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Oh!

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12.09.2011
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Oh!

„Oh.“, sagte sie. „Oh.“ Das war der Moment, wo es ihm irgendwie zu viel wurde. Man stelle sich vor: Oh! Einfach nur Oh! Das Gespräch erstarb augenblicklich und die Geräusche aus der Umgebung schienen plötzlich irrsinnig laut, Vogelgezwitscher, Hundegebell, Kindergejohle, Rasenmäher. Für ihn fühlte es sich an, als wäre ihre ganze Beziehung, als wäre alles was sie jemals als Menschen verbunden haben mochte, mit einem Mal ausgebrannt wie eine alte Glühbirne. Wie eine Raketenstufe: Ausgebrannt, hohl, verbraucht. Nutzlos stürzt sie auf die Erde zu.
Er hatte ihr zu erklären versucht, wie stark doch die Spannung war, die sich in einem jeden Menschen in dem Moment aufbauen musste, wo er Klarheit darüber erlangt, dass alles, aber auch wirklich jedes Detail seiner Existenz, ob Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft spielt dabei überhaupt keine Rolle, ein Rätsel darstellt, das für immer ungelöst und ungelüftet bleiben muss.
Er hatte das ihr gegenüber zu veranschaulichen versucht, indem er die als selbstverständlich erscheinenden Überzeugungen des Lebens an ihrer Wurzel hinterfragte, demontierte und in der Luft zerriss. Er fing damit an, das menschliche Bewusstsein, und alle dasselbe betreffenden Eindrücke und darin ablaufenden Vorgänge, als reines Schattentheater ohne jede Substanz oder Verbindlichkeit darzustellen, versuchte in Folge zu induzieren, dass somit alles was der Mensch jemals als Wirklichkeit bezeichnet und wahrgenommen hat, in dieser Form reiner Humbug sein müsse, eine in ihrer Starrsinnigkeit und Endgültigkeit völlig willkürliche Festlegung, ein apodiktisches Humbugsgebilde, welches bereits der leiseste Windhauch eines kritischen oder auch nur spielerischen Denkens, zerblasen, zerfetzen, vernichten müsse. Die Folge daraus? Das absolute Nichts! Ein epistemologischer Mahlstrom, der alles Fühlen, Denken und Tun der finsteren Leere der Sinnlosigkeit anheim stellen müsse! Er müsse kotzen, heiß und kalt kotzen, wenn er daran denke, wie diese Menschheit, diese Gesellschaft ihre doch vollkommen freie Existenz, in spießbürgerlicher Beengtheit, borniertem Trott, und prüder Verklemmtheit zu verbringen vorziehe, wenn diese freie Existenz, ja das habe er bereits gesagt, doch frei sein müsse, und lustvoll und voller Tanz und Gelächter im Lichte all dieser Sinnlosigkeit! Sinnlosigkeit! Er könne es gar nicht oft genug betonen!

Nachdem sie „Oh!“ gesagt hatte, gingen sie über die Wiese und beobachteten die Leute, wie sie umhergingen, umhersaßen, joggten; Kinder, wie sie alles Mögliche taten. Alles war blauer Himmel, das Grün der Wiesen und Bäume, Spaß an der frischen Luft, Spaß unter Freunden. Alles war: schön eigentlich. Bis auf dieses Oh!, diesen dummen Scheiß, den sie sich erlaubt hatte, diesen dummen runden Mund, der wie eine Null aussah; das war wohl auch ihr IQ, dachte er sich: Null! Oh! Er beneidete sie fast um die Ruhe, die an der Wurzel dieses Lautes herrschen musste, die samtene, friedliche Schläfrigkeit ihrer Welt, diesem Kontinent der Kätzchen und lachenden, fleischigen Babygesichtchen.
Sie erreichten einen Hotdog- Stand, und er kaufte zwei, mit Senf. Eine Horde Kinder kam gelaufen, und raste in unangemessenem Abstand an ihnen vorbei, viel zu knapp, ärgerlich. Was er nun tat, war natürlich unnötig. Einer der vielen unnötigen Gewaltakte des Lebens- naja! Er schnappte sich das letzte Kind am Schlafittchen, schrie es aus nächster Nähe und völlig unartikuliert an – da war noch viel von dem Oh!- Zorn dabei – und drückte ihm den halb aufgegessenen Hotdog ins Gesicht, verteilte schön den Senf über Nase, Mund, Augen und Haare, und zerrieb mit Genuss das weiße Brötchen auf der Visage dieses kleinen Jungen, dieses unschuldigen, nichts Böses ahnenden Kindes, das ihm nie etwas zuleide getan hatte, ja das er nicht einmal ansatzweiße kannte, das nun aber, eine durch seine Grundlosigkeit und vor allem völlige Unvorhersehbarkeit umso schmerzhaftere Schmach erleiden musste.
In dieser Explosion aus Wut und Senf aber, blühte er so richtig auf, fühlte sich in seinem Element – fühlte sich endlich gut! Gut! Dieser mit Zorn angereicherte Brei aus Senf und Brötchen war für ihn das flammende Menetekel des Aufbegehrens seiner apokalyptischen Wut, all sein Stolz und Lebenshass brach sich Bahn, als das völlig wehrlose Kind zu heulen und zu zetern begann, er den Senf dafür umso liebevoller in dessen bereits völlig verklebtes Haar einmassierte, und dessen quengelnde Visage mit dem Hotdog bearbeitete. Ein Gefühl von Stärke erfüllte seinen Körper, ein Gefühl von Macht, wie er es mit einer solchen Wucht noch nicht erlebt hatte. Die Apokalypse würde kommen, da war er sich nun sicher, und er würde sie bringen. Hier und jetzt hatte er den Anfang gemacht, noch in tausend Jahren würden die Menschen darüber reden, was er an diesem Tag mit Senf und Brötchen vollbracht hatte.
Doch sie? Sie würde daneben stehen und Oh! sagen, natürlich! Alles hat schließlich Platz in diesem Oh!, selbst die unfassbarsten Dinge passten da ganz mühelos hinein. Selbst ein gottgleiches Wesen wie er eines war, ein Behemoth, dessen Ausmaße aus dieser irdischen Welt heraus auf die Unendlichkeit des Universums zu verweisen schienen, musste sich der eiskalten Leere dieser Null beugen. Das Kind riss verzweifelt an ihm, während er seine freie Hand zum Himmel erhob. Es war eine Geste der Kraft, doch auf seinem Gesicht lag bloß Traurigkeit. Irgendwo kamen Leute dem Jungen zu Hilfe.

 
Zuletzt bearbeitet:

Was ist denn so unklar? Sie sagt nur "Oh!", er hätte sich aber mehr erwartet. Ich wüsste nicht, wie ich das verständlicher machen soll.

EDIT: Aha, der Kommentar ist verschwunden?

 

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