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Ohne Chance
Der Eignungstest
Hier, in dieser zwielichtigen Sackgasse, in der zwischen mannshohen Bergen von Müll katzengroße Ratten opulente Feste feierten, stand er nun, am Ende seiner Kräfte, mit dem Rücken zur Wand. Fred hatte den Plan der Gesichtslosen durchschaut und wusste, weshalb sie hinter ihm her waren. Einzig und allein die Gier nach seiner Lebensenergie trieb diese Schattenwesen an. Sie würden ihn fangen, ihn leer saugen, bis auch der letzte Rest aus seinen physischen und psychischen Batterien endgültig in ihren dämonischen Leibern verschwunden sein würde, um dann seine klägliche, verbrauchte Hülle triumphierend anzupissen. Durch triste, ghettoartige Häuserschluchten hatten sie ihn gejagt, vorbei an starren, unbeweglichen Menschenattrappen, die ihn hämisch anzugrinsen schienen. Weiter und weiter, ohne Pause, ohne Aussicht auf Hilfe war er gerannt, bis er sich schließlich an diesem schrecklichen Ort wieder gefunden hatte. Seine Nerven waren aufs Äußerste gespannt, seine Sinne trotz der aufkommenden Müdigkeit in höchster Alarmbereitschaft. Am Rande seines Sichtfeldes, in einem locker aufgetürmten Abfallhaufen neben seinem linken Schuh, krabbelte etwas ausgesprochen Lebendiges. Unzählige gelbliche, fette Maden tummelten sich in einem graugrünvioletten Brei, der hin und wieder bleiche Knochenstückchen und gestückelte Fleischfragmente zur Ansicht frei gab. Angewidert und fasziniert zugleich, blieb sein Blick an dem grässlichen, Übelkeit erzeugenden Bild kleben, bis ein undefinierbares, rasch näher kommendes Geräusch seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Er versuchte, dessen Ursprung zu orten. Und, da! Vom offenen Ende der Gasse her, schob sich ein seltsam anmutendes Gespann auf ihn zu. Eine finstere Kutte ohne erkennbaren Inhalt, da die Kapuze des Umhangs den Kopf vollständig verhüllte, führte eine gigantische Kakerlake an einer grobgliedrigen Kette mit sich. Klirren, Klackern, Schleifen – der infernalische Lärm schwoll an, wurde unerträglich. Näher und näher kamen die Beiden. Die Horrorgestalten hatten ihn beinahe erreicht. Fred hielt den Atem an, presste seinen Rücken gegen das Mauerwerk, als ob er es allein durch seine Körperkraft zum Einsturz bringen könnte. Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg, doch wohin er auch blickte, überall nur Wände und Müll. Und unzählige, grausame Schattenwesen, die sich aus dem Nichts heraus manifestierten. Vor ihm das riesige Tier, das drohend die Vorderbeine erhoben hatte und unruhig hin und her schwankte. Der Kapuzenmann ließ das Monstrum frei, worauf es sich sofort schnell und unglaublich wendig auf sein Opfer zu bewegte. Es stürzte sich auf den Wehrlosen, drückte den Mann zu Boden und hielt ihn in gnadenloser Umklammerung gefangen. Nun näherten sich die mahlenden Beißwerkzeuge Freds rechtem Ohr. Oh, Gott, bitte nicht! Er betete zuerst zu dem einen Gott, dann zu allen Göttern, deren Namen er irgendwann einmal gehört hatte. Neiiiin! Dieser höllische Schmerz...
Freds Herz schlug wie wild, sein Puls raste und er rang nach Luft. Einem ersten Impuls folgend, tasteten seine Finger am Schädel entlang, auf der Suche nach den Ohren. Sie waren da, wo sie hingehörten. Na, klar. Was für ein Narr er doch war!
„Kommen Sie bitte wieder in das Vorstellungsbüro, Herr Krüger.“ Leicht benommen setzte er sich auf, ordnete seine derangierte Oberbekleidung und verließ die Schlafüberwachungskabine.
„Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Fred setzte sich, peinlichst darauf bedacht, seine Schweißflecken an der Jacke vor fremden Blicken geheim zu halten. „Machen wir es kurz. Ihre Zeugnisse sind ganz hervorragend. Exzellente Abschlüsse auch im linguistischen Bereich. Sie beherrschen immerhin - dank absolvierter Volkshochschul-Kurse - drei Sprachen perfekt. Meine Hochachtung! Positiv bewertet wird, dass Sie als ausgebildeter Zahntechniker über eine ausgeprägte Feinmotorik verfügen. Auch das polizeiliche Führungszeugnis und eine Nachfrage bei der Schufa ergaben keine Auffälligkeiten. Kernspin-Tomografie und Langzeit-EKG – alles bestens. Insofern kämen sie für das Belegen von Brötchenhälften in unserer Fast-Food-Filiale sehr wohl in Frage, wenn...“, die Sachbearbeiterin legte ihre Stirn in sorgsam einstudierte Falten, „...tja, wenn die Auswertung ihrer Traum-Aufzeichnungen nicht so wenig zufriedenstellend ausgefallen wäre.“ Gnadenloser Blick aus stahlgrauen Augen. „Sie wissen, was ich meine?“ Eiskalt erwischt.
Freds Zuversichts-Gerüst brach, von der Außenwelt unbemerkt, augenblicklich in sich zusammen. Verdammter Mist! Er hatte es in dem Moment geahnt, als es passierte. Diese blöde Küchenschabe, die aus seinem Unterbewußtsein aufgetaucht war, hatte ihm seine zwangsläufig angepeilte berufliche Laufbahn vermasselt. Scheißvieh! Um einen Rest von Stolz zu bewahren, zupfte er, möglichst gelangweilt aussehend, an seiner Krawatte herum.
Die Dame laberte noch ein Weile dummes Zeug, um ihn dann endlich zu verabschieden. „Wir wünschen ihnen bei ihren weiteren Bemühungen alles Gute, Herr Krüger.“ Händeschütteln. So, das war´s.
Zwei Tage später beim Arbeitsamt.
"Ich verstehe wirklich nicht, wo das Problem bei Ihnen liegt," murmelte der zuständige Arbeitsvermittler in Krügers Richtung. Nicht nur der Stuhl war unbequem.
"Entschuldigen Sie bitte, aber ich ...", setzte Fred zu einer Rechtfertigung an, diese wurde jedoch durch eine tausendfach erprobte Handbewegung des Inquisitors regelrecht abgewürgt.
"Es gibt auch Leute, die wollen gar nicht arbeiten."
In der Stimme des Mannes klang unverhohlener Vorwurf mit. "Und ein bisschen Flexibilität muss man heutzutage schon mitbringen als Arbeitnehmer."
Fred schnappte nach Luft, beschloss aber, lieber keine Angriffsfläche durch provokantes Verhalten zu bieten.
Noch hielt er mit Hilfe meditativer Atemübungen seinen freundlichen Gesichtsausdruck aufrecht.
"Eine Chance gebe ich Ihnen noch, bevor die finanzielle Unterstützung auf Null reduziert wird," verkündete sein Gegenüber plötzlich in großzügigem Tonfall.
"Schauen Sie mal aus dem Fenster." Während sich der Job-Verteiler demonstrativ irgendwelchen Akten widmete, ging Fred wie befohlen zum Fenster. "Sehen Sie die Tankstelle schräg gegenüber?" Krüger nickte devot. "Dort wird ein Kassierer gesucht." Neugierig fokussierte er das Areal auf der anderen Straßenseite.
In einem Gebäude neben der laufenden Waschanlage, deren abgeschwächter Lärm bis zu Freds Ohren drang, konnte dieser in das Innere eines Raumes blicken.
Dort lag auf einem Tisch, Arme und Beine mit Kabelbindern fixiert, bäuchlings ein Mann mit nacktem Oberkörper. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, der Mund lautlos schreiend weit geöffnet. Ein Stilleben des Grauens. Daneben stand eine Person, bekleidet mit einem grauen Kittel, die mit Hilfe einer Pipette Tropfen um Tropfen einer Flüssigkeit auf den von der Tortur deutlich gezeichneten Rücken des Geschundenen fallen ließ. Fred starrte fassungslos auf die Szenerie, die sich ihm bot und wollte eben das Geschehen drüben anprangern, als dort eine Jalousie herabgelassen wurde. Ungläubig rieb er sich die Augen. Ein schrecklicher Verdacht begann, in ihm zu keimen.
"Muss ich dort einen Test machen?", stammelte er krächzend.
"Soviel ich weiß, nur einen kleinen, harmlosen Allergietest," antwortete der Arbeitsvermittler beiläufig.
Fred Krüger hatte verstanden.