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[Ohne Titel]
Der kalte Winterregen peitschte auf die nachtschwarze, nur durch wenige Lichter erhellte Stadt nieder. Trotz des stürmischen Wetters draußen herrschte in der kleinen Wohnung gleich neben der Innenstadt eine friedliche Stille. In ihr war es fast völlig dunkel, bis auf den Lichtschein der Straßenlaternen, der durch einige der Fenster schien. Es war ruhig, eine friedliche Stille hatte sich wie ein unsichtbarer Nebel über alle Räume gelegt.
Ich kannte diese Wohnung noch ganz genau. Die Küche, das Bad, die Bilder an den Wänden. Alles war noch genauso wie früher, völlig unberührt. Sogar dieser Geruch, dieses berauschende Gemisch aus Patchouli-Öl und kaltem Zigarettenrauch, nach dem es hier schon früher immer gerochen hat, war noch da. Ich wunderte mich ein wenig, warum sie sie noch nicht geräumt hatten, schließlich war es doch schon eine ganze Weile her, oder etwa nicht? Ich setzte mich an den Tisch und schaute mir die Fotos an der Wand an. Überwiegend Menschen, die ich nicht kannte, doch auch immer wieder ein paar Aufnahmen vom ihm. Sollte ich mich trauen, mal einen Blick ins Schlafzimmer zu werfen? Was, wenn sie immer noch da waren? Würde ich diesen Anblick ertragen? Ich habe ihn danach nicht mehr gesehen, schließlich hatte ich ja angefangen und war demnach auch schon vor ihm am Ziel. Aber ich würde ihn so gern nochmal sehen...
Langsam, wie in Trance, erhob ich mich. Ich hatte plötzlich sein Gesicht wieder vor Augen, sah, wie er lachte, schlief und schrie. Und immer hatte er diesen traurigen Ausdruck in den Augen gehabt. Diesen Ausdruck, der mir innerlich so weh tat, diesen Ausdruck den ich nicht zu ändern vermochte, egal was ich tat.
Schweren Schrittes ging ich auf die Tür zu, die mich geradewegs an den Ort des Geschehens führen würde. Es waren nur ein paar Meter bis dorthin, doch mir kam es unendlich lang vor. Meine Hände zitterten, als sich meine Finger um das kalte Metall des Türgriffs schlossen. Ich hielt einen Augenblick inne, doch entschied mich dann doch dafür, nachzusehen.
Die Tür knarrte, als ich sie vorsichtig aufstieß. Instinktiv und voller Angst vor dem, was mich dort erwartete, schloss ich die Augen und hielt den Atem an, so lange bis mir schwindelig wurde. Schließlich öffnete ich die Augen wieder und sah, dass meine Angst nicht unbegründet geblieben sein sollte.
Das, was ich dort sah, war wohl das Schrecklichste und Schönste, was ich je gesehen hatte! Das, was ich dort sah, waren WIR. Wir beide tot auf dem Bett in seinem Schlafzimmer, in einer riesigen Blutlache liegend. Ich trat näher heran, konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Auf dem Boden lag eine blutige Rasierklinge. Es war die Klinge, die ich benutzt hatte, sein Werkzeug war ein Cutter-Messer. Es hatte einen roten Griff, doch das war eigentlich nicht weiter von Bedeutung, da die Klinge von seinem Blut fast ebenso rot gefärbt war.
Wie friedlich wir dort lagen, festgeklammert an dem anderen. Ich konnte Tränenspuren auf unseren Gesichtern erkennen. Hatten wir etwa geweint? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.
Langsam kniete ich mich nieder und streckte den Arm aus. Dort war sie, die frische Wunde an meinem Handgelenk. Wie tief sie war, sie klaffte richtig. Doch bluten tat sie nicht mehr.
Meine Hand berührte ihn nun sanft und strich ihm vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie kalt er war, kein Hauch von Leben war mehr in ihm. Nichts außer seinem toten Körper war mir geblieben von dem Menschen, den ich einst so sehr geliebt habe und es immer noch tat. Ruckartig zog ich meine Hand zurück und all meine Trauer und Verzweiflung brachen auf einmal in Form eines lauten, erstickenden und markerschütternden Schreis aus mir heraus.
Als ich die Augen öffnete, fand ich mich in seinen Armen wieder. Er hielt mich ganz fest, redete abwechselnd beruhigend auf mich ein und küsste mich immer und immer wieder, damit ich aufhörte zu schreien. Den Rest der Nacht habe ich ihn nicht wieder losgelassen.