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Odesa

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24.08.2024
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Odesa

Dachbalken durchschlugen die Zimmerdecke in der Rozkydailiys’ka Street unter ohrenbetäubendem Lärm. Mörtel rieselte in die Stube, in der Baba Jaga beim Mittagessen saß.
„Was ist das, Mama?“, brüllte Nya in den Hörer. Das Knistern fernen Feuers und Sirenengeheul drangen durch ein Funknetz nach Hainich.
„Nichts weiter, Liebes“, sagte Baba Jaga, „Putz.“
Die Geräusche der Lebendmärkte von Moldovanka drangen bis unter Baba Jagas Dach, ein beständiges Kreischen, Gackern und Quäken. Unter dem Duft der Spezialitätenstände sonnten sich die Tiere in ihren Käfigen und Ausläufen.

Um nicht allein durch Hainich zu gehen, hatte Nya Baba Jaga angerufen auf diesem ersten Weg in eine neue Sprache und eine Brandbombe erwischt.
Ein Vierteljahr nach ihrer Einreise hatte das Amt Vorgaben zur Einhaltung von Sprachschulungen gemacht, zu denen Nya in die Stadt unterwegs war. Tägliche Stunden in einer Sprache, die Nyas Gurren nicht erwiderte. Der Weg zu den beiden Gleisen des Bahnhofs führte an der großen Freifläche in der Mitte des Ortes vorbei, gestreift vom Flüsschen Hainich. Vorbei an einer Bank, einer Laterne. Mülleimer am Pfahl, leere Flaschen und Verpackungen. Es war Frühjahr und die sich neu erwärmende Luft stand in den Gassen und über den Feldern.
An diesem Tag trug Nya eine Kombination aus schwarzer Männerlederjacke, einem bauchfreien Top und schweren Stiefeln. An ihren Fingern mit manikürten Nägeln steckten Ringe, dicke aus Turmalinquarz, gewundene aus Silber und Reife aus dünnem Draht, auf die Perlen aufgezogen waren. Nie ging sie ohne Airpods aus. Am neuen Leben prallte sie ab wie ein Vogel an der Scheibe. Die Fremde außerhalb der Unterkunft hatte eine Dichte erreicht, der sie etwas entgegensetzen musste.

Als sie in Deutschland angekommen war, war es November gewesen. Die Unterkunft war ein Bau aus den späten Sechziger Jahren, in Beigetönen verklinkert und mit schweren Rollokästen über den schmalen Flügelfenstern. Sie duckte sich in eine Nische der Hauptstraße und beherbergte die Geflohenen, denen das Ganze genügend erschien.
Nya reiste allein. Mit ihrer Erstausstattung richtete sie das Apartment ein, das ein wenig finster und muffig anmutete, im rückwärtigen Schacht des Hauses jedoch einen kleinen Balkon hatte, den sie mit einer Nachbarin teilte. Ein schmales Bett, Kochgeschirr, Bettwäsche. Badetücher, zwei Herdplatten, eine Spüle und ein kleiner Kühlschrank. Die Türen aus Pressspan. Auf dem stumpfen, anthrazitfarbenen Boden lagen runde Kokosläufer. Manche Fenster waren mit Vorhängen zugehängt, andere mit braunem Packpapier abgeklebt.
In diesem November war die Zeit in der Unterkunft stehen geblieben. Kein Alltag forderte Erfüllung. Die Deutschen blieben bunte Regenmantelschlieren, die in der tröpfchensatten, blaugrauen Luft vorbeieilten. Neben den Apartments gab es eine Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss. In ihren ersten Wochen saßen Viele dort bei Tee, sprachen über ihr Leben vor dem Krieg, den Krieg und darüber, wie sehr sich alles verändert hatte. Es waren Männer und Frauen aus dem gesamten Gebiet der Ukraine. Jede Viertelstunde schlug die Turmglocke der Stiftskirche. In der Stille klang sie wie ein Gong zur inneren Einkehr.

Noch in ihren letzten Tagen in Odesa hatte Nya am Stadteben teilgenommen, als Städteplanerin gearbeitet, Mutter und heranwachsende Tochter gehabt. Als der Krieg längst auch in der Metropole tobte.
„Seit diesen Tagen“, sagte Nya später einmal zu Kat, „habe ich, glaube ich, vor nichts mehr Angst.“
Wie klein der Alltag war, wie allerfüllend die plötzliche Stille. Nyas Einfluss reichte bis zum alten Wasserkocher auf dem Herd, den sie von der Vormieterin geerbt hatte. Er füllte ihre Morgenstunde aus als sie ihn säuberte, entkalkte und ein wenig blankrieb.
„Du musst jetzt das erste Mal lernen, allein zu sein. Mit zweiundvierzig!“, hatte Baba Jaga in den Hörer gegrunzt. „Ich lerne, allein zu sein“, wiederholte Nya und kaufte bei KiK eine Yogamatte.

Zischend schlossen sich die Türen, der Schienenbus setzte sich in Bewegung und glitt durch das Tal. Kat lehnte am Fenster. Fast konnte sie Nyas feste, schmale Lippen auf ihren spüren. Ihr forderndes Zungenspiel. Der süßliche Geruch eines Verdampfers, den Nya manchmal benutzte, lag darin.
In den ersten Tagen ihres Auftauchens an der Bahn hatte Kat Nya von ihrem Stehplatz aus entdeckt, wie sie ganz allein den Bahnsteig wie einen Catwalk bis zum Ende abschritt und wieder zurück, ihre Sonnenbrille zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, das hüftlange Haar zurückwarf und ihr Gesicht der Sonne entgegenreckte. Ihre nahezu quadratische Brille betonte die hohe Stirn und die an der Spitze kräftig werdende, nach unten gekrümmte Nase, was ihr das Aussehen eines Raubvogels verlieh.
Nyas Gesichtshaut war ein Teppich feiner, hellerer und dunklerer Pigmentinseln, ihre Augen hervortretend und wasserblau. Wie die Jahreszeiten war die Ukrainerin ständig im Wandel, Farben und Formen ihrer Erscheinung tauchten wie neuartige Blumen in der Stadt auf. Feingliedrig aber zäh, schob sie sich durch die Straßen

Über ein paar Wochen taxierten sie sich unauffällig, spürten die Präsenz der jeweils Anderen in Schweigen. Folgte auf Nyas Abschreiten des Steiges immer das Erreichen eines gemeinsamen Zugabteils.
Eines Mittags lachte Nya Kat offen an. Sie waren zur selben Zeit auf dem Weg zur Bahn, als Nya um die Ecke bog und die überraschte Kat überholte. Sie erwiderte den Gruß, wusste darüber hinaus jedoch nichts zu sagen. Die vielen, in aller Stille verbrachten Tage hatten die Geschmeidigkeit aufgezehrt, nach der es Nya in ihrem Vorstoß verlangte. In ihrer Spontaneität lag eine Freundlichkeit, die entwaffnend war. Tag für Tag nahmen sie die gleiche Verbindung in die Stadt, hin und zurück, wenn Kat Spätschicht hatte. Sie arbeitete stundenweise in einem Diner, das ein meist studentisches Publikum bediente.
Nach dieser Annäherung beobachtete Kat Nya, zunächst in der Bahn, dann, wann immer sie in der Straße erschien, die vor Kats Fenster vorbeiführte. Je länger sie Nya ansah, desto ungeduldiger wartete sie wie auf das Rätsel der Sphinx. Kat lebte allein mit ihrem Kater Pablo. Fast ersehnte sie Momente, in denen die Fremde in der Straße auftauchte, in einer rosaroten Latzhose mit breiter Haarklemme, in einer Pluderhose mit fest auf dem Kopf zusammengesteckten Haarknoten, Lippen und Augen zusammengekniffen wie bei einem wütenden Dschinn, den Verdampfer am Mund. Mit einer Garbe blühender Gräser, die sie auf dem Dorfplatz gepflückt hatte.

Manchmal blieb die Odessitin tagelang verschwunden, tauchte dann aber unverhofft wieder auf. So auch eines späten Nachmittags, als Kat sich versprochen hatte, die Fremde anzureden. Sie ahnte, dass die ihre Sprache nicht sprach. Als sie Nya endlich am Bahnhof entdeckte, näherte sie sich ohne zu wissen, was sie sagen würde. Ihre Knie gaben nach, jedoch stand sie bereits in der breiten Lücke, die Nya zwischen sich und den übrigen Wartenden gelassen hatte. Unübersehbar, falls die Odessitin auch nur den Kopf wenden sollte.
„Pardon me“, sagte Kat schließlich leise in Nyas Rücken. Als keine Reaktion kam, berührte sie sie an der Schulter. „Entschuldige, ich bin einfach neugierig, wer du bist. Wir sehen uns so oft“, sagte Kat.
Nya druckste herum. „… ein bisschen“, murmelte sie schließlich, „Ich verstehe nicht. One moment.“ Sie hielt ihr Handy hoch und bedeutete Kat, hinein zu sprechen. Kat wiederholte.
Ein verlegenes Lachen war die Antwort, als der Talker geliefert hatte. „Nya“, sagte Nya, „Ukraine. Wissen Sie, ich besuche jetzt hier jeden Tag Deutschkurse.“

In Deutschland lebte meist nur auf dem Dorf, wer etwas geschaffen hatte. Familie, ein Haus. Dörfer waren dazu da, Kinder großzuziehen, im eigenen Heim privat zu sein oder sein Alter darin zu verbringen.
In der Unterkunft tropften die Sekunden in diesem Frühling in eine Stille, die gegen Trommelfelle drückte. Nya hörte ihren Atem, fühlte, wie die Haut an den Unterarmen taub zu werden begann und zupfte daran herum. Legte schließlich das Kinn auf ihnen ab. Das tägliche Wandern durch die Ordnung anderer Leben ließ sie trübsinnig werden, ließ sie ein Erobern auf eigene Faust vermissen.
In langen Frühjahrs- und Sommernächten an der Potemkinschen Treppe, dem Wasserbassin der Oper und in den Parks und Einkaufsstraßen öffnete sich Odesa noch ein wenig mehr. Auf der Potemkinschen Treppe, die vom Blau des Schwarzen Meeres in das Blau des Himmels hinaufführte, leuchteten bunte Flecke in der letzten Abendsonne, Shirts, Kappen und Röcke der Erwachsenen und Jugendlichen, die sich auf hunderten Stufen niedergelassen hatten. Durch eine optische Täuschung schien die Treppe vom Fuß aus betrachtet endlos, gleich der stetigen Fluktuation der Besucher. Immer wieder hörte man unter Gemurmel und der Musik ein heiseres Lachen, gefolgt vom Wispern einander vertrauter gewordener Stimmen. Kurz darauf waren die Plätze leer. Nya war oft da gewesen. Der herbe Duft fremder Haut, die verschiedenartigen Beschaffenheiten der Körper, mal mager, mal breiter, bisweilen drahtiges, widerspenstiges Haar unter ihren Fingern im Geruch der fremden Bettwäsche, dem Atmen eines privaten Schlafs allein. In einer dieser Nächte war Marija entstanden, die sie fortan allein großzog.

Nya ging. Es war nicht die Deribasovskaya Street, eine breite, gepflasterte Fußgängermeile der Metropole, die, gesäumt von Segeltuchpavillons mit Cafés und Street Food unter den Akazienreihen oft Ausgangspunkt ihrer Wege gewesen war. In Hainich waren es NKD und KiK, deren Angebote sie an den Samstagen manchmal anschauen ging, mit Handtasche und Sonnenbrille über die durchlöcherten Gehsteige. Ein orangefarbener Sweater Ende Februar hatte sie einen Gang zur Tafel gekostet. In Odesa hatte sie zu den Besserverdienenden gehört, hier erhielt sie Grundsicherung.
Wochenenden auf dem Land waren gefüllt mit Familienvätern, die im Arbeitsanzug grillten oder was am Haus machten. Ein paar spielende Kinder und Jugendliche beherbergte der Sommer in seinen Lichtern in den Höfen, ansonsten waren die Dorfstraßen meist wie leer gefegt. Was blieb, waren Radfahren und Spazieren gehen im Feld.
Im ersten Jahr war Nya manchmal verloren in jenen Feldern zu sehen gewesen, hatte sie sich ratlos umgeblickt, als sie mit verschränkten Armen über die staubigen, steinigen Wege lief. Ein paar Mal hatte sie die Yogamatte mitgenommen, doch dabei war es geblieben. Feldwege führten in Felder, vorbei an Pfählen mit Storchennestern durch ein sumpfiges Gebiet, dessen Grasnarbenweg an der Bundesstraße endete.

Am Samstag nach ihrem Bekanntwerden kam Nya Kat die Straße herunter entgegen. Da Kat kein Auto besaß, wog der Rucksack schwer, den sie trug, während Nya im Sommeroutfit leichtfüßig einher trippelte, ihr Smartphone an den Lippen. Als sie sich Kat näherte, legte sie unvermittelt auf. Kat schon ihre Sonnenbrille in die Stirn.
„Wochenende! Schlafen!“ Nya lachte Kat befreit an.
„Where are you going?“, fragte die zurück.
„Supermarket“, antwortete Nya, zeigte auf den Weg in die Stadt und zeichnete dann mit einer Hand eine Kapriole in die Luft: „Spazieren.“
Kats Herz pumpte. Der Wunsch, Verbindung zu halten, entglitt ihr beinahe.
„Which language do you speak, Ukrainian or Russian?“, fragte sie.
„Ukraine“, sagte Nya, „Moment, nicht verstehen.“
In den Tagen nach der Begegnung hatte Kat ihren eigenen Übersetzer geladen und holte das Smartphone raus.
Nya zückte das Ihre und hielt es Kat hin. „Sprechen“, forderte sie sie energisch auf. Kat wiederholte. „Ah ... besser kennen lernen. Ich bin Städteplanerin, aus Odesa. Ich interessiere mich für Design, Textil und Interior.“ Sie zeigte auf ihr Shirt, das mit einem blass blauen Mandala von Hand bemalt war. „Wenn Sie mal eine Designerin brauchen, fragen Sie mich!“
Kat schwieg, fragte dann mühsam:
„What do you like best about Odesa?“
„Internationality. We have 120 nations“, gab Nya zurück. „Was ist Ihr Interesse, warum fragen Sie mich? Freundschaft, Romantik, Business?“
Kat glühte, überrumpelt von der Direktheit, zitterte, als sie ihr Smartphone hinhielt: „Ich versuche gerade, es herauszufinden“, brachte sie heraus. „Ich mag dich wirklich sehr.“
„Ich mag dich sehr“, echote kurz darauf der ukrainische Talker. Kat fühlte ihre Magengrube flau werden, ihre Knie nachgeben. „Wollen wir uns nicht mal treffen?“, fragte sie.
„Ja!“, antwortete Nya, kaum, dass Kat den Talker hingehalten hatte.
„Wann?“
„Ja“, sagte Nya und strahlte Kat breit an.
So standen sie für einen Moment, in dem Kat sich wand. Nya wartete, wendete sich nach einer Weile zum Gehen.
„Warte!“ rief Kat. „Wann?“
„We’ll meet again“, antwortete Nya und ging weiter die Dorfstraße hinunter.

Die Odessitin ankerte in Kat. Wann immer sie Frühdienst hatte, setzte sie sich zur Dämmerstunde an den Schreibtisch, legte den Kopf auf ihre Unterarme und spähte durch den Spalt zwischen Fensterrahmen und Gardine, bis Nya auf ihrem Weg nach Hause vorbeikam. Eine Ahnung beschlich sie, die sie sich kaum eingestand. Wäre Nya an jenem Tag einfach mitgegangen? Im Verdeckten teilten sie die gleiche Energie. Unruhig organisierte Kat ihre Tage.

„Einsam“ hatte sie damals in der Gruppe Überwindung gekostet, obwohl sie unter Gleichen schien. Hatte sie sich fühlen lassen wie ein Rotkehlchen, das das Bauchgefieder plusterte und mit dünnem Stimmchen sang. Im Laufe der Wochen hatten Andere Erfolgsgeschichten erzählt, das jäh auftauchende Vögelchen vor dem Fenster, das die Ahnung mitbrachte, es gäbe noch ein anderes Leben und man müsse nur hinausgehen, es sich zu nehmen. Kats Geschichte war ausgeblieben.
„Klar“, sagte Greta“, „es hatte fast jeder seine Momente, du nicht.“

Auf einem der nächsten Heimwege warf Nya Kat eine Geste hin, die fragte: „Wo bleibst du denn jetzt?“ Im Gesicht hinter der Sonnenbrille lag ein Ausdruck, den Kat „Rockstar“ nannte, der außer einem Jetzt und Hier nichts zuließ. Gegenseitiges Interesse war keine bekannte Größe und Kat hatte verlernt, von sich und ihren Tagen zu erzählen. So schlug sie den üblichen Weg nach Hause ein, über die Aue, während Nya die Abkürzung nahm. Die Abkürzung über eine schiefe Treppe, die sie allein ging, weil sie als Einzige das Schild Privatweg – verboten nicht verstand.
Dennoch begann Kat, für die Spätschichten zu leben. Sah sie Nya einmal nicht, sank ihr das Herz. Gelang es ihr, die Ukrainierin nach der Arbeit anzusprechen, erzählte die bereitwillig von sich.
„I’m a painter“, erklärte sie einige Male mit gerunzelter Stirn, als sei sie in ihrer alten Identität löchrig geworden und probiere eine Neue an. „And I’m crazy. Psychological problems. For two years. Vor dem Krieg nix. Nie Rauchen.“ Sie zeigte auf den Verdampfer in ihrer Hand. Kat hörte ihr zu und nickte.
„Ich lerne allein zu sein. Stress.“
„Wollen wir nicht Telefonnummern austauschen?“ fragte Kat.
Nya zögerte: „Keine Zeit. Lernen, lernen, jeden Tag. Stress. Wenn wir uns sehen, ja?“, fügte sie freundlich an.
Kat blieb an der Straßenecke zurück, ohne Verabredung und die Intimität der Erreichbarkeit.
An den meisten Tagen am Bahnsteig kam Nya nicht auf Kat zu und hielt sich im Hintergrund. Kat gelang es nicht mehr, diese Schwelle zu übertreten. Einmal hatte sie es nicht mehr ausgehalten, war Nya nach der Arbeit in einigem Abstand nachgegangen und hatte gesehen, dass sie keine hundert Meter entfernt von ihr lebte.

Das Dorf war mit ein paar Tausend Schritten durchmessen. In seinem Kern gab es drei Sportsbars, die hauptsächlich von den orientalischen Männern besucht wurden, die im neuen, winzigen Fitnessstudio nebenan trainierten. Einer von ihnen war Saed, der sich von den Bars fernhielt. Man sah ihn nie im Ort, nur im Studio, das er an drei Tagen die Woche besuchte. Sie waren einander auf parallel verlaufenden Laufbändern begegnet, er und Nya. „Dass du dich nicht mit dir zufrieden geben kannst“, hatte Baba Jaga am Telefon gesagt. „Ständig brauchst du die Leute.“
Nun grinste Nya im Seitenblick und reckte einen Daumen.
„Looking good the way you doing it.“ Saed lächelte, wurde rot und fragte Nya, woher sie sei.
„Ukraine“, sagte Nya, verdrehte die Augen und imitierte das Pfeifen einer Bombe. Verschämt hielt sie kurz darauf inne. „You?“
„Syria“, sagte Saed, „been waiting here for quite some while.“
Saed kannte den Krieg.
Im Wissen, Begehren geweckt zu haben, ging Nya abends darauf die Dorfstraße herunter. Ein schenkellanges Kleid, schwarzen Overknees und schimmerndes Haar, eine passenden Clutch an einer dicken Kette.
Ein feuchter Stich breitete sich in Kats Schoß aus. Ihr Atem kondensierte an der Scheibe. Wohin sie wohl gehen mochte? Möglichkeiten gab es nicht viele. Kalte Sehnsucht strich ihr schnurrend um die Beine. Es gab Brot mit Gurke und Pfefferminztee.
Es war Hochsommer.

Nya brauchte keinen Büstenhalter. Ihre Brüste lagen wie Herbstäpfel unter den geschwungenen Schlüsselbeinen. Saed leckte ihre zarte Mösenhaut, streifte seinen Slip ab. Sie liebten sich, bis ihr Wimmern in ein Stöhnen überging, sie sich im im Orgasmus spannte, krampfte und losließ, bevor der Syrer wieder in die Abenddämmerung verschwand. „Liebe“, sagte Nya später begeistert zu Kat, und: „Spielen gehen.“
Auch an den folgenden Abenden ging Nya aus, kehrte einmal zu späterer Stunde mit einem schlaksigen Kerl heim, blond und im Muscleshirt, in ihrer Muttersprache redend. Spät geleitete sie ihn zu seiner eigenen Unterkunft zurück.
Eines Abends, als Nya ein weiteres Mal in Kats Sichtfeld erschien, war sie nicht allein. Saed ging neben ihr und zog den blauen Einkaufstrolley. Ihr Anblick versetzte Kat eine tiefliegende Wunde, und wie in Trance vernahm sie an den Folgetagen die Jugendlichen, die am Bouleplatz cornerten: „Nya ist ja 'ne Schlampe.“
Sie wollte das Episodische darin sehen, während ihr ihre Fantasien keine Pause ließen. In dieser Zeit wurde Nya misstrauischer und verschlossener, auch Kat gegenüber, die dieser Umstand schmerzte. Nya hatte wohl verstanden, dass es Gerede gegeben hatte und was es bedeutete.
Die anderen Ukrainer in der Unterkunft sprachen ihr gut zu: „Pass’ ein bisschen auf, Nya, nicht jeder hier ist ganz frei.“ Nya verstand nicht. Weder hatte sie Ehen entzweit, noch war sie gegen jemandes Willen vorgegangen.
Was sie an Persönlichem teilte, wurde spärlich. Nie mehr tauchte sie gemeinsam mit Saed in den Straßen auf. Trafen sie sich, ging sie stets voran, während er in einigen Metern Abstand folgte. Dörfer hatte Nya nicht gekannt. Ihre Stadt lag unter Beschuss. Gerüchte über Drohnenjagden erreichten die Geflüchteten.

Eines Mittags erschien Nya spät in der Bahn und blieb im Eingangsbereich stehen. Kat, die darauf wartete, dass sie in die Sitzreihen kam, befiel ein feines Gefühl des Verlustes und beim Aussteigen streckte sie den Arm aus und drückte Nyas heiße, feuchte Hand. „Chönen Tag!“, strahlte die.
Abends, als Kat am Schreibtisch saß und durch das Fenster starrte, erschien Nya zur gewohnten Zeit. Wärme breitete sich in einem Punkt unterhalb ihres Nabels aus, es war ein heißer Abend und Nya hatte ein beigefarbenes Tuch um ihre Hochsteckfrisur geschlungen. Dann, in einigen Metern Abstand, folgte Saed.
Reglos blieb Kat sitzen, ergab sich für einen Moment dem Gefühl des Absackens, das sich in ihrem Magen ausbreitete. Der Schmerz und das Einschießen jäher Erregung nahmen ihr den Atem, ließen ihr Herz flattern wie einen gefangenen Vogel. Ratlos onanierte sie. Ihren Höhepunkten folgten Talfahrten, die ihre Seele für einen Moment lang in der Schwebe hielten und ihr einen Winkel des Todes andeuteten. Eine leichte Verschiebung im Kopf nur, Spur des Bebens, das Kat in dieser Heftigkeit nicht mehr kannte. Sie wünschte sich fort.
Jedes Mal, wenn sie nun sah, wie der Syrer die Flüchtlingsunterkunft aufsuchte, durchlebte sie ein Geflecht wechselseitiger, harter Emotionen, gespeist aus wilder Erregung und Eifersucht.
Sie begann, Saed auf der Straße zu begegnen, sah, dass ein Schlüsselband aus der Tasche seiner Trainingshose hing, sah, wie er mit geöltem Haar und Rollköfferchen sonntags aus dem Wochenende in der Unterkunft kam.
Seine Behausung lag in einem alten Pferdestall, der für den Flüchtlingszuzug umgebaut worden war. Es war ein schmales, strahlend weißes Gebäude mit hölzernen Toren vor den Ladeluken des niedrigen Heubodens. Außer ein paar gelegentlichen Glasbausteinen hatte der Bau jedoch keine Fenster. Dorthin verschwand Nya nach Feierabend.
Eines Abends berührte sie Kat noch am Bahnhof am Ellbogen, plapperte „Wie geht? Andernmal“ und eilte fröhlich weiter. Kat erwiderte nichts.

Nyas abendliche Heimwege über die Treppe wurden selten. Meist kam sie spät und im Dunkel über die Brücke der Hainich zurück. Blieben Saed und sie zusammen in der Unterkunft, lächelten die anderen Geflüchteten über das Lachen und Stöhnen, das durch die Wände drang.
Kat träumte ohne Unterlass. Ihre Fantasie war ein weicher, weit angelegter Pool, der Nya angezogen haben mochte. In der Kühle ihres Geistes hatte Kat Raum für Druck und Reibungswärme, produzierte einer Auster gleich Perle um Perle, die Nya einschlossen und zu verewigen schienen.
Eines Nachts im Frühherbst hörte Kat durch das geöffnete Fenster Stimmen, eine sanfte, männliche, und eine raue, weibliche. Kat erkannte die Weibliche als Nyas, die die Männliche über einige Minuten anbellte in fremden, wuchtig hervor gestoßenen Silben. Nach einem tiefen Schnaufen war alles still. Kat schloß das Fenster. Noch wenige Tage zuvor hatte Kat beobachtet, wie Saed drei Umzugskartons zur Unterkunft getragen hatte. Klar, sie will raus, hatte Kat gedacht. Raus aus der Sozialwohnung im Flüchtlingsheim.

Eine Aufstockung von Kats Stunden im Diner hatte bewirkt, dass sie nicht mehr die gleiche Verbindung zurück nahmen. Es wurde Herbst. Je näher der Winter rückte, desto deutlicher legte sich Dunkelheit in die Straßen vor dem Haus, von denen Kat nun nicht mehr wusste, was in ihnen vorging. Ferne Bilder anderer Mensch flackerten in der Dämmerung hinter der verregneten Scheibe. Nya fehlte ihr. Zu selten waren die Gespräche am Bahnhof, ein paar Minuten nur, meist Neuigkeiten aus Nyas Sprachkursen.
Nya bemerkte Kats betretenen Gesichtsausdruck und fragte, was denn sei.
„Problem“, sagte Kat knapp.
„Aaah … Liebe!“ Mit strahlenden Augen puffte sie Kat in die Seite. „It’s okay. Kein Problem, keine Liebe!“
Ärger brandete in Kat auf, als sie nebeneinander in die Bahn stiegen.
Es dauerte eine Weile bis Kat begriff, dass Saed verschwunden war, verschwunden in eine Unsichtbarkeit, aus der er auch aufgetaucht zu sein schien.

Es war eine Zeit, in der Nya auf Kat zuging. Kat, die immer zuerst am Bahnhof war, erlebte, dass die Ukrainerin beinahe jeden Tag ihre Gesellschaft suchte. Kat war noch immer um Small Talk verlegen, fühlte jedoch bald im nahenden Frühling eine neuerliche Welle der Verbundenheit.
Über die Spanne ihrer Bekanntschaft hatte sie von einer Kollegin ein paar Brocken Ukrainisch gelernt, mit denen sie Nya überraschte, als das neue Jahr die ersten Knospen zu bilden begann.
Sie fing an, Zettel zu formulieren, die sie in Nyas nunmehr verändertes Leben geben wollte. „Why don’t we meet for some fun?“, ließ sie das Programm ins Ukrainische ersetzen. Variation um Variation erstellte sie, malte kyrillische Buchstaben, klebte die Zettel in ihr Journal. „Will you come out and play with me?“ Der Frühling und die Sehnsucht waren groß. Das Zerren und Verlangen, das nicht fragte, das bei Kat und Pablo lebte.

Drei Wochen lang hatte sie Nya nun schon nicht mehr gesehen, so lange wie nie zuvor. Kats Sehnsucht erreichte ihren Höhepunkt. Verloren stand sie am Bahnsteig, reckte den Hals nach der Auffahrt, über die sie kommen musste.
„Du hast eine große Traurigkeit in dir“, hatte Nya einmal unvermittelt zu Kat gesagt und sie fest umarmt.
„Kein Wunder“ hatte Kat gedacht. Noch immer zitterte sie vor Aufregung, wenn sie Nya das Handy zum Ablesen hinhielt.
Die lachte verständnislos, nahm Kats Hände in ihre und fragte: „What is this? Tremor.“ – „It’s because of you, sagte Kat und sah Nya in die Augen. „I’m so excited to meet you“.
Es war Kats Art der Unmittelbarkeit. Das war vor ein paar Wochen gewesen. Kat hielt beständig Ausschau, sah Nya in jedem Passanten, in jeder Gestalt der Stadt. Doch sie spürte, dass sie fort war.
Drei Wochen zuvor, am ersten sonnig warmen Wochenende des Jahres, hatte Kat am frühen Abend einen Spaziergang gemacht, eine Runde, deren Rückweg durch das Dorf führte. Das Signal des einfahrenden Zuges hatte sie nicht bemerkt und stand mitten auf dem Gleis, als die Schranken heruntergingen. Sie wandte den Kopf zu den Bahnsteigen und da, auf Kats Fleck am Bahnsteig, stand Nya, im Wetlook, mit zerrissener Jeans und der schwarzen Lederjacke. Der Frühling war groß. Nya schaute direkt zurück. Kat schlüpfte verlegen unter der Schranke hindurch und ging weiter, weiter durch die Aue und nach Hause, das Herz im Griff einer warmen, fest zupackenden Hand.

Es war an einem Morgen, an dem die Bahn streikte, als Kat begriff, dass Nya gegangen war. Der Bus fuhr an diesem Morgen über die sonnendurchfluteten Dörfer und Kat erinnerte sich, dass Nya in der vergangenen Zeit Einzelverbindungen gekauft und sie ihr gezeigt hatte. Sie brauchte das Dauerticket nicht mehr. An einem dieser Nachmittage hatte sie einen Airpod mit Kat geteilt. „La valse d’Amélie“ während der Schienenbus durch das Tal glitt. Eine Wohnung in der Stadt zu erhalten war nicht leicht. Nya musste es geschafft haben.
„Hallo, chöne Dame, wie geht? Ich wunsche einen chönen Tag!“ hatte sie über die Straße gerufen und war lächelnd fortgeschlendert, als Kat Nya das letzte Mal gesehen hatte und nichts davon wusste. In das neues Frühjahr ergossen sich fremde Mütter mit Kinderwagen, Alte mit ebenso greisen Hunden. Kat ahnte, was Nya die ganze Zeit über gewollt hatte und schämte sich. Die Leere in Hainich erreichte jetzt eine Dichte, der Kat nichts entgegen zu setzen hatte.

 
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Hallo @Helenesthe ,

ich bin eigentlich sehr zynisch, was die Frage nach 'own voices' angeht. Was anderes ist Literatur, wenn nicht in die Rollen derer zu schlüpfen, die wir nicht sind?

Es gibt aber auch akute Umstände - sehr komplexe und extrem schmerzhafte - die nicht von Unbetroffenen zur Bühne gemacht werden können, ohne dass es schmierig, schleimig, peinlich wird. Quasi eine Überhöhung des nichtigen Selbst auf Kosten derer, die zwangsweise 'mehr' erlebt haben.

Da ich dich nicht kenne, lasse ich offen, was hier vorliegt. Da du bereits ein internationales Setting verwendest hast, gehe ich zart davon aus, dass dies kein own voices Text ist. 2014 wäre dies vielleicht ein halbwegs interessanter Text gewesen.

P.S. Warum wählst du die russische Schreibweise? Nach friggin' 3 Jahren Krieg? Das ist ukrainisches Staatsgebiet. :rolleyes:

Herzliche Grüße,
Katla

 
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Hallo @Katla,

danke dir für deinen Kommentar. Nein, ich habe keinen eigenen ukrainischen Hintergrund, bin nur im Alltag von vielen in solchen Unterkünften lebenden Urkrainern umgeben. Gewählt ist es auch wegen der Unterschiede in der Mentalität, der Lebenserkenntnisse, die an beiden Orten, in Odesa und Hainich, gewonnen wurden.
Das Teilen eines gemeinsamen Lebensraumes jetzt sollte das sein, was die Geschichte letztlich in Gang setzt und Spannungen verursacht. Vielleicht hätte ich ein anderes Land nehmen sollen, eben jene Mentalität, die ich aber beschrieben habe, sollte es sein.
Natürlich muss ich mir sagen lassen, dass das Ganze schmierig und schleimig ist, weil ich keine Ukrainerin bin und eine blasse Deutsche Prot "aufwerten" will. Ja, vielleicht hätte ich trotz der Alltagsinspiration ein anderes, beliebiges Land draus machen sollen.
In der Arbeitsphase hieß der Text noch "Odesa", das kann aber wieder abgeändert werden.

Viele Grüße,
Helen

 
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Hallo @Helenesthe ,
ja, genau. Das

In der Arbeitsphase hieß der Text noch "Odesa", das kann aber wieder abgeändert werden.
ist auch das Problem des gesamten Textes. Dir ist vielleicht irgendwie klar, dass dieses kleine s in diesem Kontext ein ganz eklatanter Unterschied ist? Oh Mann.
Von mir aus schreib die russische Perspektive, es geht nicht um pc, es geht darum, dass du verstehst, was du schreibst.

Ja, vielleicht hätte ich trotz der Alltagsinspiration ein anderes, beliebiges Land draus machen sollen.
Nichts ist beliebig. Gar nichts. Du verstehst gar nichts, sorry, ich finde solche Aussagen absolut grauenerregend und dumm. Wenn du einen beliebigen Text über beliebige Figuren schreiben willst, nimm einen Getränkehandel in Friedenau oder whatever. Whatever eben.

Sorry, falls das harsch klingt, aber ich hab so den Kaffee auf von Schreibenden, die sich Themen annehmen, zu denen sie Null Haltung haben und das auch noch in Zeiten, in denen Null Haltung einfach nicht mehr angesagt ist.

Viele Grüße,
Katla

 

Hallo @Katla,

Sorry, falls das harsch klingt, aber ich hab so den Kaffee auf von Schreibenden, die sich Themen annehmen, zu denen sie Null Haltung haben und das auch noch in Zeiten, in denen Null Haltung einfach nicht mehr angesagt ist.
Du sollst ja ausdrücken, was dich ärgert. Meine Haltung halte ich nicht für eine beliebige im Hinblick auf die Ukraine, mit "beliebiges Land" habe ich mich vielleicht unglücklich ausgedrückt. Ein anderes Land eben mit anderen Eigenheiten und Mentalitäten, eine andere Figur als Nya.

Viele Grüße,
Helen

 
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Hallo @Helenesthe ,

Meine Haltung halte ich nicht für eine beliebige im Hinblick auf die Ukraine, mit "beliebiges Land" habe ich mich vielleicht unglücklich ausgedrückt. Ein anderes Land eben mit anderen Eigenheiten und Mentalitäten, eine andere Figur als Nya.
Also mal etwas konstruktiver und auch, wenn ich den Ghost of Kyiv als Avatar hab, geht es mir nicht - oder besser: nicht nur - um eine bestimmte Position einem bestimmten Land gegenüber. Sondern meine es so:
Man kann eine Geschichte dem Setting / Thema nach erzählen und dort nach etwas Typischem, Authentischem, Spezifischem schauen (z. B. eine junge Ukrainerin oder Russin aus Odesa). Dann erzählt man etwas, das eine individuelle Sicht vermittelt, wie eine reale Stimme aus einem realen Krieg gegen ein reales Land - und das sollte man dann besser im ehrlichen Versuch auf die Reihe bekommen als wäre es ein own voices Text, und nicht "Schreibweise Ort ist ja austauschbar" etc., weil das nur Uninformiertheit und Desintersse beweist.

Oder man kann sehr universell angelegte Figuren mit dezidierten Konflikten und Plots nehmen und sie auf ein anderes Setting übertragen, wie es ganz wunderbar klappt mit Shakespeare-Verfilmungen, durchaus im direkten Wortlaut der Stücke: Ralph Finnes' Coriolanus in den Balkankriegen der 1990er anstelle von Rom, Richard III mit McKellen im deutschen Faschismus, Macbeth mit Patrick Stewart im Rumänien der 70er, oder Romeo and Juliet frei interpretiert als Romeo Must Die, wobei es um den Mafia-Konflikt Asian vs Black an der US Westcoast geht. Alle Verfilmungen verstehen im Kern aber den Konflikt und die Implikationen der 400+ Jahre alten Stücke und stellen diese intelligent aktuelleren Szenarien gegenüber, was eben neue, sinnvolle, interessante Perspektiven auf beides eröffnet.

Was imA nicht so arg gut funzt, sind austauschbare Figuren, die in ein sehr aufgeladenes, sehr spezielles Setting (im Sinne von Hintergrund) versetzt werden, wo sie aber nur austauschbare Dinge tun und austauschbare Konflikte erleben. So einen Text mit Ukraine+egal gabs vor gar nicht so langer Zeit hier im Forum schon einmal, und wenn andere Konfliktherde aktuell sind - wie vom afrikanischen Kontinent oder im Mittleren Osten (du hast ja Syrien mit drin) - oder aber Flüchtlinge in deutschsprachigen Ländern im Konflikt mit Neonazis, wird das eben genommen. Dann läuft ein Ersteller eben schnell Gefahr, dass der Text so eine Art Kaisers neue Kleider ist: Die Figuren erhalten künstlich (scheinbar) Tiefgang und Relevanz durch das Setting; aber das Setting ist Kulisse, wird eigentlich gar nicht erzählt. Und dann bleibt eigentlich gar nix übrig.

Lieber stattdessen: Form Follows Function. Willst du etwas über die Figuren erzählen und ist das Setting dafür irrelevant, nimm kein aufgeladenes, das mehr erfordert als deine Figuren leisten können. Nimm lieber ein Setting, mit dem du einen passenden Zusammenhang herstellen kannst - wo die Figuren in ihrer 'Gemachtheit' glänzen können und nicht mit realen Schicksalen in z.B. realen Kriegen konkurrieren müssen.

Was bliebe hier, wenn die realpolitischen Konfliktherde raus wären? Ein Text, der (imA zumindest) von Nähe/Distanz und Unsicherheiten erzählt, vllt. auch etwas über das Verhältnis von Mensch zu städtischem Raum, dem Umgang mit Traumata (aber es müssten nicht unbedingt Kriegstraumata sein). Das wäre vllt. etwas runtergekocht von Drohnenkrieg und hastenichjesehen, aber ich meine, dass deine leisen Figuren momentan in diesem Lärm untergingen. Würde es günstiger finden, wenn die mehr Raum für sich selbst bekämen, damit eben auch individueller würden.

Formales, nur was mir nebenbei auffiel:
Gedanken kursiv, indirekte / wiedergegebene Rede kursiv oder in einfachen Anführungszeichen. Zeilenumbruch nach Sprecherwechsel (wörtliche Rede) oder wenn erst jemand was sagt und dann jemand anderes etwas tut. Sonst wird es sehr unübersichtlich.
Irgendwo fehlen eingehende oder ausgehende ", das finde ich grad nicht mehr.
Plural von 'Wagen' ist 'Wagen', Wägen wäre süddeutscher Slang, den du aber sonst nicht verwendest.

Viele Grüße noch mal,
Katla

 

Hallo @Katla,

danke für deine Mühe.

Oder man kann sehr universell angelegte Figuren mit dezidierten Konflikten und Plots nehmen und sie auf ein anderes Setting übertragen, wie es ganz wunderbar klappt mit Shakespeare-Verfilmungen [...] Alle Verfilmungen verstehen im Kern aber den Konflikt und die Implikationen der 400+ Jahre alten Stücke und stellen diese intelligent aktuelleren Szenarien gegenüber, was eben neue, sinnvolle, interessante Perspektiven auf beides eröffnet.
Das klingt spannend, ist aber ein paar Nummern zu groß für mich. "Odesa" ist erst meine zweite Erzählung überhaupt, ich kann also nicht behaupten, auf Erfahrung zurückgreifen und sowas jonglieren zu können.
Was imA nicht so arg gut funzt, sind austauschbare Figuren, die in ein sehr aufgeladenes, sehr spezielles Setting (im Sinne von Hintergrund) versetzt werden, wo sie aber nur austauschbare Dinge tun und austauschbare Konflikte erleben.
Ich denke ich verstehe, was du meinst und dass es auf meinen Text zutrifft.
Lieber stattdessen: Form Follows Function. Willst du etwas über die Figuren erzählen und ist das Setting dafür irrelevant, nimm kein aufgeladenes, das mehr erfordert als deine Figuren leisten können. Nimm lieber ein Setting, mit dem du einen passenden Zusammenhang herstellen kannst - wo die Figuren in ihrer 'Gemachtheit' glänzen können und nicht mit realen Schicksalen in z.B. realen Kriegen konkurrieren müssen.
Das ist ein guter Tipp, zumindest hört er sich so an.
Was bliebe hier, wenn die realpolitischen Konfliktherde raus wären? Ein Text, der (imA zumindest) von Nähe/Distanz und Unsicherheiten erzählt, vllt. auch etwas über das Verhältnis von Mensch zu städtischem Raum, dem Umgang mit Traumata (aber es müssten nicht unbedingt Kriegstraumata sein). Das wäre vllt. etwas runtergekocht von Drohnenkrieg und hastenichjesehen, aber ich meine, dass deine leisen Figuren momentan in diesem Lärm untergingen. Würde es günstiger finden, wenn die mehr Raum für sich selbst bekämen, damit eben auch individueller würden.
Mal sehen, ob ich im unterliegenden Thema was draus machen kann, das nicht die Ukraine tangiert.

Fehler sind, soweit ich es sehen kann, korrigiert.

Viele Grüße,
Helen

 

Ich will mich hier nur mal bzgl. der Schreibweise von Odessa/Odesa reinhängen: Nach wie vor gibt es für die deutsche Schreibweise keine offizielle Verlautbarung, dass wir Odesa schreiben. Ja, es ist angebracht, ja, man kann mit gutem Beispiel voran gehen und so die Schreibweise etablieren, so wie es nach und nach mit Tschornobyl auch gemacht wird, trotzdem gibt es keinen Grund, jemanden anzukacheln, wenn das nicht so gemacht wird. Man kann vernünftig auf die Thematik hinweisen ohne mit den Augen zu rollen.

 

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