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Offene Beine

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28.02.2002
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Offene Beine

Offene Beine


Meine Großmutter war sehr misstrauisch. So bereitete sie ihre tägliche Medikamenteneinnahme grundsätzlich selber vor. Sie stand in der Küche, nahm Schachtel für Schachtel und ließ aus den Blisterfolien Pille für Pille mit einem "Ping" auf eine Untertasse fallen. Eine Ansammlung der verschiedensten Farben und Formen. Dann schluckte sie eine nach der anderen. Nach jedem Schluck erklang ein genüssliches "Aaahhhhhhh!" aus ihrem Mund. Sie blickte mich dabei triumphierend an, fast schadenfroh. 'Ich werde noch lange leben', sollte das bedeuten. Niemals hätte sie gestattet, dass ich ihre Medikamente vorbereite und sie ihr ans Bett bringe, wo sie den ganzen Tag fernsehschauend, oder lesend verbrachte.
Sie schien an tausend kleineren und größeren Gebrechen zu leiden. Jede Woche verbrachte sie einige Stunden im Wartezimmer ihres Hausarztes. Der war ihr Idol. Eine gottgleiche Heldengestalt, die sich darum bemühte, ihren Körper am Laufen zu halten, dafür Sorge trug, dass dieser alte und bösartige Organismus weiterhin pulsierte. Und tatsächlich: Er hieß Dr. Engel!
Woran sie eigentlich litt war mir nie recht klar geworden. Nicht einmal ob sie überhaupt krank war. Ich glaube, sie hatte sich einfach diesen Status gegeben. Und verbrachte deshalb ihre Tage im Bett.
Sie war 82 Jahre alt. Sie bestand darauf, dass ich sie mit "Großmutter" ansprach. "Oma" war ihr zu distanzlos.
Meine Aufgabe war es, sie zu versorgen.Einzukaufen, kleinere Reparaturen vorzunehmen, mich um die Wäsche zu kümmern. Einmal in der Woche brachte ich ihre Wohnung in Ordnung.
Kochen durfte ich nicht, wie gesagt: sie traute mir nicht.

Leider, leider, leider gehörte es auch zu meinen Aufgaben mich um ihr einziges wirkliches Gebrechen zu kümmern: Sie hatte ein offenes Bein. Und das galt es, täglich neu zu verbinden. Ihr linker Unterschenkel. Wie war das ekelhaft! Der Anblick allein. Grosse
Flächen rohen, stinkenden Fleisches. Der Ablauf war stets gleich. Erst rollte ich den alten Verband von oben nach unten spiralförmig ab. Dann reinigte ich die Wunde. Dazu tauchte ich einen Waschlappen in eine Blechschüssel, die mit einer speziellen Lösung gefüllt war. Als nächstes trug ich mit einem kleinen Holzspatel eine braune Salbe dick auf und deckte alles mit einem Stück Verbandsgaze ab. Zum Schluss umwickelte ich das Bein mit frischem Verbandsmull. Bei all dem kniete ich auf dem Boden, während sie auf der Bettkante saß und mich genau beobachtete. Machtbewusst und skeptisch. Wenn ich ihr bei diesem Ritual weh tat, schrie sie kurz bösartig auf und unterstellte mir Absicht: "Max! Lass das!"
War ich damit fertig, legte sie sich wieder hin, bettete ihren grauen Kopf auf dem Kissen und atmete schwer. So, als habe sie sich angestrengt. "Du kannst jetzt gehen. Vergiss den Müll nicht!"

All diese Aufgaben hatte bis vor sechs Jahren meine Mutter ausgeführt. Wir wohnten damals im selben Mietshaus wie meine Oma. Sie lebte im dritten Stock, wir im Parterre. Seit sie gestorben ist, habe ich die Pflege meiner Oma übernommen. Allerdings nicht ganz freiwillig. Ich sei Schuld an ihrem Tode. Das sagte meine Oma mehr als einmal. Ganz ohne Trauer. Mehr als herrische Begründung für den Dienst, den ich abzuleisten habe. Schließlich sei es meine Schuld das ihre Tochter sich nicht mehr um sie kümmern könne. Ich sei es gewesen, der sie ins Grab gebracht hätte. Dadurch, das ich ihr immer nur Sorgen bereitet hätte. Durch die Jahre in denen ich dem Alkohol verfallen war, durch mein berufliches Versagen, die zahlreichen Rausschmisse. Nicht einmal einen Berufsabschluss hätte ich geschafft. Und dann mein Gefängnisaufenthalt! All das habe sie krank gemacht. Und nur deshalb sei sie gestorben.
Es mag sein, dass ihre feste Überzeugung, dass ich die Schuld am frühen Tode meiner Mutter trage, tatsächlich eine gewisse Suggestivkraft auf mich ausübte. Es stimmt, dass sie sich viele Sorgen um mich gemacht hat. Es stimmt auch, dass ich beruflich gescheitert war. Mit zweiunddreissig Jahren arbeitete ich halbtags als Lagerarbeiter in einer Spedition. Obwohl ich Abitur habe. Was ich dort verdiente, hätte nie zum Leben gereicht. Aber von meiner Oma bekam ich jeden Monat fünfhundert Mark. Und damit kam ich gerade so zurecht. Meine Miete war gering. Ich wohnte in einer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung, ganz in der Nähe meiner Oma.
Aber auch diese Fünfhundert Mark waren nicht Grund genug für meinen Dienst an ihr. Vielmehr war es eine Hoffnung. Die Hoffnung auf ihr Erbe. Sie hatte Geld. Sie war mit einem wohl- habenden Mann verheiratet gewesen, der bereits vor 20 Jahren starb. Und sie war knauserig. Ich wusste, sie war vermögend. Und ich war der einzige Verwandte den sie noch hatte.
Natürlich wäre sie grausam genug gewesen, ihr Geld jemand anderem zu hinterlassen. Ihrem Arzt oder dem Tierschutzverein. Aber das glaubte ich nicht. Denn eines Tages, es ist schon einige Jahre her, machte sie eine überraschende Bemerkung. Ich stand in der Küche. Gerade hatte ich ihr Geschirr eingeräumt und war dabei, in meinem Portemonnaie nach Geld für den Zigarettenautomaten zu suchen. Es sah nicht gut aus.
"Später wird es dir besser gehen!", hörte ich sie auf einmal sagen. Sie stand im Türrahmen und hatte mich beobachtet. Beachtlich war WIE sie das sagte. Ohne die übliche Feindseligkeit, ohne den gewohnten zynischen Unterton. Aber natürlich auch nicht freundlich. Das hätte ich ihr auch niemals abgenommen. Ihre Stimme war ernst, mit einem winzigen Anflug von Trauer. Das war wie eine kleine Offenbarung. Hatte sie noch ein anderes Gesicht?
Jedenfalls war es diese Ernsthaftigkeit, mit der sie gesprochen hatte, Grund genug für mich gewesen, von diesem Moment an fest davon überzeugt zu sein, ihr Erbe einst zu erhalten. Sicher ging sie bereits vor ihrer Äußerung davon aus, dass ich auf ihr Erbe warte. Ihr dürfte vollkommen klar gewesen sein, das sich kein Mensch der Welt diese Behandlung ohne einen handfesten Grund bieten lassen würde. Sie wusste, dass ich auf ihren Tod warte, ihn kaum erwarten konnte. Deshalb war sie sehr vorsichtig. Sie befürchtete ich könnte sie auf eine hinterlistige Art um die Ecke bringen. Etwa eine ihrer Kapseln öffnen und eine andere Substanz hineingeben. Oder ihr Essen vergiften. Ich kaufte zwar oft für sie ein. Aber die Lebensmittel ließ sie sich von einem Mädchen aus der Nachbarschaft besorgen. Sie kochte auch selber. Und ihr Vorratsschrank in der Küche war mit einem Schloss gesichert, genau wie ihr Kühlschrank. Sie hatte extra den Hausmeister kommen lassen, der eine Vorrichtung am Kühlschrank anbrachte, welche das Einhängen eines Vorhängeschlosses ermöglichte. Und die Schlüssel trug sie an einer Schnur um den Hals.

Auch meine Mutter hatte sehr unter ihr gelitten. Oft genug war sie weinend herunter in unsere Wohnung gekommen, setzte sich an den Küchentisch und wiederholte minutenlang "Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr..."

Normalerweise war ich so gegen drei Uhr nachmittags bei ihr. So auch am Montag. Kaum hörte sie meinen Schlüssel in der Tür da brüllte sie auch schon.
"Max! Maaahhhhaaaax!"
Allein der Geruch wenn man die Tür öffnete! Dieser Altenmief. Sie lebet in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Bewohnen tat sie nur eines, eine Art Wohn-Schlafzimmer. Dort hingen auch ihre heiligen Bilder: Fotos und Gemälde vom ehemaligen Familiensitz in Ostpreußen. Eine große Villa, fast schon ein Schloss. Daneben ein Ölgemälde ihres Vaters. Eine herrschaftliche Pose, gestutzter Vollbart, eine Zigarre in der Hand. Fabrikant. Alles sehr beeindruckend. Höhere Tochter. Einzelkind. Gesellschaften, Jagdreviere, Macht, Geld. Neben den Bildern hing ein barockes Kruzifix aus dem 18. Jahrhundert.
Und jetzt saß sie dort in ihrem Bett. Ein pastellfarbenes Nachthemd mit Blumenmotiven. Blumenmotive! Was hatte dieser Drache mit Blumen zu tun? Ausgerechnet Blumen!
Sie schaute fern. Werbung. Ein aufsteigender Jumbojet vor einem orange-roten Himmel, frontal von unten gefilmt.
"Heute ist das Klo dran! Aber mach's richtig!"
Sie sah mich nicht einmal an. Ich putzte das Klo und wechselte eine Glühbirne aus. Dann ging ich in ihr Zimmer zurück und fragte was noch zu erledigen sei. Kurzer Seitenblick auf mich. Blick zurück in den Fernseher. Aber etwas war ihr an mir aufgefallen. Ruckartig blickte sie mich wieder an.
"Wie läufst du überhaupt 'rum!? Rasiere dich mal wieder! Und wie lange willst du noch diese Hose tragen!? Sollen die Leute glauben dass ich mich mit einem Penner abgebe? Diese Haare!"
Es war bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit sie diesen Kommandoton anschlug der keinen Widerspruch duldete. Aber ich wagte ihn, den Widerspruch:
"Wie ich herumlaufe ist meine Sache."
"Hahaha. Heute ist Mäxchen aber mutig. Dann geh' doch, wenn du so mutig bist." Pause. "Nicht? Willst du doch nicht gehen?" Ihre Stimme glühte vor süßlichen Zynismus.
Ich versorgte ihr Bein.

Natürlich hätte ich einfach gehen können. Ganztags arbeiten. Diesen schwarzen Vogel vollständig aus meinem Leben verbannen können. Aber dann wären all die Jahre vergebens gewesen. Die Jahre des Hoffens auf ihren Tod. All die Jahre hätte ich mich für ein Almosen demütigen, beleidigen und verachten lassen. Für nichts! Für gar nichts! Geblieben wäre eine gigantische Niederlage.
‚Wer weiß?’ dachte ich, ‚Vielleicht stirbt sie ja in wenigen Tagen? Oder in zehn Sekunden?’ Jeder Tag, den ich in dieser selbstgewählten Hölle verbrachte, war ein Schritt in Richtung auf mein Ziel. Denn die Zeit war mein Verbündeter, mein Licht und mein bester Freund! Da sie alt war, teilten sich die Zellen ihres verwelkten Körpers immer langsamer. Und irgendwann überhaupt nicht mehr. Dann war meine Stunde gekommen: Zahltag! Dann würde ich auferstehen wie Phoenix aus der Asche! Dann würde ich der sein, der ich bin. Und nie wieder in meinem ganzen Leben hätte ich irgendjemandem einen Verband angelegt.

Neulich allerdings bin ich mitten in der Nacht schlagartig aufgewacht. Bin in meinem Bett regelrecht hochgeschossen. "Zweiundneunzig! Was ist wenn sie zweiundneunzig wird! Oder Hundert, hundertzwanzig!" Ich schrie diese Angst in die Dunkelheit meines Zimmers. Hellwach war ich. Mein Atem ging schnell. Ich stand auf. Machte Licht. Ging Nägel kauend umher. "Oh Gott! Oh Gott! Bitte, bitte nicht!" flüsterte ich.
Den Gedanken, dass sie steinalt werden könnte, hatte ich bis jetzt einfach nicht zugelassen, die Tür zu dieser Vorstellung fest verschlossen gehalten. Aber scheinbar war es mir trotzdem nicht gelungen mich hinters Licht zu führen.
Um der aufkommenden Verzweiflung nicht ganz ausgeliefert zu sein mobilisierte ich gedankliche Gegenkräfte. Sprach in väterlicher Ruhe zu mir. Da ich meinen eigenen Vater nicht kannte, phantasierte ich mir einen wohlwollenden Ben Cartwright Typen zusammen, den ich zu mir sprechen ließ:
"Nur die Ruhe mein Junge. Denke daran: Die Letzten werden die Ersten sein. Wer so fest an ein Ziel glaubt wie du, der kann nur gewinnen. Vertraue in dein Glück. Wie kannst du nur denken das eine so verbitterte Frau steinalt wird? Halte durch! Vielleicht ist sie ja jetzt schon tot? Wer weiß?"

Dem war leider nicht so.
"Jetzt ist es viertel nach drei! Du willst wohl, dass ich dein Gehalt kürze! Das werden wir doch mal sehen, wer hier am längeren Hebel sitzt!"
‚Vielleicht ist das ja ein genetischer Defekt? Vielleicht ist sie gar nicht in der Lage anders zu sprechen als laut und unfreundlich. Vielleicht wirkt sie deshalb unfreundlich, ist es aber gar nicht?’, dachte ich.
"Ist ja gut Großmutter. Jetzt bin ich ja da."
"Ich verbitte mir diese Art. Als wenn das ein Geschenk wäre. Darauf lässt sich verzichten! Und jetzt die Wäsche gebügelt! Aber dalli!"
Ich ging ins andere Zimmer. Ich holte tief Luft. Atemtechnik zur Beruhigung. Gaaaannz ruhig. Sachte, immer sachte. Du darfst sie nicht anfassen, du darfst deine Hände nicht um ihren faltigen Hals legen. Auch die gusseiserne Pfanne bleibt an ihrem Platz.
Ich stellte das Bügelbrett auf, steckte das Bügeleisen ein. Tief atmen. Und besonders den Nacken schön entspannen. So ist gut. Schon besser. So, jetzt das destillierte Wasser auf das Brett stellen.
Leider knallte in diesem Augenblick das Bügelbrett zusammen, der Mechanismus war nicht richtig eingehakt. Ein Riesenlärm. Wütende Schritte die sich näherten.
"Was ist denn hier los? Nicht mal das kannst du?!" Sie war vollkommen außer sich. Ihre Augen waren schwarz vor Hass. Sie griff ein Holzkästchen, das neben der Tür auf einem Tischchen stand. Furnier. Die Silhouette einer ostpreußischen Stadt auf
dem Deckel. Das Kästchen traf mich an der Stirn. Mir wurde blümerant. Ich griffe zur schmerzenden Stelle und fühlte gleich das ich blutete.

Am Abend.
Ich saß am Küchentisch. Ich weinte. "Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr... !"
Was war ich nur für ein Mensch? Wieso habe ich mich mit Haut und Haaren an den Teufel verkauft? Ich habe keinen Stolz. Keine Würde. Alles ist verloren. Eigentlich hatte die Alte mit jedem Wort recht. Es stimmt, was sie sagt. Ich lasse mich wie Dreck behandeln. Also bin ich Dreck. Für ein fernes Ziel. Ein Ziel, das letzten Endes doch nicht gewiss ist. Ich muss es beenden, ich muss es beenden.
Was für ein krankes Spiel ist das? Warten? Immer nur warten? Während mein Leben im Elend vergeht? Während andere Familien gründen, Häuser bauen und sogar lieben? Dieser Satan, dieses alte Aas! Wer sagt eigentlich, dass ich unbedingt ihre scheiß Kohle
brauche?
Ich besann mich, wurde etwas ruhiger. Stand auf und besah mir das Foto meiner Mutter, das neben meinem Bett hing. Es war ein Schwarzweißfoto. Mit traurigen Augen lächelte sie mich an. Das war ihr typischer Gesichtsausdruck gewesen. Traurig sein und dazu lächeln.
„Das hätte sie nie gewollt, dass ich so ein Leben führe!“ flüsterte ich. Obwohl ich dieses Bild jeden Tag sah, berührte mich die Tragik, das stille Leiden, das meine Mutter ausstrahlte. Ich schämte mich vor ihr. Und ich hatte das Empfinden, dass ich ihr etwas
schulde.
„Du sollst dir keine Sorgen mehr um mich machen! Ich will, dass du stolz auf mich bist!“

In diesem Moment traf ich die Entscheidung, auf das Erbe zu verzichten.

Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr mir und ein Gefühl tiefen Friedens ergriff Besitz von mir. Oh ja, ich werde mich auf ins Leben machen! Werde mir und meiner Mutter Ehre machen! Als ich am nächsten morgen aufwachte, spürte ich sofort das etwas mit mir geschehen war. Ich fühlte mich anders an. Kraftvoll und ruhig. Ich fühlte meinen ganzen Körper, nicht wie üblich nur den Kopf mit einem diffusen Anhang, dem ich nur Aufmerksamkeit widmete wenn er schmerzte. Ich stand auf. Meine Brust war weit, mein Atem hatte Raum um zu zirkulieren. Als sei ein Stahlband aufgesprengt worden. „Wie ein richtiger Mann“ fiel mir ein.
Es war als seien alle Kräfte, die mich an der Ausübung meines würdelosen, geldgierigen Dienstes gehindert hätten, über nacht erwacht.
Und all das nur weil ich mein Glück nicht mehr in die Hände eines anderen gab, der es rausrücken sollte und für den ich mich selber missbraucht und gebrochen hatte.
Ich musste an die Alte denken. An offene Beine, Verbandsmaterial, und Bügelbretter. Und lachte, denn all das war jetzt Vergangenheit. Das

Das Wort "Pflegedienst" fiel mir ein. Mein Lachen wurde lauter. Die wird sich freuen! Sie wird sich tatsächlich zwingen müssen normal zu sein!
Ich beschloss, sie mir noch einmal anzusehen. Einmal noch. Ich werde einen Abschiedsbesuch machen...

* * *

Es war gegen zwei Uhr, als ich ihre Tür öffnete.
"Max? Was willst du jetzt schon hier? Komm' später wieder!"
Ich schloss die Tür und sagte nichts.
"Max? Das bist doch du?! Du sollst später wiederkommen! Antworte gefälligst, du dummer Junge!"
Ich ließ mir Zeit. In aller Ruhe ging ich den Flur entlang und betrat ihr Zimmer. Und sah sie an.
"Ich habe doch gesagt, dass du..."
Sofort spürte sie, dass sich etwas geändert hat. Ich lehnte mich gegen die Kommode, die sich neben ihrem Fernseher befand. Ich stand ihr direkt gegenüber. Meine Arme verschränkte ich locker vor der Brust. Ich wollte sie mir in alle Ruhe betrachten. Ohne Angst, Druck und Zweifel. Ganz entspannt und objektiv. Sie schwieg entgeistert. Ihre Augen flackerten nervös hin und her.
Sie erschien mir kleiner als zuvor. Und irgendwie skurill. Ein kleiner, hilfloser, grauer Mensch. Und diese Frau hatte noch gestern mein Leben bestimmt!
"Was ist denn mir dir?"
"Nichts. Was soll schon sein? Ich wollte dich nur einmal in Ruhe ansehen."
"Mich ansehen!? Tue du jetzt mal lieber mein Bein..."
„Warum bist du eigentlich so bösartig?“
Schweigen.
" Bösartig? Ich? Was fällt dir ein, so mit...!“
Ich stellte mich vor das Gemälde ihres Vater, deutete darauf.
"War er auch so? Hat er dich böse gemacht?"
Ihre Wut griff wieder.
"Zeige nicht mit deinem dreckigen Finger auf meinen Vater. Er war einer der größten Männer, die es jemals gab!"
Ihr Atem ging schneller. Ihr Gesicht begann sich zu röten.
"Du brauchst nicht mehr kommen. Ich rufe den Pflegedienst und..", versuchte sie lapidar zu erklären.
"Ich weiß."
"Was soll das heißen, 'du weißt'?"
"Ich weiß, dass du den Pflegedienst anrufen wirst, damit man sich um dich kümmert."
"Was... Wie meinst du das?" Ihre Stimme war abrupt leise geworden. Eine leise gestellte Frage. Vielleicht wollte sie die Antwort nicht hören.
"Ich werde nicht mehr kommen!"
"Du kommst nicht mehr?“ Mein Gott, so ängstlich konnte sie klingen!
Schweigen.
„Aber du wirst es später doch mal gut haben!“
"Ich will dein Erbe nicht. Es interessiert mich nicht mehr!“ Gelassen blickte ich in ihre Augen.
"Nein, das kannst du nicht machen Max!", sagte sie mit tonloser Stimme.
Ich war erstaunt, dass sie meine Worte derart erschüttern konnten. Das ihr meine Kündigung nicht passen würde, war klar. Aber sie benahm sich, als würde das eine Katastrophe für sie bedeuten. Ich hatte wohl eine größere Bedeutung für sie, als ich bis dahin ahnte. Ich, der Versager, der Mörder ihrer Tochter!
Aber vielleicht war das sogar logisch. Schließlich war ich ihre einzige und letzte Möglichkeit Macht auszuüben und sich überlegen zu fühlen. Ich war das Medium, über das sie ihren verbitterten, bösartigen Charakter ausleben konnte. All das erfasste ich erst jetzt. Nach all den Jahren.
„Max! Hörst du? Das kannst du nicht machen!“, fuhr sie fort.
"Doch das kann ich. Und ich tue es sogar!" Ich blieb ruhig.
Sie ließ ihren Kopf resigniert auf das Kissen sinken. Blickte zur Zimmerdecke und seufzte. Dann wandte sie ihr Gesicht zu den Bildern. Ihre Brust hob und senkte sich wieder stärker. Der Anblick der Bilder schien sie aufzuladen, ein Quell unpassenden Stolzes zu sein.
Abrupt sah sie mich an. Ihre Augen waren schwarz vor Wut, der Unterkiefer war vorgeschoben. Und jetzt sprang sie mit ungeahnter Geschwindigkeit aus dem Bett, lief auf mich zu, stand vor mir. Hasserfüllt streckte sie ihren Arm aus, zeigte mit dem Finger auf mich und sagte langsam, damit ich es auch wirklich verstehe:
"Du bist schuld am Tode meiner Tochter. Du MUSST sie
er-set-zen!" Ihre Fingerspitze zitterte vor meiner Nase.
"Nein, das finde ich nicht!"
Meine Ruhe trieb sie zur Weißglut.
"Doch! Du bleibst! Du MUSST!" Hysterie. Sie packte mich am Kragen.
"Du MUSST!", schrie sie, als könne sie mich mit Worten bezwingen, zu Boden werfen. Ich riss ihre geballten Fäuste von meinem Hemd. Tonloses Wiederholen des gescheiterten Zauberspruches.
"Du musst, du musst, du musst...", während sie langsam, resignierend hinabsank. Auf den Knien angekommen begann sie leise zu weinen. Jetzt schlug sie mit den Fäusten auf den Boden und schrie weinend:
"Ich-ha-be-Geld! Du-wirst-es-er-ben!"
Sie konnte mich nicht berühren. Sie war entwaffnet. All das war traurig und irgendwie spektakulär, aber mehr nicht.
Sie ließ ihren Kopf auf den Boden sinken. Ein Häufchen Elend. Ihr immer kindlicher werdendes Weinen ließ ihren alten Leib rhythmisch erbeben. Es schien, als sei ein Damm gebrochen, ein Damm der Verzweiflung über die eigene Machtlosigkeit.
Hätte ich normalerweise einen alten Menschen in so einer kläglichen Situation gesehen, so wäre ihm meine Hilfe sicher gewesen. Aber nicht in diesem Fall. Sie hatte kein Recht auf mich.
Niemals hätte ich geglaubt sie jemals so zu sehen. Niemals. Vielleicht diente ihre schwarze Seite dazu, das jetzt Sichtbare
zu verbergen. Keine Schwäche zu zeigen. Sich unantastbar, unverletzbar zu geben. Das war ihr Fehler. Hätte man sie irgendwo in der Mitte dieser kranken Gefühlswelt angetroffen, wer weiß, vielleicht wäre sie sogar sympathisch gewesen.
Ihre Hände tasteten sich vor, umklammerten meine Schuhe! Oh Gott! Jetzt war es langsam genug!
"Bitte, bitte Max! Es tut mir leid! Es tut mir leid! Es wird alles anders! Max, bitte!"
Sie blickte hoch. Ein nassgeweintes, altes Gesicht. Rote Augen. Schluchzen.
"Nein! Ich kann einfach nicht mehr. Und ich will nicht mehr!"
Sie verstummte. Langsam seufzend senkte sie ihr Gesicht auf meine Schuhe. Sie hatte es wohl aufgegeben. Erschöpft kapituliert. Auch ich war müde. Schloss die Augen.
Herr im Himmel! Musste das so ablaufen? Diese Dramatik! In wenigen Minuten hatte ich mehr über diese Frau erfahren als zuvor in meinem ganzen Leben. Sie hatte sich aufgetan, wie ein bis dahin verschlossenes Buch, ohne es zu wollen.
Ich öffnete die Augen wieder, begriff, welch grauenhaftes Bild wir beide gerade abgaben. Sie kniete immer noch vor mir, mit dem Gesicht auf dem Boden, die Hände auf meinen Schuhen.
'Hoffentlich kommt jetzt keiner von den grauen Panthern ‚rein' dachte ich, um mich vor der Tragik dieses Anblicks zu schützen.
"Es tut mir leid Oma, ich muss jetzt gehen!"
Stille. Ich zog einen Fuß unter ihrer Hand weg. Im selben Moment kippte sie zur Seite. Ihre Augen waren geöffnet. Sie war tot.

Embryohaltung. Ein pastellfarbenes Nachthemd mit Blumenmotiven. Verwirrte, graue Haare.
Ich war nur kurz erschrocken. Denn ich wusste, dass es gut so war. Sie hätte es niemals ertragen, fremden Menschen ausgeliefert zu sein, Menschen die sie nicht brauchten.
Ich beugte mich hinab und schloss ihre Augen. Ihr Gesicht sah anders aus. Gelöst. Fast hübsch. Eine hübsche alte Dame.
Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Ich fühlte den Frieden, den sie jetzt gefunden hatte. Den sie endlich gefunden hatte.

Leb' wohl Oma! Vielleicht werde ich manchmal an dein hübsches Gesicht denken.

 

Hi Skunk!

Halt! Du hast recht!
Weitere Nachgrübeleien ergaben folgendes:
Der Enkel ist NICHT das Medium ihrer Bösartigkeit,
weil er das Böse ihres Wesens nur erträgt, es aber
nicht (für sie) auslebt.
Grüsse
Sebastian

 
Zuletzt bearbeitet:

nur falls irgendjemand zweifel an meinen ton hat:

mein ton ist immer freundlich (und darf auch so immer aufgefasst werden) :)

und bleiben wir bei bekenntnissen.

meine kritik ist immer nur meine persönliche meinung, die ist niemals ein massgebenes muss.
ausserdem halte ich mich selbst keineswegs für kompetent, richtlinien für kurzgeschichten zu beschreiben.

und abschliessend: nur individuelle geschichten von individualisten mit ihren individuellen "fehlern" (was immer das sein soll) sind gute geschichten.

ich denke, damit dürfte alles klar sein!

bye

barde

 

Hallo bassimax,

ich fand Deine Geschichte von Zeile zu Zeile fesselnder. Mir ging es so, dass ich mich, je mehr ich gelesen hatte, desto stärker mit dem Protagonisten identifizieren konnte und nachvollziehen konnte, was in ihm vorgeht und welche Wandlung er durchlebt. Zu Beginn war das noch etwas schwer, weil ich seine innere Zerrissenheit noch nicht so mitempfunden habe. Je mehr man aber im Verlauf der Geschichte erfährt, über die Hintergründe und seine Gedankenwelt, desto einfacher wurde es dann für mich, mich in ihn hineinzuversetzen. Er hat einen Werdegang - Alkohol, Misserfolge, Gefängnis - nach dem es durchaus nachvollziehbar ist, dass er die Stärke erst finden muss, sich von der Oma und auch dem Erbe, das er sicherlich gut gebrauchen kann, zu lösen.

Er trifft am Zahltag die richtige Entscheidung, gönnt ihr nicht noch einen letzten Sieg. Sie muss vor ihrem Ende erkennen, dass sie keine Macht über ihn hat mit all ihrem Geld und dass er nicht "käuflich" ist. Er hat sich endgültig losgelöst, und, was mir sehr gut gefallen hat, man spürt seine Befreiung förmlich. Der Schluss der Geschichte bietet einen schon fast versöhnlichen Ausgang für ihn. Er hat es letztendlich richtig gemacht.

Ob Du in den Formulierungen zu dick aufgetragen hast, wie Du Dich selbst schon gefragt hast, ist sicherlich Geschmackssache. Möglicherweise könnte man das eine oder andere abändern, aber ich fand nicht, dass Du überzogen hast. Dein Protagonist ist sehr aufgewühlt, muss sehr aufgewühlt sein, und wenn Du das auch rüberbringen wolltest, dann passt es eigentlich, wie Du es geschrieben hast, finde ich.

Dass noch ein paar Fehlerchen im Text sind, wurde ja bereits gesagt.

Müsste es nicht "Vertraue auf Dein Glück" heißen anstatt "in Dein Glück"?

Viele Grüße

Christian

 

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