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Nur eine Nacht
Als der alte Golf vor unserem Haus hält, lackiere ich mir gerade die Fußnägel. Auf der Beifahrerseite steigt eine junge Frau aus, fast noch ein Mädchen, lang und dünn, mit rotem Lockenhaar, sie streckt und dehnt sich, als wäre sie in der Kiste geschrumpft, sie kreist Schultern und Becken und Kopf, und ich finde, sie übertreibt maßlos. Ich kenne sie nicht, habe das Mädchen nie zuvor gesehen, das jetzt vor meinem Küchenfenster Turnübungen vollführt. Nun steigt auch der Fahrer aus, ihn erkenne ich sofort, obwohl es Jahre her ist, dass ich ihn zuletzt gesehen habe, er, damals noch ein Kind, in meinem Garten spielte. Ruben! Er geht um den Wagen herum, schlingt die Arme um die Turnerin und die beiden küssen sich, wie nur Frischverliebte küssen, wild und endlos. Mir wird übel und meine Hände zittern, mein Herz schlägt hart und schnell und ich frage mich, ob es wohl gleich explodieren wird. Nach dem Kuss holen sie zwei Rucksäcke aus dem Kofferraum, öffnen das Gartentor und kommen händchenhaltend auf unsere Haustür zu; ich flüchte ins Bad, verstecke mich vor ihrem Klingeln, will es nicht hören, ich will, dass sie wieder abfahren, dahin, wo sie hergekommen sind oder sonst wohin, nur verschwinden sollen sie, weit weg und nie wieder kommen. Endlich verstummt ihr Läuten, ich atme auf, verlasse meinen Bunker und laufe ihnen direkt in die Arme, barfuß, mit drei lackierten Zehen und im Bademantel, der noch vom Morgen übrig ist.
»Besuch für dich«, sagt Arne, mein Mann, er ist vom Einkauf zurück, stellt drei Tüten auf dem Boden ab, ich sehe Lauch, der wie Palmen aus der Tüte wächst.
»Hey«, sagt Ruben.
»Hey«, sagt auch die Turnerin.
»Hey«, sage ich, und kann meinen Blick nicht von Rubens Gesicht abwenden, starre ihn an und will es doch nicht sehen.
Ruben freut sich über das Wiedertreffen, freut sich, dass ich tatsächlich zu Hause bin, erst dachte er ja, sie hätten Pech, schließlich sei Sommer und die Leute führen in den Urlaub. Er entschuldigt sich für den Überfall, eigentlich wollten sie ja für den Zwischenstopp zum Onkel, aber nun wären Sachen dazwischengekommen, ganz plötzlich und deshalb dachte er, er könne ja mal fragen, ob sie diese Nacht hier bleiben könnten, nur eine Nacht, auf dem Sofa oder dem Fußboden, egal, sie würden keine Ansprüche stellen, keine Umstände, morgen früh würden sie weiter nach Neapel reisen, sie bräuchten kein Frühstück, nur Kaffee, ob es mir recht wäre? Ich schaue zu Arne, der zuckt mit den Schultern, was so viel heißt wie, mir egal. Ich höre mich sagen: »Ja, klar. Gar kein Problem.«
Seit meine beste Freundin Biene mit ihrem neuen Freund im Bett lag und Filme schaute oder auch keine Filme schaute, jedenfalls hatte sie keine Zeit mehr für mich, saß ich samstagnachmittags allein an einem Tisch im Café und las ein Buch. Er kam stets gegen fünf, setzte sich an den Tisch neben dem Zigarettenautomaten, zog ein Heft aus seiner Lederjacke, bestellte eine Cola und schrieb. Wenn er nicht schrieb, trommelten seine Finger auf der Tischplatte, und er schaute in den Raum, als würde er in der Caféluft nach einem Wort suchen, als gäbe es viele Worte dort, doch er suchte ein ganz spezielles, er musste es nur aus all den anderen Worten herausfiltern.
Ich nannte ihn den Trommler, stellte mir vor, wie er hinter einem Schlagzeug saß, mit seinen Sticks den Einsatz anzählte, wie er sich hier im Café neue Texte ausdachte. Er blieb eine Stunde, dann legte er das Geld für die Cola auf den Tisch, steckte sein Schreibheft zurück in die Jackentasche und verließ das Café ohne einen Abschiedsgruß hinter die Theke. Ich stellte mir vor, wie er am Abend in einen Club fuhr, in dem er mit seiner Band auftrat, wo ihm die Mädchen um den Hals flogen, bis er eine von ihnen mitnahm, in eine Wohnung mit Kohleofen und Kohlgeruch im Treppenhaus, wo es immer kalt war und sie sich unter Decken vergruben; nackt, verschwitzt und außer Atem.
Als er an jenem Samstag sein Geld auf den Tisch legte, trafen sich unsere Blicke, ich fühlte mich ertappt und wurde rot, senkte meinen Blick und las konzentriert in meinem Buch, bis er sich auf dem Stuhl mir gegenüber niederließ und es albern wurde, so zu tun, als gäbe es ihn nicht.
»Hey«, sagte der Trommler.
»Hey«, flüsterte ich.
Später gingen wir zu ihm, stiegen die Stufen hinauf, es roch nach Kohl im Treppenhaus, in seinem Wohnzimmer stand ein Kohleofen, es war gut geheizt, wir schauten einen Film und tranken Wodka, später bat ich um Leitungswasser, wir redeten kaum, schauten noch einen Film, ich fragte ihn, ob er Schlagzeug spiele, was er verneinte, ob er überhaupt ein Instrument spiele, was er ebenfalls verneinte, wir vergruben uns unter Decken, nackt, verschwitzt und außer Atem, und ich verliebte mich in den Trommler, der kein Trommler war.
Ich steige mit Ruben und der Turnerin die Treppen hoch. Gestern erst habe ich die Betten frisch bezogen, Minnie Mouse fürs untere Bett, die Meerjungfrau fürs obere, ich sammle Barbies Wohnmobil und Barbies Pferd und Barbies Casanova vom Boden auf und stopfe alles zu den anderen Mädchensachen in die Regale. Die Turnerin steht nun ganz still, Ruben hinter ihr, noch immer im Türrahmen, als traue er sich nicht, die Schwelle zu übertreten.
»Ist das okay für euch?«, frage ich.
Die Turnerin sagt nichts, Ruben meint, sie bräuchten kein eigenes Zimmer, die Couch wäre völlig in Ordnung, er wolle meinen Kindern das Zimmer nicht streitig machen.
»Arnes Töchter wohnen bei ihrer Mutter«, sage ich. »Kommen erst in zwei Wochen wieder. Aber lasst die Finger von der Glitzerschminke.«
»Kein Problem«, sagt Ruben und tritt nun doch über die Schwelle, stellt seinen Rucksack neben das Puppenhaus und legt sich ins untere Bett auf Minnie Mouse. Das Bett ist zu kurz, er muss die Beine anwinkeln, und ich frage mich, was ich hier eigentlich tue, schließlich haben wir auch ein ganz normales Gästezimmer.
»Doch, ist völlig okay. Danke!« Er trommelt mit den Fingern auf seinem Bauch und ich kann nicht anders, als hinzustarren, das auf und ab der Finger zu verfolgen, den Rhythmus zu hören, der von seinem Körper geschluckt wird, den niemand hört, außer ich, laut und deutlich.
Er fragt, ob es unhöflich wäre, wenn er mit Tina ‘ne Runde drehe, ihr zeige, wo er gewohnt habe, wo es das beste Eis gab und wo er mit dem Schlitten in den Zaun gebrettert ist? Wollte bisschen in seinen Wurzeln graben.
»Sicher«, sage ich, »geht ihr mal ‘ne Runde.«
Tina, wirft ihren Rucksack auf das obere Bett, sagt: »Wir können die Matratzen ja auf den Boden legen.« Sie schaut mich an, sagt: »Wir machen das morgen auch wieder ordentlich.«
Endlich gehen die beiden. Wurzeln graben, was für ein Scheiß, denke ich. Im Eisladen! Arne putzt in der Küche das Gemüse fürs Abendessen und ich sitze auf dem Fußboden im Mädchenzimmer, und suche nach Worten in der Luft, nach einem Wort, ein lautes, so laut, dass es all die anderen in mir zum Schweigen bringt. Aber da ist kein Wort. Kein einziges Wort ist in der Luft, also gehe ich runter zu Arne und schmiege mich an ihn, lasse mich von ihm festhalten, bei ihm ist es still.
Über die Jahrtausendwende fuhren wir gemeinsam auf eine Hütte in den Bergen. Biene und ich setzten uns alberne Hüte auf den Kopf und hässliche Brillen auf die Nasen, ihr Paul und mein Trommler mixten die Bowle, die uns das Hirn vernebelte.
»Ich will ein Kind«, sagte ich an Neujahr zum Trommler.
»Wozu?«
»Es würde gut zu uns passen.«
»Zu dir vielleicht.«
»Zu dir nicht?«
»Nicht jetzt. Später.«
»Wann später?«
»Später eben.«
Meinen Großeltern war dieses Haus zu groß und der Garten zu viel geworden, sie zogen in eine Stadtwohnung inmitten von Arztpraxen, Apotheken und Supermärkten, ich in ihr großes Haus, allein, ohne den Trommler, uns waren die Decken abhanden gekommen, unter denen wir uns vergraben konnten.
Während ich still in die Kissen heulte, schrie Biene ihren Schmerz unter Wehen in die Welt. Ruben wurde geboren, meine Freundin und ihr Paul schoben den Winzling durch den ersten Schneesturm des Jahres nach Hause.
Ich sah meinen Trommler in fremden Gesichtern, traf seinen Schatten im Supermarkt, im Kino, im Bus, ich wiegte Bienes Baby, das aussah wie ein kleiner Trommler.
»Blödsinn«, sagte Biene.
»Aber guck doch mal.«
»Hör sofort damit auf!«
Mit der Zeit hörte der Schatten auf, mich zu verfolgen, ich traf den Trommler immer seltener, irgendwann gar nicht mehr, erst wieder, als Ruben sieben Jahre alt war. Man hatte mir kurz zuvor die Eierstöcke entfernt, Ruben und ich buddelten Kartoffeln aus, er saß auf dem Boden, am anderen Ende des Beetes, legte jede Kartoffel wie einen Schatz in den Korb. Es war heiß an jenem Tag, ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und dabei Erde ins Gesicht, und als Ruben seinen Kopf zur Sonne neigte, sah ich den Trommler, er hockte als kleines Kind mitten in meinem Kartoffelbeet, ich starrte Ruben an, schluckte, wandte meinen Blick ab, lief ins Haus und schaufelte mir literweise kaltes Wasser ins Gesicht, redete mir ein: Das kann nicht sein. Biene und der Trommler. Niemals! Niemals hätten die beiden. Wann denn auch?, schob es auf die Sonne, die Hitze, zu wenig Wasser getrunken.
»Hast du eigentlich noch Kontakt zum Trommler?«, fragte ich abends Biene, während Ruben und Paul ein paar Bälle zwischen die Apfelbäume schossen.
»Nee«, sagte Biene. »Wie kommst du drauf?«
»Nur so.«
Ein halbes Jahr später zog Biene mit ihrer Familie in den Norden, weit weg, wir entfernten uns, verloren uns ganz aus den Augen.
Tina, die Turnerin, baut einen Joint und lässt ihn rumgehen. Die beiden plappern auf uns ein, schwärmen von Italien, Ruben trommelt mit seinen Fingern auf der Tischplatte.
»Hör auf damit!«, sage ich.
»Tschuldigung. Dumme Angewohnheit.«
Ich nicke, stehe auf, um aus der Küche eine weitere Flasche Wein zu holen. Ruben folgt mir, wir stehen da, ich mit dem Korkenzieher in der Hand, er seine Hände in den Hosentaschen.
»Warum bist du hier?«, frage ich.
»Meiner Mutter geht es nicht gut.«
»Was habe ich damit zu tun?«
»Ich dachte, es interessiert dich vielleicht.«
»Und wenn nicht?«
»Dachte nur, du solltest es wissen.«
»Okay, jetzt weiß ich es.«
»Sie hat ein Foto im Arbeitszimmer hängen, ihr beide, Arm in Arm auf einer Silvesterparty, mit albernen Hüten auf dem Kopf und hässlichen Brillen auf den Nasen.«
»Und?«
»Dachte nur, das solltest du auch wissen.«
»Sonst noch was, was ich wissen sollte?«
Der Korken steckt fest, ich bekomme ihn nicht heraus, Ruben nimmt mir die Flasche ab, zieht einmal kurz und die Sache ist erledigt. »Danke, dass du uns die Nacht hier schlafen lässt. Morgen früh sind wir wieder weg.«
Er geht mit der Flasche ins Wohnzimmer, ich räume Besteck, Gläser und Teller aus dem Geschirrspüler, ein Teller rutscht mir aus den Händen, fällt zu Boden, ich fluche, und als ich die Scherben auflese, trete ich mit dem nackten Fuß in eine hinein, ich klebe ein Pflaster drauf und wische das Blut von den Fliesen. Danach ziehe mich in mein Bett zurück. Ich höre die drei unten lachen, höre, wie sie mitten in der Nacht die Treppen hochpoltern, höre die Geräusche aus dem Badezimmer, ihre Schritte im Flur, wie die beiden im Zimmer nebenan umräumen, gackern, höre ihre Stimmen, ohne zu verstehen, was sie sagen, ich spüre, wie Arne sich von hinten an mich schmiegt, wie sein Atem meinen Nacken streift, wie seine Hand meinen Arm streichelt, und endlich, endlich kann ich einschlafen.
Am nächsten Morgen, als Arne und ich aufstehen, sind die beiden fort. Die Matratzen liegen wieder in den Kinderbetten, es steht kein Golf mehr vor meinem Küchenfenster, nur zwei abgewaschene Kaffeetassen neben der Spüle.