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Oh Tommy
„Beim nächsten Mal werde ich eine Zigarette in seinem Blut ausmachen. So in eine Blutpfütze reinwerfen, dass es so richtig zischt, verstehst du?“
Als Tommy das sagte, funkelten seine Augen nach wie vor; das Blut, der Schweiß und auch das Sperma an seinen Klamotten waren dabei noch nicht einmal getrocknet.
Tommy begann zu übertreiben. Wann zur Hölle hatte er begonnen so zu übertreiben?!
Mein Handy klingelte und sein Name blinkte auf dem Display.
„Ich hab einen Neuen. Ich weiß, wo er sich rumtreibt, aber nicht genau. Er wird dir gefallen. Du wirst sehen. Er ist … naja, egal. Du wirst schon sehen. Bist du zuhause? Das Wetter ist zum kotzen. Bist du zuhause? Bin in zwei Minuten da. Und dann…“
Das genügte.
Ich klappte mein Handy zu und steckte es zurück in die Hosentasche, ohne meine Konzentration von dem Mäuerchen abzuwenden, auf dem ich einbeinig versuchte die Balance zu halten.
Und dann?!
Was genau war Tommys Problem mit dem Regen? Ich genoss den Regen. Er verdunkelte die Welt und erfrischte gleichzeitig meinen Körper. Zu meiner Linken sah und hörte ich ihn auf dem Boden aufschlagen. Jeder einzelne Tropfen detonierte und erzeugte eine winzige Wasserexplosion. Zu meiner Rechten zog er sich wie Abermillionen Seile auf die Straße, auf der fünf Stockwerke unter mir das gemeine Fußvolk versuchte, sich mit Regenjacken, Regenmänteln und Regenschirmen vor diesem sinnesberaubenden Spektakel zu schützen.
Ich balancierte auf und ab. An der einen Seite des Daches angekommen, blieb ich auf einem Bein stehen und machte auf dem Absatz Kehrt, obwohl ich keine Schuhe mit Absatz trug.
Ein Tropfen traf meine Zigarette und die Glut verabschiedete sich mit einem Zischen und einigen lächerlichen Rauchwölkchen.
Nicht ganz wütend, aber auch nicht unbedingt glücklich, sprang ich von dem Mäuerchen.
‚Und dann…‘, hallte es immer wieder durch den Schädel.
Ich ging übers Dach bis zur Türe, die mich ins Treppenhaus führte. Die eine oder andere Stufe nach unten und ich befand mich in der vierten Etage.
Meine Wohnungstür stand einen Spalt offen. Etwas Licht aus dem Wohnzimmer bildete einen Lichtkeil am Boden des dunklen Flurs. Trotz der kaum vorhandenen Beleuchtung konnte ich nasse Fußspuren erkennen, die sich vom Treppenhaus bis ins Innere meiner Wohnung zogen. Tommy musste schon da sein. Ich öffnete die Tür ein wenig, die Angeln knarrten.
„Tommy?!“, fragte ich still vor mich hin.
Als ich ihn sah, stand er mit dem Rücken zu mir und betrachtete ehrwürdig unsere Hall of Fame und obwohl ich mir sicher war, dass er mich hörte, reagierte er nicht auf mich. Er stand nur da und streichelte sanft mit den Fingern über die Bilder.
„Tommy, wenn du hier schon…“
„Du bist weich geworden, mein Freund“, unterbrach er mich, „Weich. Zu weich. Jedes zweite Bild; jedes zweite hier an dieser Wand zeigt ein Meisterstück. Das Kunstwerk eines stockschwingenden Maestros.“
Er drehte sich um und sah mich an.
„Würdest du doch nur mal einen Stock verwenden.“ Ich versuchte zu lächeln.
„Der Stock ist eine Metapher!“
„Alles klar, alles klar. Hör mal, wenn ich nicht hier bin und du einfach reinkommst, dann mach die Tür zu. Es könnte sein, dass hier…“
„…ein Verrückter einbricht?!…“, fiel er mir ins Wort. Er stieß den Kopf in den Nacken und gab ein schrilles Lachen von sich, „…Ein Wahnsinniger? Davon gibt es bald keine mehr. Keine! Sie werden alle weg sein!“
Ich sagte nichts.
„Verstehst du?! Keiner wird mehr Angst haben müssen!“
„Ich verstehe… Dann zieh dir nächstes Mal wenigstens die Schuhe aus, okay?“
„Das bisschen Wasser macht dieses Loch hier auch nicht weniger verlockend.“
Was sollte ich mit Tommy großartig diskutieren? Er war unverbesserlich.
Ich setzte mich auf die Lehne meines Sofas und zündete mir eine Zigarette an. Hier konnte sich der Rauch in aller Ruhe entfalten, in welche Richtung auch immer. Nicht wie draußen, sondern so, wie er wollte. Ich blies ihn vertikal in die Luft und er hatte freie Fahrt sich in die verschiedensten Kreisel und Ringe zu entwickeln und sich dann festzusetzen, nach eigenem Ermessen in meinen morschen Holzmöbeln, vergilbten Büchern oder den Wänden, die nur noch aus rotem Backstein, ihrem Skelett, bestanden.
„Wie ein Maestro…“, murmelte Tommy vor sich hin, „…er ist weich geworden. Er hat es verloren.“
Armer Tommy.
„Schusswaffen…“, sagte er nun lauter. Ich sollte ihn hören, „…dabei lernen sie nichts. Dabei verstehen sie nichts. Sie verstehen nicht, was sie taten. Sie sind tot. Nur tot, aber sie verstehen nicht. Erst wenn sie verstehen, dürfen sie tot sein.“
Zwecklos.
Als ich aufstand merkte ich, dass ich nervös wurde. Tommy, die bevorstehende Nacht und die Hall of Fame. Ich wurde jedes Mal nervös. Erst schlug mein Herz etwas schneller, dann viel schneller, dann raste es, bis es sich anfühlte, als würde meine gesamte Brust vibrieren. Es pumpte mir das Blut durch die Adern, bis diese zu bersten drohten. Ich versuchte, nicht zu hyperventilieren und runter zu kommen, indem ich tief durchatmete. Beruhigen, ich musste mich beruhigen; noch etwas beherrschen, denn es war noch zu früh. Ich verließ das Wohnzimmer und ging ins Badezimmer.
Tommy kam mir mittlerweile fast so vor, als würde er ständig unter derartiger Spannung stehen. Vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Armer Tommy.
„Also…“, sagte ich, nachdem ich mir zur Beruhigung ein Glas Moonshine aus der Badewanne geholt hatte, „…erzähl mir was über nachher.“
Er hatte sich kein Stück bewegt und starrte immer noch die Polaroids an der Wand an. Er reagierte nicht.
„Tommy?!“
„Ja?! Was?“ Erschrocken drehte er sich mit dem Oberkörper zu mir.
„Heute Nacht…”, wiederholte ich, “…erzähl mir was über heute Nacht.“
„Ja! Heute Nacht! Das wird dir gefallen, das sag ich dir. Dieser „Mann“ verpestet Downtown (als er Mann sagte, malte er mit seinen Fingern Anführungsstriche in die Luft). Kein fester Platz, deswegen sind keine großen und aufwendigen Geschütze möglich. Wir müssen flexibel bleiben.“
„Und du bist dir bei ihm sicher?“
Tommy lachte.
„Ja. Und das ist genau das Lustige an ihm, weißt du. Er hat immer – und ich habe keinen blassen Schimmer wieso – einen riesigen…“
„Stopp!“, unterbrach ich ihn. „Nichts Genaues verraten! Sonst versaust du mir noch die Stimmung.“
Ich grinste ihn an. Er grinste mich an.
„Und das wollen wir natürlich nicht.“
„Nun…“, sagte ich und warf einen Blick auf die Wall of Fame, „…sieht aus, als wärst du heute dran.“
Das letzte Polaroid zeigte eine unscharfe, unterbelichtete Aufnahme eines älteren Herr mit einem sauberen Einschussloch zwischen den Augen. Kein Tropfen Blut zierte seine Stirn. Er hielt die Augen sanft geschlossen und sah aus, als würde er zufrieden im Land der Träume umherwandern.
„Welch Perversion hat der Maestro heute seinem Publikum zu bieten?“
Tommy riss die Mundwinkel nach oben, bis seine Lippen zu reißen drohten und seine aufgerissenen Augen begannen zu leuchten, zu funkeln. Diese Fratze. Dieser Wahnsinn … er sah aus wie ein hungriger, schwuler Kannibale, kurz davor seinem noch lebendigen Abendessen einen Blowjob zu geben.
Er stellte sich gerade hin und räusperte sich.
„Wertes Publikum…“, begann er mit gekünstelter, verstellter Stimme, „…heute darf ich Ihnen einen Stargast präsentieren. Er nahm aus einem einzigen Grund eine sehr weite Reise auf sich: um hier und heute – für Sie – in unserer geliebten Stadt aufzutreten. Um Ihnen die Spannung nicht zu rauben sage ich für den Augenblick nur, dass er hungrig ist; sehr hungrig und wütend und er hört auf den Namen Junior.“, dabei zeigte er auf seinen Rucksack, „Außerdem wird seine Darbietung hiervon unterstützt.“ Er brachte eine Rolle silbernes Duct-Tape zum Vorschein und warf sie demonstrativ von einer Hand in die andere.
Ich applaudierte.
Wir saßen noch einige Zeit auf dem Sofa, rauchten und tranken.
So machten wir es jedes Mal. Das war nun schon seit knapp vier Jahren unser Ritual. Ich hatte die Zeitungen, die leeren Bierflaschen und die Schallplatten, die auf dem Sofa lagen, in die Ecke des Wohnzimmers geworfen. Sollten sich doch die Ungeziefer daran erfreuen, die sich in diesem feuchtfröhlichen Drecksloch pudelwohl fühlten. Wir starrten auf den Fernseher. Dort tobte ein unbarmherziger Kampf zwischen schwarzem und weißem Rauschen. Wir saßen einfach nur da und schwiegen. Wir mussten keinen Plan erstellen oder irgendwelche Abläufe durchgehen. Es war Routine. Jeder kannte seine Aufgaben; wusste was er zu tun hatte.
Wir tranken das letzte Glas, drückten die letzte Zigarette irgendwo auf dem Tisch aus, packten alles, was wir brauchten, und verließen die Wohnung.
Auf den Weg durchs Treppenhaus checkte ich erneut alle meine Manteltaschen. Es war wichtig einen Mantel mit mindesten fünf Taschen zu tragen, um alles zu verstauen, was es zu verstauen gab.
Maske, check.
Polaroid Kamera, check.
Feuerzeug und Zigaretten, check.
Geld, check.
Pistole, check check check. (Das verschwieg ich Tommy.)
Mit einem Gurt hatte ich einen Bolzenschneider an meinem Rücken befestigt. Wir wussten nie, wann wir auf die Schnelle ein Schloss, eine Kette oder einen Zaun ‚öffnen‘ mussten und durch meinen Mantel war dieser vollends vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt.
Eine Tasche oder einen Rucksack nutzte ich nie. Zu viel Gepäck störte nur.
Tommy trug immer einen Rucksack mit sich, aber doublecheckte nie. Das beunruhigte mich, weil sich der Inhalt des besagten Rucksacks jedes Mal aufs Neue änderte. Er ließ seiner Fantasie immer freien Lauf und bediente sich jedes Mal neuer Mittel. Woher wusste er, dass immer alles dort war, wo es hingehörte; fertig und griffbereit? Er vertraute prinzipiell auf seine Handlungen und sah nie zweimal hin. Sollte irgendetwas nicht funktionieren, oder er irgendetwas vergessen, improvisierte er und da Tommy ein widerlicher Bastard war, folgten darauf meist weniger hübsch anzuschauende Dinge.
Als Tommy und ich jünger waren spielten wir immer dasselbe Spiel, wenn wir uns einen Krimi oder einen Thriller ansahen: Wer konnte am schnellsten herausbekommen, wer der Mörder war? Wir wetteten sobald alle Charaktere des Films vorgestellt waren.
Die Einsätze unterschieden sich. Als wir noch kleiner waren, handelte es sich meist um Spielsachen oder um Süßigkeiten. Später wurde um Zigaretten und Geld gespielt. Anfangs belief sich unsere Trefferquote auf ungefähr zwanzig Prozent, doch wir wurden besser und irgendwann wurde es dann ziemlich einfach.
Heute spielten wir das Spiel anders. Ich spielte es anders. Wenn Tommy das Ziel aussuchte, ließ ich mir so wenige Informationen wie möglich geben. Er führte mich dann in die Gegend, in der sich unser Objekt der Begierde befand und ich fand heraus, wen er auserkoren hatte.
Andersherum spielten wir das Spiel nicht, weil Tommy sofort immer weißen Schaum aus dem Mund spritzte, wenn ich ihm erzählte, dass ich jemanden gefunden hatte. Er war ungeduldig und wie ein Tollwütiger wollte er immer alle sofort anspringen und in Stücke reißen.
Diese Nacht gestaltete sich das Spiel als äußerst einfach; aus zwei Gründen. Beim ersten Grund handelte es sich um den starken Regen. Kaum ein Mensch stellte sich dem nassen und kalten Freien, weswegen Verwechslungen beinahe unmöglich schienen. Den zweiten Grund bildete die Offensichtlichkeit. Wir befanden uns in einer dunklen Ecke der Stadt. Die Straßen waren kaum beleuchtet und die hohen Häuser standen leer, weswegen aus den Fenstern keine Helligkeit strahlte. Die einzige Lichtquelle bildete die elektronische Reklametafel einer Werkstatt für Gebrauchtwagen. Pete’s stand dort in großen, flackernden Buchstaben geschrieben und darunter sagte ein dummgrinsender Mechanikerkopf we fix 'em!
Ein trostloser Anblick. Ein Haufen Schrott, umgeben von einem Zaun, dessen oberstes Ende aus drei Reihen Stacheldraht bestand.
Und genau davor stand eine einzelne Person auf einer kleinen Holzkiste und schrie. Ursprünglich wollte er wohl irgendetwas predigen, aber für Außenstehende hörte es sich an wie zusammenhangloses, irres Schreien.
Wir standen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachteten ihn von dort aus. Er plärrte irgendetwas von den apokalyptischen Reitern und den neun Pforten. Ich hörte nicht weiter hin, weil sich schon nach wenigen Worten herausstellte, dass es sich bei diesem Menschen um einen Wahnsinnigen handeln musste, ein Krebsgeschwür, das keinen nennenswerten Beitrag zum Wohlergehen der Menschheit leistete. Zu allem Überfluss hielt er einen großen Bilderrahmen in seinen Händen, einen schweren, hölzernen Prunkrahmen, dessen ursprünglich goldener Anstrich schon beinahe vollkommen der Witterung zum Opfer gefallen war. Er hielt ihn sich vors Gesicht und den Oberkörper und sah damit aus wie ein groteskes, schreiendes Portrait, das uns vom Untergang der Menschheit berichtete. Wieso tat er das?
„Weil er irre ist.“, meinte Tommy leise. Er lag richtig. Dieser Mann dort war ein Wahnsinniger. Zu Gunsten unserer wunderschönen Stadt und dem Frieden, den wir anstrebten, musste er beseitigt werden.
„Fertig?“, fragte mich Tommy.
„Fertig! Viel Vergnügen!“
Wir zogen uns unsere Luchadores-Masken übers Gesicht – ich hatte meine Griffbereit in der Manteltasche, Tommy kramte seine aus seinem tobenden Rucksack – dann gingen wir schnellen Schrittes auf ihn zu. Tommy ging schneller als ich und gab dabei Laute von sich, die an das Lachen eines durchgeknallten Kobolds erinnerten. Armer Tommy und ärmerer Prediger auf der Holzkiste.
Wir blieben vor ihm stehen, näher als es die Wohlfühlzone der Bewohner dieses Landes erlaubte, und starrten ihn an. Er redete weiter und versuchte, uns keine Aufmerksamkeit zu schenken. Wir verunsicherten ihn jedoch. Immer wieder starrte er von oben auf uns herab und begann zu stottern; er verlor häufig den Faden und beendete unvollständige Sätze. Seine Rede war schon vorher zusammenhanglos, aber jetzt gab er nur noch Gestammel von sich; irgendwelche Satzfetzen, als befände er sich in einem Tunnel ohne Empfang.
Irgendwann stoppte er seine Predigt und sah uns verwirrt an.
„W-… Was wollen Sie? Gehen Sie weg!“
Tommy freute sich.
„Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr hängst du an deinem Leben?“
„…“
„Bist du taub? Nein, du bist nicht taub. Ich habe schon mal einen Tauben gesehen und der sah anders aus. Also nochmal… auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr hängst du an deinem Leben?“
„Was wollen Sie?“
Tommy packte ihn am Kragen und zog ihn an sich heran. So nah, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, dann schrie er:
„Wissen. Wie. Sehr. Sie. An. Ihrem. Leben. Hängen, verdammte Scheiße. Und das alles auf einer Skala von eins bis scheiß zehn!“
Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich der Mann fühlen musste, doch konnte es nicht. Tommy hingegen erschien, als wüsste er es. Es verdeutlichte sich durch seinen überlegenen Tonfall und seine einnehmende Körperhaltung.
„Ich weiß nicht z- zwei. Denke ich. Oder nein, drei. Drei.“
Nachdem der Mann das gesagt hatte, ließ Tommy ihn so abrupt los, dass er fast von der Kiste fiel, auf der er stand. Tommys Gesicht war durch die Maske nicht erkennbar, doch seine Augen und seine Bewegungen ließen auf eine deutliche Verwirrtheit schließen.
„Drei?! Wieso drei?! Sieh dich an! Du bist erbärmlich! Woher diese drei Punkte? Ich hätte dir nicht mal eine zwei abgenommen. Führst du in deiner Welt wohl ein lebenswertes Leben?!“
„Nun ja, wissen Sie, man kann doch noch etwas Hoffnung haben und … „
Tommy unterbrach ihn mit einem schrillen Lachen.
„Hoffnung? Hoffnung?! Du stehst auf einer Kiste und schreist wirres Zeug. Mitten in der Nacht. Hier. Wo ist da noch Platz für Hoffnung?!“
„Mein Leben, wissen Sie, ist noch nicht vorbei. Ich habe nach wie vor Hoffnung, dass es sich wieder zum Besseren wendet und außerdem ist das kein wirres Zeug, sondern Überzeugung und …“
„Noch nicht vorbei…“ flüsterte Tommy und sah mit gespielter Betroffenheit auf den Boden.
„Möchtest du an einem Experiment teilnehmen?“
Der Mann starrte ihn an, dann sah er mich zum ersten Mal an. Ich hielt mich im Hintergrund. Tommy war an der Reihe und ich fungierte lediglich als Backup und tat zu diesem Zeitpunkt nichts weiter, als die Tommy-Show zu beobachten.
„Ein… Ein Experiment?“
„Ja, es handelt sich um ein persönliches Experiment. Siehst du, du gabst mir eine Drei auf der Skala. Die meisten Leute geben mir eine Eins. Ab und zu mal eine Zwei, aber nie mehr. Verstehst du? Zählen wir dich einfach mal als Ausnahme.“
„Ich verstehe, aber wie funktioniert nun Ihr Experiment.“
„Folgendes…“, Tommy rieb sich sein Kinn, „…Also alle geben mir eine Eins oder eine Zwei, doch sobald ich dann sowas hier in der Art mache…“, er trat mit voller Kraft gegen die Kiste, auf der der Mann stand, sodass er hart auf dem nassen Asphalt aufprallte. Mit einem Bein stellte sich Tommy auf die Finger des Mannes und quetschte diese zwischen seinen Stiefeln und dem Boden ein, bis sie kurz davor waren, zu brechen. Sein anderer Stiefel drückte das Gesicht des Mannes auf die Straße., wodurch es aussah wie eine Ziehharmonika, was mich zum Schmunzeln brachte. „…dann geben mir plötzlich alle eine…?!“
„Sechs! Nein, eine Sieben!“ Der Mann konnte mit seinem zerdrückten Mund kaum mehr reden
„Eine Sieben!“, rief Tommy und machte mit seinen Armen eine fragende Geste, „Gerade war es noch eine Drei und jetzt ist es auf einmal eine Sieben. Woher kommt das? Ich verstehe es einfach nicht.“
„Sind Sie sowas wie ein Verrückter?“, presste der Mann durch seine verdrehten Lippen.
„Ein Verrückter … Nein. Der Verrückte in dieser ganzen Situation hier ist derjenige, der gleich keine funktionierenden Finger und ein eingedrücktes Gesicht hat. Und wenn ich es mir recht überlege…“, Tommy sah nachdenklich in die Luft, als befände sich dort irgendeine Antwort, nach der er suchte, „…angenommen, ich wäre verrückt. Wäre das schlimm? Ist der Teufel böse, weil er die Bösen bestraft? Ja? Nein? Vielleicht? Wen zur Hölle interessiert‘s?!“
Ich räusperte mich. Tommy nahm sich zu viel Zeit. Er sah mich an, nickte und stieg von dem Mann runter, der sich sofort mit schmerzzerfurchten Miene das Gesicht rieb.
„Und nun, mein Freund, lass meinen Partner und mich das tun, wofür wir geschaffen wurden.“ Tommy stellte seinen Rucksack auf den Asphalt und holte einen großen Stoffsack aus einer Seitentasche. Der Sack war an beiden Seiten offen, eine davon konnte mit einem Reißverschluss geöffnet und geschlossen werden. Der Mann sah uns mit angsterfüllten Augen an.
„Wofür wurden Sie beide denn geschaffen? Wer sind Sie?!“, stammelte er.
„Wir…“, begann Tommy und gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich nun auch mitspielen durfte, „…sind Equitas und Veritas.“
Ich drückte die Arme und Beine des Mannes zu Boden, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Tommy zog ihm den Sack mit dem reißverschlusslosen Ende über den Kopf. Der Mann begann wild zu zappeln, doch ich konnte ihn problemlos unten halten. Wahnsinnige hatten keine Kraft.
Tommy kramte in seinem Rucksack. „Ich komm nicht ans Klebeband, Junior dreht hier drin in seinem Käfig durch. Hab Angst, dass er mir die Hand zerfetzt.“
Ein Mantel mit mindestens fünf Taschen!
„Hast du das Gerät dabei?“, fragte er mich, ich nickte. Er ging um mich herum und nahm den Bolzenschneider von meinem Rücken. Ich musste mich auf den Mann konzentrieren, der vor Panik und Todesangst stärker wurde. Ich sah Tommy nicht und was er tat wusste ich auch nicht.
„Aua!“, „Scheiße!“, hörte ich ihn irgendwo in der Nähe fluchen.
Nach einer Minute kam er wieder, in der einen Hand den Bolzenschneider, in der anderen ein Stück Stacheldraht, das er vom Zaun der Autowerkstatt abgetrennt hatte. Er beugte sich über den Mann, band ihm den Stacheldraht um den Hals und zog ihn fest. Es fing sofort an zu bluten. Der Mann gab irgendwelche gurgelnden Laute von sich und atmete so stark, dass sich an seinem Mund ein kleiner Krater auf der Oberfläche des Sacks abzeichnete. Als er versuchte, den Stacheldraht von seinem Hals zu entfernen, um sich aus dem Sack zu befreien, schnitt er sich tief in die Finger, sodass noch mehr Blut vergossen wurde und bald war alles rot. An seinen Fingern klebte das Blut, das aus seinem Hals strömte und an seinem Hals klebte das aus seinen Fingern. Es war eine riesige Sauerei.
Tommy rieb sich die Hände und grinste.
„Um Längen witziger als Klebeband, findest du nicht?“ Er stand wieder neben mir und wir beobachteten den Mann wie er winselte. Er hatte mittlerweile andere Probleme, als einen Typen, der auf ihm saß und ihn an seinen Bewegungen hinderte.
Ich nickte starr. Jedes Mal, wenn der Mann schrie und sich sein Halsumfang dadurch ausdehnte, bohrte sich irgendwo wieder ein Widerhaken in sein Fleisch und schenkte uns einen weiteren kleinen, roten Fluss. Er gurgelte und wandte sich, wie ein Wurm auf einer heißen Herdplatte.
Tommy war gebannt. Seine Augen wurden größer und größer und er hatte seit einiger Zeit ein Lächeln auf den Lippen, das aussah, als bekäme er es nie wieder los.
„Ah! Fast vergessen!“
Er nahm seinen Rucksack und zog sich Handschuhe an, die er glücklicherweise in seiner Jackentasche mit sich herumtrug. Mit der einen Hand griff er in den Rucksack, mit der anderen schlug er ein paar Mal dagegen.
„Ruhig! Ruhig!“, sagte er immer wieder. Irgendwann sah er mich an und grinste. Er hatte ihn. Behutsam nahm Tommy Junior aus dem Rucksack, der zwar versuchte sich gegen die Hand um sein Genick zu wehren, aber nicht gegen sie ankam.
Junior war eine Ratte, die die Ausmaße einer ausgewachsenen, fetten Katze besaß. Tommy gab ihm prinzipiell nichts Festes zu fressen und vermied es, dass er sich irgendwo seine Krallen oder seine Schneidezähne abwetzte.
Juniors Aggressivität entsprang der Art, wie Tommy ihn behandelte. Er schlug ihn, ließ ihn regelmäßig Hungern und trat beim Vorbeilaufen immer gegen seinen Käfig.
Eine durchschnittliche Ratte konnte man problemlos mit der nackten Hand am Schwanz nehmen und hochheben, ohne dass man etwas befürchten musste. Tat man dasselbe mit Junior, dann, nun ja, sah die Hand danach genau so aus, wie man sich eine nackte Hand eben so vorstellte, die gerade noch eine blutrünstige Ratte mit der Größe eines Babys festhielt.
Glücklicherweise hatte ich das erst ein einziges Mal gesehen. Ein unhübscher Anblick bot sich mir damals, der mir einige Wochen lang Albträume bescherte.
Junior spreizte immer wieder seine Krallen und fletschte seine Zähne. Behutsam setzte Tommy ihn in die andere Öffnung des Sacks, in dem sich der Mann nach wie vor wandte und den er nach wie vor vollblutete, und schloss den Reißverschluss mit einer gekonnten, schnellen Bewegung. Unmöglich für einen Laien. Junior suchte sich immer das nächstbeste Opfer und wenn man es nicht schaffte, ihn schnell genug wegzusperren, handelte es sich bei diesem Opfer um die Hand, die ihn gerade noch festhielt.
Tommy stelle sich wieder neben mich und zündete sich eine Zigarette an. Er zog den Rauch tief ein, atmete ihn langsam und genüsslich aus und wirkte dabei, wie jemand, der nach harter Arbeit seine Lorbeeren erntete.
Er genoss es, wie sich Junior langsam seinen Weg zum Kopf des Mannes bahnte, der lauter und lauter schrie, als er bemerkte, was da auf ihn zukam. Dadurch bohrte sich der Stacheldraht immer weiter in seinen Hals. Tommy lachte.
Ich war sprachlos. Tommy erreichte hiermit einen neuen Level der Brutalität und sogar für einen Perversen wie ihn, schien dieses Schauspiel bizarr.
Der Mann gurgelte und es klang als würde er sich ankotzen. Wir wussten nicht, ob er durch den Stacheldraht langsam an seinem eigenen Blut erstickte, oder ob Junior, der sich mittlerweile auf Kopfhöhe befand, die Zunge unseres Opfers anfraß. Es schimmerten immer neue Blutflecken durch den Sack, die unmöglich von dem Stacheldraht stammen.
Junior drehte durch. Wir sahen nicht, was er genau tat, doch was auch immer es war, erledigte er mit der Hingabe eines aggressiven, hungrigen Raubtiers. Der Mann schrie und versuchte Junior mit den Händen abzuwehren und von sich zu reißen, doch der biss einfach durch den Stoff des Sacks, wenn er eine Hand von außen spürte.
Mir wurde übel bei der Vorstellung, wie es im Innern dieses Sacks aussah. Tommy und ich säuberten unsere Stadt schon seit vier Jahren. Meist handelte es sich um Irre und Wahnsinnige, doch wir erlösten auch anderen Abschaum, wie Schwuchteln, Atheisten oder Bettler. Sie hatten es alle verdient, das stand außer Frage, doch das hier gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht.
„Hol Junior da raus.“, sagte ich. Tommy reagierte nicht. Er starrte weiter gebannt auf den Mann und bewegte still die Lippen, als wollte er Junior auf telepathische Weise mitteilen, so unbarmherzig wie möglich zu sein.
„Tommy!“, sagte ich etwas lauter.
„Ruhe!“, entgegnet er mir, ohne seinen Blick abzuwenden, „Jetzt wird es gerade witzig.“
„Tommy, ich habe gesagt, du sollst Junior da rausholen. Der Mann hat mittlerweile verstanden, dass wir ihn hier nicht brauchen; dass er weg muss. Er wird sowieso verbluten. Du kannst Junior jetzt rausholen.“
Tommy reagierte wieder nicht. Mir gelang es nicht, zu ihm durchzudringen. Vor mir stand nicht mehr Tommy, sondern ein Folterknecht. Ein sadistischer… Wahnsinniger!
Ich zog meine Pistole aus der linken Innentasche meines Mantels und schoss zwei Patronen ab. Eine auf Kopfhöhe des Mannes und eine an die Stelle, an der ich Junior vermutete. Nichts regte sich mehr und ich war mir sicher, dass ich beide getroffen hatte.
Tommy drehte sich zu mir. Er schwieg und starrte mich einige Sekunden an. Er atmete sichtbar schnell und in einem Zeichentrickfilm hätte er jetzt Blitze aus den Augen geschossen und wie ein Stier Rauch aus der Nase gestoßen.
„Was zum Teufel hast du…?! Junior! Wieso hast du das getan?“
„Es reichte.“
„Das hattest du nicht zu entscheiden. Ich war dran. Das hier war meine Runde und für wen hältst du dich, sie zu beenden, bevor ich sie für beendet erkläre?!“
„Ich halte mich für das halbverstümmelte Engelchen, das es irgendwie durch die Pechschwarze Masse geschafft hat, die du deine Seele nennst, um dann auf deiner Schulter zu sitzen und dir zu erzählen, was hier das Richtige ist. Doch du hast auf deiner anderen Schulter kein Teufelchen mehr sitzen, sondern bist zu diesem Teufel geworden. Du bist…“
„Ja?! Was bin ich?“
Er kam langsam auf mich zu.
„Du bist einer von ihnen geworden…“, ich zeigte auf den Toten, „… du bist ein Wahnsinniger!“
„Bin ich das?“, sagte Tommy mit ruhiger Stimme. Ich hob die Pistole und zielte zwischen seine Augen.
„Tommy, mach keinen Scheiß, Mann! Ich bitte dich! Genug ist genug. Der Mann hatte seine Lektion gelernt.“
Tommy stand genau vor mir und presste seine Stirn gegen den noch heißen Lauf meiner Pistole. Ein zischendes Geräusch ertönte und es qualmte. Der Qualm stank nach verbrannter Menschenhaut. Tommy grinste.
„Du… du bist einer von ihnen geworden.“, sagte ich erneut, „Du musst gehen.“
Ich stieß ihn von mir weg und schoss ihm in beide Knie. Er sackte zusammen und stöhnte leise. Nur mit den Händen zog er sich am Boden entlang, wie ein Querschnittsgelähmter, dem der Rollstuhl weggenommen wurde, und hinterließ dabei zwei parallele, rote Spuren.
„Tommy, es tut mir leid.“
„Ach tut es das?“ Er sah mich an und war ziemlich ruhig dafür, dass er keine Knie mehr hatte. Mit einer Geste gab er mir zu verstehen, dass er eine Zigarette wollte. Ich gab ihm eine und er nahm einige tiefe Züge.
„Das war’s dann wohl jetzt, hm?“
„Das war’s dann wohl jetzt. Ja.“
„Nun gut. Ich hatte gehofft, dass es nicht mein eigenes Blut sein würde, aber was soll‘s. Man kann ja nicht alles haben, nicht wahr?“ Er drückte die Zigarette in einer seiner Blutspuren aus und schloss die Augen. Ich zielte, atmete tief durch und drückte ab. Geräuschlos verließ die Patrone die Waffe.
Tommys Oberkörper klappte widerstandslos nach hinten und eine rote Pfütze bildete sich unter ihm. Ich ging zu ihm und beugte mich über seinen leblosen Körper. Armer Tommy. Er war wahnsinnig geworden und nun hatte er die hierfür gerechte Strafe erhalten.
Ich ging zu dem Mann, der gleich neben Tommy lag, und entfernte erst den Stacheldraht, dann den Sack. Ich warf den Sack mit samt Junior ein Stück zur Seite, um der Gefahr zu entgehen, dass darin noch ein Hauch Leben herrschte.
Der Hals des Mannes war komplett zerschnitten und sein Gesicht, beziehungsweise die Überreste davon, waren von Junior in eine Kraterlandschaft verwandelt worden. Die Haut seiner rechten Gesichtshälfte fehlte und der nackte Schädel schimmerte durch. Sogar am Knochen zeichneten sich noch Biss- und Kratzspuren ab. Ich erkannte nicht einmal wo genau sich das Einschussloch in seinem Kopf befand.
Nach einigen Sekunden des Betrachtens zog ich die Polaroid aus meiner Manteltasche, lehnte mich über ihn und drückte ab. Ich schüttelte das Foto so lange bis ich sah, dass man alles einigermaßen erkannte.
Dann ging ich zu Tommy, um auch ihn zu fotografieren. Ich drückte ab, schüttelte das Foto und bemerkte, dass er darauf aussah, wie alle anderen, gewöhnlichen Opfer. Dies schien mir ungerecht ihm gegenüber. Er hatte mehr verdient. Ich sah mich kurz um. Ich suchte nach dem Bilderrahmen des Mannes. Ich hob ihn auf, legte ihn um Tommys Gesicht und drückte erneut ab.
Mir gefiel er nun besser. Er sah besonders aus, eingerahmt von diesem schweren, prunkvollen Ding. Man erkannte nun, dass er nicht nur irgendein Wahnsinniger war, sondern der Wahnsinnige. Der König der Wahnsinnigen.
An der Hall of Fame zeigten nun die letzten drei Bilder Opfer, die durch einen gezielten Schuss zwischen die Augen starben. Von nun an würden sie alle so sterben.