl, dass es sich bewegt.“
Tatsächlich bewegte sich das Loch. Nicht immer, aber immer öfter. Nadia zitterte. Jetzt würde der Horror erst richtig anfangen. Zwei Mal hatte sie bereits die Ehre. Sie kannte ihn so gut wie auswendig, dennoch raubte das keinesfalls den Schrecken – viel eher verstärkte es ihn.
Der Rand der Wunde zog sich etwas zusammen. Plötzlich sah es nicht mehr wie irgendein Loch aus, sondern wie ein übel zugerichteter Mund. Lippen platzten und spritzen Eiter auf den ohnehin schon beschmierten Körper. Sie sahen aus wie verbrannte Maden, oder dicke Regenwürmer, die sich auf der Strasse mit letzter Kraft dem Sonnenlicht zu entziehen suchten. Etwas halbwegs Durchsichtiges stieg aus dem Mund und schnitt die hängenden Eingeweide ab. Sie flogen dem Verstorbenen auf die Hose.
Dann begann der Mund zu sprechen.
„Dich kenne ich!“
Nadia starrte ihn an, brachte aber kein Wort heraus.
„Ja dich. Ich habe deinen Finger wiedererkannt. Gib ihn mir!“
Ihr Blick fiel auf den Zeigefinger. Warum nur hatte sie ihn wieder ausgestreckt?
„Was willst du?“, stotterte sie.
„Deinen Finger, den ganzen diesmal! Er schmeckt gut.“
Nadia wich einen Schritt zurück.
Das konnte nicht wahr sein! – Genau die gleichen Worte, genau das gleiche Bild, genau der gleiche Geruch nach Schlachthaus und öffentlicher Toilette.
Der Polizist neben ihr murmelte unverständliche Worte und konnte sich nicht entscheiden, ob er die Dienstwaffe ziehen, oder in die Hose machen sollte.
Nadia wusste genau, was der Nabelmund als nächstes sagen würde.
„Gibst du ihn mir nicht? Auch wenn ich dich mit der Hand deines Geliebten darum bitte?“
Plötzlich ragte ein Finger aus dem Mund. Es folgten vier weitere. Der Mittelfinger war ganz nach hinten geknickt worden, er lag auf dem Handrücken und zuckte, vergeblich bemüht, seine übliche Stellung einzunehmen.
Der Daumen reckte sich Nadia entgegen, während die übrigen Finger sich drei andere Himmelsrichtungen aussuchten.
Bauer wollte etwas sagen, doch mehr als ein Stottern kam nicht zustande. Sein Blick übernahm die Rolle des Erzählers und berichtete von den Gefühlen des Polizisten und dem Tohuwabohu in seinen Gedanken. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er den Schrecken wirklich glauben, oder als Halluzination abhaken sollte. Sein Körper war wie gelähmt, nur seine Finger kämpften mit einem imaginären Gegner, wie um sich einer namenlosen Folter zu widersetzen.
Nadia wandte sich ab und ging auf die Türe zu. Die Übelkeit in ihrem Rachen gewann an Substanz.
Gesehen hatte sie genug. Was noch folgen würde, wusste sie nur viel zu genau.
Die Wurmlippen würden Peters Hand gänzlich ausspucken, um anschliessend ein Sortiment verschiedenster, aus dem Körper geschnittener Eingeweiden zu präsentieren.
„Liebst du Peter immer noch?“, würde das Loch sie fragen, „wenn ja, kannst du auch mich lieben. Ich bin im Grunde genommen er. Weisst du, ich würde dich gerne küssen und verschlingen! Eigentlich steht mir das laut Vertrag sogar zu. Bedauerlicherweise ist der aber nicht in Kraft getreten, da ich gegen Punkt 1 verstiess.“
Dabei würde das Loch Eiter, Blut und ein Stück des Dünndarmes geifern.
„Du liebst ihn nicht mehr? Schade. Wirklich schade. Jaja, es heisst ja auch ‚Bis das der Tod euch scheide‘, ich weiss schon. Willst du ein Souvenir an seine Liebe haben? Schau mal, was ich für dich geholt habe!“
Das Herz.
„Nimm es, wenn du willst!“
Ihr Herz schlug den Rhythmus eines afrikanischen Kriegstanzes.
Und wenn sie es diesmal nähme? Würden die Wurmlippen es dann nicht zerquetschen?
Doch sie hatte das Zimmer bereits verlassen. Der Traum brauchte kein drittes Mal zu Ende geträumt zu werden. Das Herz musste kein drittes Mal vor ihren Augen zerplatzen.
Sie lief am zweiten Polizisten vorbei. Er hatte ihr den Rücken zugedreht und schien an seinem Verstand zu zweifeln. Jedenfalls verneinte sein Kopf alle Realität. Den Mund hatte er fest zugepresst und seine Augen stierten die Wand an, als wollten sie demnächst aus der Höhle springen.
Abrupt drehte er sich um und warf einen Blick in Peters Wohnzimmer. Was geschehen musste, geschah.
Er verlor die Kraft, den Mund weiterhin zuzuhalten.
Nadia torkelte die Treppe hinunter. Mit jeder Stufe wurde es ihr schlechter.
Und den erlösenden Sonnenschein vermisste sie immer mehr.
Im Flur vor der Türe liess sie alles aus ihr hinaus, was von den Mahlzeiten noch übrig geblieben war und sackte zusammen.
„Nur einen kleinen Schimmer, nur auf meine Stirn!“, flehte sie Gott an, „damit ich weiss, dass alles nur ein Traum ist!“
Und da Gott nicht antwortete, fragte sie sich, ob Alpträume und Realität vielleicht das Gleiche waren. Und ob gar das ganze Leben ein Traum war. Vielleicht gab es nach der letzten aller Qualen ein neues Aufwachen.
Und nach diesem Aufwachen wieder eine Qual.