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Omas Geheimnis
Überrascht blicke ich von meinen Arbeitsblättern auf, als das durchdringende Klingeln meines Handys ertönt. Kurzerhand schiebe ich den dicken Ordner von meinem Schoß, strecke kurz den Rücken durch und nehme den Anruf meiner Mutter entgegen.
„What‘s up?“, frage ich gut gelaunt in den Hörer, doch die erschöpfte Stimme am anderen Ende der Leitung lässt mich aufhorchen.
„Lina, deine Oma liegt im Krankenhaus.“
Sofort springe ich alarmiert auf, stolpere in den Flur und greife mit wild klopfendem Herz nach meinen abgetragenen Sneakers.
„Was? Was ist passiert? Wo ist sie? Wie schlimm ist es?“, brülle ich vor Panik und krame nach meinen Schlüsseln.
„Entspann dich erst mal ein wenig“, meint sie. „Sie hat keine schlimmen Verletzungen. Nur ein paar Blutergüsse. Das Röntgen zeigte keine Knochenbrüche. Die Ärzte wollen sie nur zur Beobachtung dabehalten. Sie schläft gerade.“
Verwirrt halt ich inne. Verletzungen? „Oh Gott, ist sie etwa gestürzt?“, frage ich noch immer hysterisch.
Meine Mutter seufzt erschöpft, was den Lautsprecher des Handys leicht übersteuert. „Da kommst du nie drauf, sie ist vom Balkon gefallen. Ihr Nachbar hat es bemerkt und sich um sie gekümmert, bis der Krankenwagen da war.“
Ernsthaft? Vom Balkon? Zum Glück wohnt sie im Erdgeschoss, trotzdem hätte das ganz furchtbar enden können!
Nun da ich etwas beruhigter bin, schnüre ich meine Schuhe noch mal ordentlich. Oma Anna hasst es, wenn ich mit losen Senkeln herum laufe. "Irgendwann fällst du mal ordentlich hin!", höre ich ihre mahnende Stimme in meinen Gedanken.
„Wie ist das denn passiert?“, frage ich mehr als verwirrt und verlasse die kleine Wohnung.
„Wissen wir nicht. Seit dein Vater und ich hier sind, schläft sie. Und ich weis nicht, aber ...“
Alarmiert beschleunige ich meine Schritte wieder. „Was weist du nicht?“
„Sie sieht na ja, irgendwie seelig aus.“
„Wie meinst du das? Soll sie etwa einen sinneserweiternden Flug gehabt haben?“, frage ich mit einem Hauch Sarkasmus. Eine Eigenschaft, welche meine Mutter verabscheut, doch meine Oma Anna tickt genauso. Deswegen verstehen wir uns wohl auch so gut.
Entgegen meiner Erwartung geht meine Mutter gar nicht darauf ein. „Kannst du bitte zu ihrer Wohnung fahren und ein paar Klamotten her bringen?“
Mittlerweile bin ich bei meinem Auto angekommen und setzte mich mit Schwung hinein. „Klar bin schon unterwegs. Bis gleich!“
„Danke meine Kleine. Bis gleich!“, verabschiedet sich meine Mutter.
Kleine. Den Spitznamen werde ich wohl nie los. Selbst mit 22 Jahren. Ich werde wohl noch mit 52 die Kleine sein. Egal, ist ja irgendwie süß.
Den ganzen Weg bis zu ihrer Wohnung würfle ich die irresten Vorstellungen durch meine Gedanken, was wohl passiert sein könnte. Ist sie beim Putzen zu motiviert gewesen? Wollte sie die Blumen am Gelände gießen und ist vorne über gekippt?
Endlich habe ich mein Ziel erreicht und schließe die Wohnungstür mit meinem Ersatzschlüssel auf. Ein mulmiges Gefühl überkommt mich, als die Wohnung still und unbeleuchtet vor mir liegt. Normalerweise ist sie immer mit Leben gefüllt. Das helle Lachen meiner Oma, der herbe Kaffeegeruch und die viel zu warme Heizung, welche aus unerfindlichen Gründen das ganze Jahr über läuft.
Nun liegt eine drückende Stille auf meinen Schultern, als ich einen hellen Rucksack mit einer Hose, einem T-Shirt und Schlafanzug fülle, welche fein säuberlich in ihrem Schrank einsortiert sind. Als ich die Schublade mit der Unterwäsche öffne und einen Schlüpfer heraus nehmen möchte, weiten sich meine Augen und ich halte mitten in der Bewegung inne.
Silber blitzt das glatte Metall eines Vibrators zwischen dem weißen Stoff hervor. Völlig unschuldig liegt er da und fristet sein Dasein auf einer Wolke aus Höschen. Ich kann den Blick eine ganze Weile nicht abwenden, und so sitze ich da, auf dem weichen Teppichboden vor dem Schrank meiner Oma und staune nicht schlecht.
Mir entkommt ein belustigtes Schnauben, als ich die Schublade andächtig wieder schließe. Wie gut dass meine Mutter das nicht gesehen hat. Die wäre wohl in Ohnmacht gefallen.
Dennoch steigt ein bisschen Stolz in mir auf. Meine Oma ist auch nur eine Frau wie jede andere, mit Wünschen und Bedürfnissen. Wieso sollte sie diese nicht haben dürfen, nur weil sie alt ist? Nun, befremdlich ist diese Situation nichtsdestotrotz und mich durchläuft ein Schütteln.
Etwas gelöster als zuvor schlendere ich durch die Wohnung. Eine kühle Brise erfasst mich, als ich zum Wohnzimmer komme. Die Balkontür steht noch offen. Klar, wer hätte sie auch zumachen sollen, da Oma Anna ja einen schnelleren Weg gewählt hatte.
Gerade als ich den Plastikgriff in die Hand nehme, halte ich inne. Da liegt ein kleines dunkles Fernglas auf dem Boden. Verwirrt trete ich auf den Balkon hinaus und drehe es ratlos in den Händen herum. Das Teil habe ich noch nie zuvor gesehen. Wann habe ich überhaupt zuletzt ein Fernglas gesehen? Das muss in meiner Kindheit gewesen sein.
Eine Bewegung erregt meine Aufmerksamkeit. Sie kam aus der Wohnung gegenüber. Nur ein Gehweg und ein kleiner Grünstreifen trennen die beiden Wohnblöcke voneinander.
Plötzlich erscheint ein äußerst gut gebauter Mann am Fenster der Nachbarswohnung. Groß, muskulös und nur von der Hüfte abwärts von einem weißen Handtuch bedeckt. Er zieht meine Augen magisch an, als mir das kleine Fernglas in der Hand wieder bewusst wird.
Nur ein ganz kurzer Blick! Schnell husche ich hinter die bunt blühenden Geranien am Geländer des Balkons und linse durch das Fernglas.
Wow, wirklich sehr gut gebaut. Er muss sich etwa in seinen 30ern befinden. Ich stoße ein kleines anerkennendes Pfeifen aus und lasse das Fernglas wieder sinken. Fassungslos lasse ich den Blick von dem kleinen Gegenstand zur Wohnung gegenüber und wieder zurück wandern.
„Oma, du hast doch wohl nicht ...?“ Mein Gesicht wird Purpur, als das Szenario vor meinem inneren Auge Gestalt annimmt. Meine süße Oma Anna, so unschuldig wie ein Reh, beobachtet ihren heißen Nachbarn so intensiv, dass sie sich zu weit über das Gelände beugt, bis sie es übertreibt und darüber fällt.
„Hey! Gehörst du zu der Oma in der Wohnung?“, reißt mich plötzlich eine tiefe Stimme aus den Gedanken.
Ertappt blicke ich auf und sehe jenen heißen Nachbarn am Balkon steht.
„Äh, ja. Ich bin die Enkelin“, stottere ich.
Er nickt verstehend. „Geht es der Lady gut? Hab nur gesehen, wie sie plötzlich gefallen ist. Hab mich um sie gekümmert und ihr die Hand gehalten, bis der Krankenwagen da war.“
„Ja. Ja sie ist stabil. Ist nichts passiert, danke!“
„Ha. Hatte wohl Glück, dass sie auf ein paar Büschen gelandet ist.“
Oh Gott! Das Szenario in meinem Kopf wird immer bildlicher und ich kann mir ein hysterisches Lachen kaum noch verkneifen!
„Dann richte ihr gute Besserung aus. Ist ne tolle Frau, bringt mir manchmal Kuchen vorbei“, sagt er und verabschiedet sich wieder.
„Mach ich, schönen Tag“, nuschle ich überfordert und lasse mich völlig erledigt auf einen kleinen Stuhl sinken. Kein Wunder, dass sie seelig aussieht. Sie hatte tatsächlich einen sinneserweiternden Flug!