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Oma geht online
Es war seltsam zu wissen, dass Oma ihren Verstand verlieren würde.
Noch vor einer Woche, als die ganze Familie in einem Landcafé auf Kaffee und Kuchen gewesen war, schien alles so wie immer. Oma schöpfte, zum Missfallen ihrer Tochter, wieder einmal aus dem Vollen und gab in zunehmender Lautstärke einen deftigen Witz nach dem anderen zum Besten. Dabei sollte nicht verschwiegen werden, dass ihre Ausdrucksweise sich umso zotiger gestaltete, je dunkler die Gesichtsfarbe meiner Frau wurde.
Eine Stunde lang hielten wir durch, dann hatte Oma gewonnen.
Aus den unwirschen Blicken der anderen Gäste war inzwischen ein missbilligendes Murmeln geworden, das jedoch augenblicklich verstummte, als Oma begann, sich aus ihrem Stuhl herauszumühen. Unvermittelt wechselte das Bild: Aus einer unflätigen Person wurde eine zitternde, altersschwache Frau, die die vereinte Hilfe ihrer Familie in Anspruch nehmen musste, um es lebend aus dem Lokal zu schaffen. Meine Frau half ihr aus dem Stuhl und in den Mantel. Unsere Kinder, nebenbei bemerkt: Zwillinge, sammelten ihre Zigaretten, ihre Tasche und den anderen Krimskrams ein, den sie während unseres Aufenthaltes um sich herum verteilt hatte. Ich stützte sie, so gut es ging, und sah mich gezwungen, den anderen Gästen gegenüber eine Entschuldigung nach der anderen hervorzustammeln. Wobei mir natürlich bewusst war, dass dies eigentlich Omas Aufgabe gewesen wäre. Doch was die Regeln von Sitte und Anstand betraf, war Oma taub, blind und stur wie ein Ochse. Ihrer Ansicht nach war es weniger verwerflich, am Sonntag in der Kirche laut einen fahrenzulassen, als einen guten Witz zu verschweigen.
Aber was soll ich sagen, Oma gehörte schon immer zu einer ganz besonderen Sorte von Menschen. Andere Frauen ihres Alters neigten beispielsweise dazu, sich ihr Haar violett färben zu lassen. Oma hingegen, als ihr Friseur ihr einmal einen ähnlichen Vorschlag gemacht hatte, rasierte sich aus Protest die Schläfen kahl und verpasste sich zur Krönung noch einige neonrote Strähnchen.
Auch brüstete sie sich oft und gerne damit, dass sie sich mit sechzig ein Piercing hatte stechen lassen, das sie jedoch, sehr zum Verdruss ihrer Enkel, niemals zeigte. Es sei zu intim, erklärte sie dann immer, und wenn ihre Enkel wissen wollten, was “intim“ bedeute, verbat meine Frau Oma den Mund und schickte die beiden nach oben in ihre Zimmer.
Einige Jahre später musste ihre Tochter sie von der Polizeiwache abholen, weil sie beim Konsum von Marihuana erwischt worden war. Die Beteuerungen meiner Frau, es handele sich um verordnete Medikamente, die Omas Stoffwechseln anregen sollen, wurde nur bedingt Glauben geschenkt. Angesichts der Erklärungsnöte ihrer Tochter, fiel Oma nichts besseres ein, als einen monströsen Lachanfall zu erleiden, wofür sie einen mahnenden Blick des protokollführenden Polizisten erntete.
Doch obwohl wir es inzwischen gewohnt waren, dass Oma mit einer Überraschung nach der anderen aufwartete, hätte keine andere Nachricht der Familie einen größeren Schock verpassen können: Oma war an Alzheimer erkrankt.
Die Nachricht ereilte uns in Form eines Anrufes. Es war Omas Hausarzt, zu dem sie einmal in der Woche gehen musste. Er hatte befürchtet, dass sie aus ihrer Krankheit ein Geheimnis machen wollte, und fühlte sich verpflichtet, uns über ihren Zustand aufzuklären.
Meine Frau, die wohl den größten Schreck bekommen hatte, schnappte sich gleich darauf die Autoschlüssel und war keine zehn Minuten später aus dem Haus.
Während der gesamten Fahrt, so erzählte sie mir später, wurde sie von der alptraumhaften Vision einer sabbernden, alten Frau geplagt, die mit verkrümmten Beinen, ähnlich einer toten Spinne, auf den kalten Küchenfliesen lag.
Als sie schließlich nervös und mit fahrigen Fingern die Tür zur Omas Wohnung aufschloss, hörte sie, wie das Küchenradio in voller Lautstärke die aktuelle Hitliste herunterplärrte. Sie rief nach Oma, während sie von Zimmer zu Zimmer eilte, und entdeckte sie schließlich, alles andere als wackelig auf einer Trittleiter stehend und damit beschäftigt, ihre Küchenfenster zu putzen. Mit weit nach draußen gelehntem Oberkörper, viereinhalb Stockwerke hoch, über den Betongaragen des Nachbarn.
In der Sekunde, als Oma versuchte, an die äußersten Ecken der Außenscheibe zu gelangen, stieß meine Frau einen spitzen Schrei aus. Oma begann zu wackeln, doch obwohl der Abgrund bereits an ihren Füßen saugte, fing sie sich wieder. Letztlich war es dann Oma, die ihre Tochter beruhigen musste.
Als sie gemeinsam bei einer Tasse Kaffee saßen, erzählte Oma von dem eigenartigen Vorschlag, den der Chefarzt der Uniklinik ihr unterbreitet hatte.
Bis zu dem Tag, da man sie verwirrt, teilnahmslos und mit nichts als ihrer Unterwäsche bekleidet am Busbahnhof fand, sollten noch drei Jahre vergehen.
Es dauerte ein paar Tage, bis wir Oma im Krankenhaus besuchen durften. Ihr behandelnder Arzt hatte uns erklärt, dass sie viel Ruhe benötigte, um sich von den Strapazen zu erholen.
Sie war nicht in ihrem Krankenzimmer, sondern natürlich im Raucherbereich. Dort, wo man Gesellschaft fand und wo sie mit ihrem unvergleichlichen Charme und der derben Ausdrucksweise eines Bierfahrers den Raum dominierte. Lediglich ein dicker Verband, der ihren Oberkörper ruhigstellen sollte, und dunkle Augenringe erinnerten an den Vorfall am Busbahnhof und die Nachwirkungen der Operation. Sonst schien sie ganz sie selbst zu sein, und die Alzheimersche Krankheit war wie ein böser Traum - fern und verblassend.
Doch leider war das Wunschdenken, wie wir wussten. Ein wichtiger Teil von ihr war verschwunden und durch eine behelfsmäßige Maschine ersetzt worden. Ein Experiment der Uniklinik, dessen Risiken nicht abzuschätzen waren. Es fehlte an Studien. Es fehlte an Freiwilligen und es fehlte an Gelegenheiten. Für die Ärzte war Oma ein Glücksfall: Wie es ihrem Naturell entsprach, hatte sie, damals vor drei Jahren, kurz nachdem ihre Tochter in Tränen aufgelöst bei ihr in der Küche gesessen hatte, einer Therapie zugestimmt, die sich in zwei Phasen abspielen sollte.
In Phase eins wurde Oma verdrahtet: Man setzte Sonden in ihre Großhirnrinde ein, wo diese von Minute zu Minute Daten über die Aktivitäten einzelner Hirnregionen sammelten und an einen zentralen Rechner im Krankenhaus sendeten.
Anschließend wurden diese Daten analysiert und in Zusammenhang mit Aufgabe und Funktion entsprechend Omas Verhalten interpretiert. Auf diese Weise war im Laufe der Jahre eine mehrere Terabyte große Datenbank entstanden, die eine Vielzahl von Omas Erinnerungen und andere geistige Fähigkeiten enthielt. Jetzt, nach dem ersten schweren Demenzanfall, trat Phase zwei in Kraft.
Die Sonden wurden so konfiguriert, dass die eingehenden Reize ihrer Nervenzellen in Datenbank-Anfragen umgewandelt und über einen Sender, einen kleinen Chip im rechten Schläfenlappen, übertragen wurden. Die Antwort der Datenbank gelangte über einen Empfänger ins Rückenmark, wo die Daten in entsprechende Nervenimpulse neu interpretiert wurden.
Oder, um es einfacher auszudrücken: Oma hatte nun ihre körpereigene IP-Adresse und lief seit einem halben Tag im Online-Modus.
Es wollte mir nicht gefallen, von Oma als einer Art Cyborg zu denken, aber ich ertappte mich dabei, dass ich ständig darauf wartete, irgendeine Art von elektronischem Piepsen zu hören, ähnlich dem eines alten Modems. Wohingegen ihre Enkel wissen wollten, ob sie nun ein Terminator sei.
Oma wieherte vor Lachen, dann drückte sie die Zwillinge an sich. Ihre Mutter fand das weniger lustig. Doch mit einem Blick auf Oma, aus deren Augen der Schalk blitzte, vergaß sie die Ungehörigkeit ihrer Kinder.
Allzu bald jedoch sollten wir herausfinden, dass Oma sich unwiderruflich verändert hatte.
Es passierte auf der Heimfahrt, nachdem wir sie vom Krankenhaus abgeholt hatten.
Oma erzählte gerade wieder einen ihrer berühmten Witze, bei denen meine Frau immer rote Ohren bekam und die Zwillinge vor Lachen laut losprusteten, obwohl sie von den Ausdrücken, die Oma gebrauchte, weniger als die Hälfte verstanden, als sie plötzlich mitten im Satz verstummte.
Überrascht sah meine Familie sie an, während mir, da ich fuhr, nur ein Blick in meinem Rückspiegel möglich war. Trotzdem bemerkte ich, wie sich ein namenloses Entsetzen auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Ihre Augen zuckten wie bei einem verschreckten Tier hin und her, während sie gleichzeitig immer mehr in sich zusammensackte. Dann, wie bei einer Taschenlampe, wenn die Batterien schwach werden, verdunkelte sich das Leben in Omas Augen. Am ganzen Leib zitternd saß sie auf der Rückbank. Mit verständnislosen Augen betrachtete sie ihre Enkel, während ihrer Kehle ein hohes, herzzerreißendes Wimmern entschlüpfte.
Dann war alles, genauso plötzlich, wie es begonnen hatte, wieder vorbei. Die Verwirrung fiel wie ein Schleier von ihr herab, und Oma, der selten etwas peinlich ist, flüchtete sich in eine schweigsame Verlegenheit.
Gleich darauf verließen wir einen längeren Tunnel, und schlagartig wurde mir das Problem bewusst: Oma musste empfangsbereit bleiben! Nur auf diese Weise konnte sie die Daten aus ihrem elektronischen Gedächtnis erhalten. In Zukunft musste sie Tunnel, Straßenschluchten und sogar Ausflüge aufs Land meiden. Denn die Gefahr, dass Oma erneut in ein Funkloch geraten könnte, war nicht zu unterschätzen.
Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Wenige Minuten später war wieder alles beim alten, Oma scherzte mit ihren Enkeln herum wie eh und je. Doch noch eine geraume Zeitlang hielt ich das Lenkrad mit starren und verkrampften Fingern fest. Die Erkenntnis, was Alzheimer für Oma in diesem Fall bedeutete, hinterließ einen tiefsitzenden Schrecken in mir.
Für eine Weile blieb alles ruhig und die Familie folgte wieder ihrem gewohnten Gang. Oma hingegen stellte fest, dass sie alles vergaß, was sich kürzlich ereignet hatte. Sie begann Tagebuch zu führen, doch ähnelten ihre Einträge mehr kalendarischen Strichlisten mit Aufgaben, die zu erledigen waren, als gefühlsbetonten Tagträumereien.
Es war schnell klar, dass Omas neues Leben so nicht funktionierte. Es genügte einfach nicht, die Erinnerungen der letzten vierzig Jahre jederzeit griffbereit zu haben, wenn sie nicht in der Lage war, sich einen einfachen Einkaufszettel zu merken. Hinzu kam, dass sie ihr Tagebuch nicht nur regelmäßig verlegte und nicht wieder finden konnte, sondern gar nicht mehr wusste, dass sie überhaupt eines führte. Somit verfiel sie beinahe tagtäglich erneut auf die Idee, sich alles aufzuschreiben. Keine zwei Wochen später hätte man mit Omas Notizen ein komplettes Bücherregal füllen können.
Schließlich, als ich es nicht mehr mit ansehen konnte, wie sich Oma mit ihren selbstverfassten Aufzeichnungen abmühte, suchte ich ihren behandelnden Arzt auf.
Es war ein recht hitziges Gespräch mit den Spezialisten aus dem Krankenhaus, aber letztendlich einigte man sich darauf, dass Oma einen Computer erhalten sollte. Einen Computer, der in der Lage war, nicht nur Omas Notizen, sondern vor allem jedwede Erfahrung in ihren elektronischen Gedächtnisspeicher aufzunehmen. Schon ein paar Tage später kam ein Techniker und richtete in einer Ecke von Omas Wohnzimmer den neuen Rechner ein.
Oma, die an diesem Tag besonders aufgekratzt war, konnte es kaum erwarten, bis der arme Mann mit hochrotem Kopf ihre Wohnung verlassen hatte, dann stürzte sie sich sogleich auf ihre neue Errungenschaft und hatte alsbald alles um sich herum vergessen. Schon am nächsten Morgen landeten Omas Tagebücher auf dem Müll.
Wenn ich es doch nur geahnt hätte. Man sollte meinen, dass ich es, nach all den Jahren, besser hätte wissen können.
Einige Wochen später bemerkten wir, wie Omas Gedächtnis rapide nachließ, etwas, das wir alle befürchtet und erwartet hatten. Mochten die Ärzte noch so gut und Omas Erinnerungsspeicher das Non-Plus-Ultra der High-Tech sein, Fakt war, dass sie an Alzheimer litt, da braucht man sich nichts vorzumachen.
Nur eines war eigenartig: Omas Gedächtnis schien erstaunlich selektiv zu funktionieren. Es waren nur die schlechten Erinnerungen, die sie vergaß.
Mutter schockierte es am meisten, dass Oma von ihrem verstorbenen Mann sprach, als ob er noch am Leben sei. Mich hingegen erstaunte, dass Oma ihr Alter vergessen hatte.
Ständig redete sie von Partys und Konzerten; sie erzählte uns von ihrem Urlaub auf Ibiza, der über dreißig Jahre her war, und davon, dass sie jemanden kennengelernt hatte, der ihr Avancen machte, wovon ihr Mann nichts wissen durfte. Wir waren sprachlos.
Omas Fantasiewelt wurde von Tag zu Tag bunter, und wir sahen schnell ein, wie sinnlos es war. ihr diese Dinge wieder auszureden.
Eines Tages entdeckte ich Omas Geheimnis.
Es war Freitag, und wie üblich fuhr ich bei Oma vorbei, um die Einkäufe bei ihr abzuliefern, um die sie mich gebeten hatte.
Ich war gerade zur Wohnungstür hereingekommen und stellte die Lebensmittel auf dem Küchentisch ab, als ich aus dem Wohnzimmer ein aufgeregtes Kichern hörte. Neugierig ließ ich die Einkaufstüten stehen.
Ich fand Oma wie üblich am Computer sitzend vor, neben sich eine Auswahl verschiedenster Groschenhefte, die alle davon handelten, dass sich ein armes Mädchen in einen reichen Arzt oder ein reiches Mädchen sich in einen armen Arzt verliebt hatte. Die Männer darin trugen Namen wie Juan, Carlos, Diego oder Marcel und die Frauen hießen für gewöhnlich Laetitia. Es war eben die schlimmste Art von Schundliteratur, die man sich vorstellen konnte, und ich hatte nie verstanden, was Mutter oder Oma daran finden mochten.
Verwirrt sah ich, dass Oma ganz aufgeregt aus einem dieser Heftchen Sachen in den Computer tippte, während sie immer wieder seltsam verzückt vor sich hinlachte. In dem Moment, da sie mich bemerkte, schaltete sie jedoch hastig den Bildschirm aus und begann im ganzen Gesicht vor Verlegenheit rot zu werden, ein Anblick, den ich zeitlebens nicht vergessen werde.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, weswegen Oma so schamhaft reagierte, und als sie es schließlich zugab und sich meine Vermutung bestätigte, war ich schier fassungslos.
Es war das erste Mal, dass ich Oma anschrie und an ihrem Verstand zweifelte, etwas, das ich mich unter normalen Umständen niemals getraut hätte. Denn obwohl sie inzwischen auf die neunzig zuging, konnte sie bissig und launisch wie ein Pitbull sein. Sie hörte nicht zu und mir dämmerte, dass es sinnlos war, mit Oma zu streiten. Schließlich, nach über einer Stunde, in der ich mal einfühlsam, mal gereizt, mal logisch, mal laut mit Oma geredet hatte, gab ich auf. Resigniert und mit einem flauen Gefühl im Bauch verließ ich die Wohnung und fuhr nach Hause. Mir war klar, auch wenn es mir nicht gefiel, dass ich mitschuldig daran war, was Oma gerade tat. Ich wusste, dass sie ein Mensch war, dem man als Kind nicht den Schlüssel des Süßigkeitenladen hätte anvertrauen dürfen, doch genau das hatte ich getan: Ich war es gewesen, der ihr den Computer besorgt hatte.
Aber dass sie soweit gehen würde, ihre Erinnerungen zu manipulieren, war mir nicht in den Sinn gekommen. Die ganzen Ängste und Sorgen, die wir ausgestanden hatten, entpuppten sich nun als Schwindel, und allmählich dämmerte mir die ganze Tragweite dessen, was Oma getan hatte. Sie hatte nicht nur ein paar romantische Liebesabenteuer in ihren Lebenslauf gestrickt, sondern schlichtweg alles gelöscht, an das sich zu erinnern sie keine Lust mehr hatte. Es war sinnlos, das Thema weiterzuverfolgen, denn sie würde einfach alle Bedenken ignorieren, alle Ängste und Zweifel mit einem Tastendruck aus ihren Erinnerungen tilgen. Die einzige Möglichkeit, Oma aufzuhalten, wäre gewesen, ihr den Computer wegzunehmen, aber damit hätte ich ihr auch die Möglichkeit genommen, sich an neue, reale Erlebnisse zu erinnern.
Eine Woche lang sprach ich kein Wort mit ihr.
Als ich jedoch sah, dass meine Teilnahmslosigkeit jeden Tag Oma aufs Neue verletzte, wurde ich weich. Sie hatte in der Tat alles vergessen und ich war der Einzige, der von dem Vorfall wusste. Frau und Kindern erzählte ich nichts von meinem und Omas Geheimnis. Mir fiel kein Grund ein, warum ich es hätte tun sollen. Ich hoffte einfach, dass alles wieder gut werden würde.
Omas Raubbau an ihrem Gedächtnis ging weiter.
Inzwischen wechselte sie ihre Namen genauso häufig wie ihre Kleider. An einem Tag war sie Scarlett O’Hara aus „Vom Winde verweht“, an einem anderen hielt sie sich für Katharine Hepburn aus „African Queen“.
Zu ihrem neunzigsten Geburtstag waren mehr als die Hälfte der Einladungen an fiktive Leute gerichtet, die nur in Omas Erinnerungen und ein paar Schundheften existierten. Doch viel mehr als die Rücksichtslosigkeit, mit der Oma ihr Gedächtnis veränderte, ängstigten mich die Veränderungen in ihrem Wesen. Ihr Verhalten ähnelte immer mehr dem ihrer Traumgestalten, ihre jugendliche Rüpelhaftigkeit verblasste mit jedem Tag mehr.
Ich beschloss, dass es Zeit war zu handeln und Oma einen Riegel vorzuschieben, bevor sie ihr gesamtes Leben löschen konnte.
Doch es war zu spät.
Einen Tag nach ihrem Geburtstag, ich werde nie ihren Gesichtsausdruck vergessen, als sie die Zahl 90 sah, die mit Zuckerguss auf ihrem Kuchen geschrieben stand, fuhr ich los, um mich mit dem Chefarzt zu treffen, der sich mit der Gedächtnisspeicherung befasste.
Man kann sich das Erstaunen des Arztes kaum ausmalen, als ich ihm erklärte, was Oma nun schon seit geraumer Zeit getrieben hatte. Sein Unglaube ging sogar soweit, dass er mich aus der Klinik werfen lassen wollte, bis ihn meine hartnäckigen Beteuerungen endlich dazu bewegten, Omas Daten zu überprüfen.
Es dauerte gar nicht lange, bis seine anfänglichen Unmutslaute verstummten und sich seine Augen vor Erstaunen weiteten. Einige Minuten später drehte der Arzt sich um. Die Art und Weise, wie er in seinem Sessel versunken war, ließ mich das Schlimmste befürchten. Eine Weile saßen wir nur schweigend da. Als ich endlich den Mut aufbrachte und wissen wollte, wie groß der Schaden war, den Oma angerichtet hatte, schüttelte er nur stumm den Kopf.
Wenige Minuten später saß ich in meinem Auto und fuhr zur Omas Wohnung zurück. Dort angekommen, schloss ich hektisch die Tür auf und fand sie schließlich still und leise in der Küche sitzend vor. Doch es war nicht länger Oma, die ich sah, sondern eine mir völlig fremde Frau. Der Teil, der Oma ausgemacht hatte, war unwiederbringlich fort.
Schweigend setzte ich mich dazu und nahm eine ihrer faltigen Hände in die meine, dann verlor ich die Beherrschung und begann hemmungslos zu weinen, während ich in ihre glasigen Augen sah, die nur tiefe Verständnislosigkeit ausdrückten.
Es ist jetzt fünf Tage her, seitdem Oma sich per Knopfdruck selbst getilgt hat, und ich fahre gerade mit ihr zum Krankenhaus. Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich diesen Schritt wirklich gehen soll, aber ein Teil von mir fühlt, dass ich es Oma schuldig bin. Meine Frau und die Kinder glauben noch immer, dass alles wieder gut werden wird. Ich will ihnen diese Hoffnung nicht nehmen. Es wird Omas letzte Fahrt sein, und die Verantwortung werde ich ganz alleine auf mich nehmen.
Aus dem Gespräch mit dem Arzt weiß ich, dass die Alzheimersche Krankheit ihr Endstadium erreicht hat. Was bedeutet, dass das Gehirn so schwer geschädigt ist, dass unter normalen Umständen lebenswichtige Organe wie Herz und Lunge versagen würden – einzig und allein aus dem Grund, weil sie nicht die Information erhalten, dass sie weitermachen sollen.
Im Fall von Oma liegen diese lebenserhaltenden Reizimpulse auf der Datenbank. Der minimale Rest der ursprünglichen Datenmenge, der Omas Eingriff unbeschadet überstanden hat und der nun ihren Körper dazu veranlasst weiterzuleben. Außer diesen Reizdaten ist sonst nichts mehr übrig und fast könnte man zu dem Schluss kommen, dass sich der Computer selbst mit Alzheimer angesteckt hätte.
Schließlich erreiche ich den Tunnel und werde langsamer.
Ein letztes Mal blicke ich in die roboterhafte Maske, zu der Omas Gesicht erstarrt ist.
Dann gebe ich Gas und die Dunkelheit verschluckt uns.
Funkstille.