- Beitritt
- 10.11.2003
- Beiträge
- 2.246
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Oberammergau 2030
Als Jesus feierlich in Jerusalem einzog, erklangen die Fanfaren und die Menschen jubelten. Es jubelten nicht nur die Schauspieler auf der Bühne, die Spalier standen, es gab Applaus auch im Zuschauerraum, ja ganz vorne rechts gab es sogar Standing Ovations. Das Erstaunliche dabei: Der Esel, auf dem Jesus ritt, ließ sich von dem ganzen Trubel nicht irritieren. Brav, wenn auch etwas hölzern, trug er den Gottessohn bis zu dem vorgesehenen Punkt mitten auf der Bühne. Dort blieb er wie angewurzelt stehen, ohne dass Jesus ihm sichtbar dazu den Befehl gegeben hätte.
Vor zehn Jahren war das noch anders: Das störrische Tier lief einfach weiter, der damalige Jesusdarsteller konnte es erst nach mehrmaligem Umrunden der Bühne zum Stehen bringen, leider mit dem Rücken zum Publikum. Doch damit nicht genug: Der Esel furzte laut, was wegen des dabei erhobenen Schweifs nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar war.
Ganz anders jetzt: Dieser Esel stand nun mit dem rechten Vorderbein erhoben unbeweglich da, als wäre er das Pferd einer Reiterstatue und nicht das berühmteste Tier der ganzen Geschichte oder zumindest der, der Christenheit. Wobei, unbeweglich war er nicht ganz: Sein Schweif machte unregelmäßige Kreise, sein Kopf ging auf und ab und auch mal zur Seite. Stünde er noch länger da, wäre den Zuschauern sicher aufgefallen, dass diese Bewegungen des Schweifes und des Kopfes sich in immer gleichen Rhythmus wiederholten. Aber zum Glück stieg Jesus gleich schwungvoll ab, wohl um zu demonstrieren, dass er noch nicht zum alten Eisen gehörte. Er gab dem Tier einen Klaps auf den Hintern und siehe da, der Esel hob nun auch das linke Hinterbein, machte erst einen Schritt nach vorn, um dann elegant halbkehrt zu machen und durch eine Gasse, die die Schauspieler eilig gebildet hatten, in den Kulissen zu verschwinden.
Weil er dabei, anders als vor zehn Jahren, nicht geführt werden musste, gab es wieder Applaus aus dem Zuschauerraum, und ganz vorne rechts wieder Standing Ovations, was die Zuschauer hinter ihnen veranlasste, ebenfalls aufzustehen, so dass am Ende der halbe Saal stand und einem Esel applaudierte, bis dieser, majestätisch den Schweif kreiselnd, verschwand.
Währenddessen hatte Jesus etwas sagen wollen, aber niemand beachtete ihn, was noch am gleichen Abend im Netz zu Diskussionen führte, ob der Jesusdarsteller noch der richtige sei, wenn er sich nicht einmal gegen einen Esel durchsetzen könne. Es gab aber zum Glück auch genügend Befürworter, die nicht müde wurden, seine sonstigen Vorzüge herauszustellen. So zum Beispiel seinen kurzen und glänzenden, weil gewichsten Bart, seine Baritonstimme und nicht zuletzt seine Erfahrung als Jesusdarsteller, schließlich war das das ausschlaggebende Argument, ihn nach zehn Jahren noch einmal als solchen zu engagieren.
Es wurde dabei verschwiegen, dass Christian Stückl, der ewige Regisseur der Passionsspiele, ein Machtwort gesprochen, weil er die ewigen Querelen um den Jesusdarsteller satt hatte. Beim ersten Mal, sagte er, war dieser angeblich zu jung, und nun sei er zu alt, als müsste es immer ein Dreißigjähriger sein, der Jesus spielen darf. Christian durfte das sagen, schließlich hatte er auch durchgesetzt, dass Mariadarstellerin nicht mehr Jungfrau sprich ledig und nicht älter als fünfunddreißig sein musste, sondern von einer im echten Leben verheirateten Frau gespielt werden konnte. Aber nicht von der Hand zu weisen ist die Tatsache, dass viele Oberammergauer Familien ihren männlichen Nachwuchs so terminierten, dass der just zur Spielzeit das richtige Jesusalter hatte.
Doch am Ende der Diskussion offenbarte die Tierschutzorganisation PETA, dass sie die Idee hatte, den Esel durch einen Roboter darstellen zu lassen. Sie hätten eingesehen, sagte die Sprecherin der Organisation, dass ihre aus dem Jahr 2019 stammende Idee mit dem E-Roller als Eselersatz wirklich nicht gepasst hätte in ein historisches Spiel, das für viele nicht nur eine Theatervorstellung sei, sondern ein religiöses Erlebnis. Deswegen und um zu zeigen, dass sie Tierschutz wirklich ernstnähmen, habe man die Entwicklungskosten des Eselroboters übernommen. Zum Dank habe man vom Veranstalter Freikarten zur Premierenvorstellung bekommen, ganz vorne rechts habe man gesessen und den wirklich lebensechten Esel aus nächster Nähe bewundern können. Damit sei der Beweis erbracht, sagte die PETA-Sprecherin, dass heutzutage im Tierschutz viel mehr möglich ist, als gemeinhin gedacht.
Das brachte die alte Dame der Frauenemanzipation, Alice Schwarzer auf den Plan: Sie sagte, auch in der Sache der Gleichberechtigung sei viel mehr möglich, als gemeinhin gedacht. Vor allem solche, aus längst vergangenen Zeiten stammende Spiele seien ein Symbol für die Frauenfeindlichkeit, für die es heute keinen Platz mehr geben dürfe. Es sei ein Skandal ersten Ranges, dass es in diesem Passionsspiel achtzehn Männerrollen und nur drei für Frauen gebe, wo doch jede Frau und jeder Mann wisse, dass es auch vor zweitausend Jahren gleich viele Frauen wie Männer gab. Im Gegensatz zu PETA mit dem Esel denke sie, Alice, nicht daran, die Männer durch Roboter zu ersetzen, obwohl das einen gewissen Reiz gehabt hätte. Nein, ihr schwebe vielmehr ein weiblicher Jesus vor. Das wäre ein echtes Gegengewicht zu den restlichen siebzehn Männerrollen, da würde sie nicht mehr auf der vom Grundgesetz garantierte Parität bestehen.
Tja, was soll man sagen: Ganz Oberammergau war plötzlich auf den Beinen und der Pfarrer kündigte an, wieder eine Unterschriftenaktion dagegen starten zu wollen, wie damals sein Vorvorgänger, als es darum ging, verheiratete Frauen Maria spielen zu lassen. Das sei bis heute eine Ungeheuerlichkeit, zu der sich neuerdings eine weitere gesellte, nämlich einen Moslem den Judas spielen zu lassen, wo doch schon 1934 Kardinal Faulhaber bestimmte, dass die Rollen in einem katholischen Gelübdespiel nur an Katholiken zu vergeben seien. Gut, das alles habe er schlucken müssen, aber käme Jesus wirklich als Frau daher, würde das an der Grundfesten seiner Kirche rütteln, die unverständlicherweise sowieso nicht mehr so stabil stehe wie seinerzeit, als er als Kind im Internat des Klosters Ettal lebte und lernte und von Patres weder unsittlich angefasst, noch geschlagen wurde, obwohl er das schon verdient gehabt hätte.
Oberammergauer kannten ihren Pfarrer als einen herzensgütigen Mann, aber in manchen Dingen war er halt ein wenig altmodisch. Gut, ein wenig altmodisch waren sie alle in diesem, einst von der Pest heimgesuchten Ort, aber was tut man nicht alles, um alle zehn Jahre eine halbe Million Menschen nach Oberammergau zu locken und sie um zig Millionen Euro zu erleichtern. So ließen sie ihn gewähren, wohl wissend, dass auch eine negative Werbung Werbung ist. Sich wieder mal ins Gespräch respektive Medien zu bringen, ist das Alpha und Omega jeder Aktion: Wird nicht darüber geredet und geschrieben, findet sie nicht statt.
Das wusste vielleicht schon Jesus, als er sich einen Esel als Transportmittel auslieh: Beachtete man ihn nicht, konnte er zumindest darauf hoffen, dass sein störrischer Esel, weil eigentlich ein Fohlen, auf dem noch nie jemand ritt, beachtet würde. Was auch geschah: Der Esel ist das einzige Tier, das im neuen Testament an prominenter Stelle erwähnt werde – warum wohl?