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Nur ein paar Zettel
Zu meinem vierzehnten Geburtstag habe ich von meiner Tante ein Abo für eine Mädchenzeitschrift bekommen. Darin stehen Schminktipps, die ich überblättere, und kitschige Foto-Love-Stories, die ich überblättern will und dann doch lese. Am interessantesten ist die Rubrik „Moni hilft“, in der eine Psychologin die Fragen verzweifelter Mädchen beantwortet. Jetzt weiß ich über alles Bescheid - wie Jungs ticken, wie Beziehungen laufen, wie man Sex hat. Zumindest in der Theorie.
Annika kennt jetzt auch die Praxis.
Ich hab ihr einen Platz im Bus freigehalten, wie jeden Morgen, und sie setzt sich neben mich, mit roten Wangen und leuchtenden Augen.
„Leo“, flüstert sie. „Ich muss dir was erzählen!“
„Was denn?“, frage ich, dabei weiß ich es natürlich schon. Seit Wochen redet Annika nur noch von Max und jedes Mal, wenn sie an ihm vorbeigeht, grinsen seine Kumpels und stoßen ihn in die Seite.
„Ich bin jetzt mit Max zusammen.“ Sie zupft an dem Haargummi herum, den sie ums Handgelenk trägt.
Ich betrachte die Rückenlehne des Sitzes vor uns - braune Rauten auf senffarbenem Grund. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie scheiße das aussieht.
„Wahnsinn“, sage ich, ohne den Blick von dem hässlichen Überzug abzuwenden.
„Ja. Ich war gestern Abend bei ihm und … Meine Eltern wissen es noch gar nicht. Du bist die Erste, der ich’s erzähl.“
„Cool. Ich freu mich für euch.“
„Danke.“
Ich schaue durch das Fenster nach draußen. Blauer Himmel, darauf ein paar Tupfen makellos weißer Wolken. Am liebsten würde ich einen Eimer grauer Farbe drüber klatschen.
„Hey.“ Annika stößt mich in die Seite. „Bist du sauer?“
„Quatsch.“
„Du brauchst keine Angst haben, die Freitage sind trotzdem noch für dich reserviert.“
„Klar.“
Eine Pause entsteht. Dann nimmt sie meine Hand. „Ach, Leo, du lernst sicher auch bald jemanden kennen. Irgendwann macht es PENG! und dann steht er vor dir!“
Ich denke mir, dass Max auch nicht plötzlich – PENG! – vor ihr stand, sondern seit drei Jahren in unsere Klasse geht. Aber ich sage nichts, drehe mich zu ihr und lächle.
Sie umarmt mich, und da merke ich, dass sie anders riecht, irgendwie süß, und irgendwie reifer, nach Vanille und Pfirsich.
Das Beste an Bio sind unsere Plätze. Annika und ich sitzen zu zweit in der letzten Reihe und wir können die ganze Stunde über flüstern, ohne dass unsere Lehrerin etwas mitbekommt.
In den Tischplatten sind Stiftschalen aus Plastik eingelassen. Mit den Fingernägeln kann man sie herauspulen und dann entdeckt man manchmal Spitzreste oder Bonbonpapierchen darunter. Als ich die Stiftschale heute heraushebe, um mein Kaugummipapier drunter zu legen, finde ich etwas anderes – einen kleinen Fetzen aus gelbem Löschpapier. Darauf steht in engstehenden Buchstaben: „Hallo! Mir ist langweilig!“
Ich zeige den Zettel Annika und sie hebt gleich ihre eigene Stiftschale hoch. Aber da liegt keiner.
„Und, schreibst du zurück?“, flüstert sie mir zu.
Natürlich schreibe ich zurück. Ich kritzle auf die Rückseite des Zettels: „Willkommen im Club. Was nehmt ihr gerade durch? Wir: Insekten.“
Dann falte ich den Zettel wieder zusammen und lege ihn unter die Stiftschale. Annika macht es mir nach und schreibt auch einen, was mich irgendwie ärgert.
***
In der nächsten Biostunde finde ich tatsächlich eine Antwort, diesmal auf einem karierten Zettel.
„Insekten hatten wir letztes Jahr schon. Wir machen gerade Fotosyntese. Was ist dein Lieblingsinsekt?“
„Was dein Lieblingsinsekt ist? Was ist denn das für eine bescheuerte Frage?“ Annika hat sich zu mir rübergebeugt und wirft einen Blick auf den Zettel. „Und Fotosynthese schreibt man mit H.“
Ich zucke mit den Schultern. Immerhin habe ich überhaupt eine Antwort bekommen. Der Zettel, den sie geschrieben hat, ist nämlich weg, stattdessen klebt ein Kaugummi unter ihrer Stiftschale.
Ich kaue auf meinem Füller herum und überlege, was ich antworten soll. Um ehrlich zu sein, finde ich Insekten alle ziemlich überflüssig. Erst denke ich an Marienkäfer, aber dann schreibe ich Hummeln. Warum, weiß ich auch nicht, vielleicht, weil ich das Wort mag.
Und dann denke ich mir selbst noch eine Frage aus: Was hast du heute in der Pause gegessen?
„Vielleicht ist er so ein Insektenfreak“, sagt Annika, als wir danach auf dem Pausenhof stehen und uns eine Butterbrezel teilen. „Der tote Schmetterlinge auf Nadeln aufspießt. Mit einem riesigen Terrarium voller Gottesanbeterinnen.“
„Die fressen ihre Männer auf, wusstest du das?“
Annika nickt. „Mein Onkel hat welche. Richtig widerlich.“ Sie beißt von ihrer Butterbreze ab. „Vielleicht legt er dir jetzt eine tote Hummel drunter.“
„Du bist ekelhaft. Und du weißt nicht mal, ob es ein Er ist.“
„Die Schrift sieht so aus. Klein und krakelig. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein Junge ist.“
Ich sage nichts darauf und schiebe mir ein Stück Breze in den Mund. Aber, um ehrlich zu sein, freue ich mich, dass sie das sagt.
***
„Ist da noch frei?“
„Hm?“ Ich nehme den Kopfhörer aus meinem Ohr. Vor mir steht Timo und deutet auf den Sitz neben mir.
„Ja, klar“, sage ich und ziehe meinen Rucksack zur Seite.
Timo setzt sich neben mich, ein bisschen zu nah - aber nicht nah genug, als dass ich mich traue, wegzurutschen.
Ich kenne Timo schon seit dem Kindergarten. Seine Eltern sind mit meinen befreundet und als Kinder haben wir zusammen Lego gespielt. Timo hatte damals einen langen dünnen Zopf bis hinunter auf den Rücken – einen Yedi-Zopf, sagte er – und meistens wollte er Star Wars spielen. Diesen Zopf hat er jetzt natürlich nicht mehr, stattdessen hängen ihm blonde Haare ins Gesicht. Er trägt eine schwarze Hose, einen Nietengürtel und ein T-Shirt mit dem Anarchiezeichen auf dem Rücken.
„Und, wie geht’s?“, frage ich.
„Läuft. Alles cool. Bei dir?“
„Auch.“
Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe. Sonst sitzt Annika immer neben mir im Bus. Aber sie trifft sich heute mit Max.
„Wie läuft eure Band?“, frage ich.
„Ganz cool. Wir haben einen neuen Song, ich hab den Text geschrieben. Wir sind noch am Ausfeilen, aber ich glaub, der wird richtig cool.“
„Cool.“
„Ja.“ Timo knetet seine Hände. „Vielleicht magst du ihn dir ja mal anhören. Ich meine, wenn er fertig ist. Natürlich nur, wenn du Bock hast. Ist nicht so deine Richtung, schätz ich, wir machen ziemlich harte Songs, weißt du ja, und … Aber vielleicht interessiert‘s dich ja trotzdem.“
„Klar. Doch. Auf jeden Fall.“
„Cool.“
Ich habe keine Lust, mir noch mal eine Frage auszudenken, deswegen schweigen wir, bis ich an meiner Haltestelle bin.
***
Die nächsten drei Wochen liegt jede Stunde ein Zettel unter der Stiftschale.
Sie sind tatsächlich von einem Jungen. Ich weiß inzwischen, dass er in der Pause immer Salamibrote dabei hat, dass seine Lieblingsinsekten Bienen sind und dass er eine Jahrgangstufe über mir ist. Ich erfahre seinen Namen (Alex), sein Lieblingsfach (Sport) und welchen Lehrer er am meisten hasst (Herr Rudolf – da sind wir uns einig).
„Was schreibt ihr da eigentlich die ganze Zeit?“, fragt Annika mich später in der Pause.
„Och, nichts Besonderes“, sage ich und das stimmt ja auch.
„Fragst du dich nicht manchmal, wer dieser Typ ist? Ich meine …“ Sie lässt den Blick über den Pausenhof schweifen. „Es könnte quasi jeder sein.“
„Er ist eine Jahrgangstufe über uns.“
„Zumindest behauptet er das.“ Sie schiebt sich einen Kaugummi in den Mund. „Vielleicht ist es auch ein pickliger Fünftklässler.“
„Und wenn schon. Ist mir egal, wer er ist.“
In Wahrheit habe ich neulich die letzten Jahrbücher durchgeblättert und mir alle Klassenfotos angeschaut – aber in jeder Klasse scheint es mindestens einen Alexander zu geben. Ich beobachte die Jungs aus der oberen Jahrgangstufe – der könnte es sein, oder der … oh Gott, bitte nicht DER – und wenn jemand in der Schule „Alex“ ruft, drehe ich mich um. Ich ertappe mich sogar dabei, wie ich nach Salamibroten suche.
Manchmal frage ich mich, ob es diesem Alex genauso geht. Dann stelle ich mir vor, wie wir beide durch die Schule gehen und nach einander Ausschau halten. Vielleicht haben wir uns sogar schon mal angesehen, vielleicht hat er dann gedacht „Ach, die wäre doch nett.“
Und ich frage mich, ob er sich auch so auf die Biostunden freut, ob er auch immer gespannt die Stifteschale hebt und lächelt, wenn er einen Zettel drunter findet.
Nur noch zwei Wochen Unterricht, dann sind Sommerferien. Dann gibt es keine Zettel mehr, im nächsten Schuljahr haben wir neue Räume und Sitzplätze, und ich werde nie erfahren, wer dieser Alex ist.
***
Am Freitag Abend kommen Timos Eltern zum Essen zu uns. Timo ist auch dabei. Er ist immer dabei. Mit sechs war das normal, mit fünfzehn ist es komisch. Mit sechs hab ich mich auch noch gefreut, wenn er mitgekommen ist.
Wir essen alle zusammen Lasagne, dann gehen Timo und ich hoch in mein Zimmer.
„Mach‘s dir bequem“, sage ich und deute mit einer unbestimmten Armbewegung auf mein Bett und das Sofa. Ich warte, bis Timo sich aufs Bett gesetzt hat, dann nehme ich auf dem Sofa Platz.
„Also, ähm …“, sagt Timo nach einer Pause. Er zupft an seinem Ohrläppchen herum. „Der Song ist fertig.“
„Welcher Song?“
„Von dem ich dir neulich erzählt hab? Im Bus?“
„Achso. Ja.“
Wieder fasst er sich ans Ohr. „Willst du ihn hören?“
„Klar.“
Timo zieht seinen mp3-Player aus der Hosentasche und hält mir einen Kopfhörer hin. Jetzt muss ich mich doch zu ihm aufs Bett setzen.
Ich stopfe mir den Stöpsel ins Ohr und Timo drückt auf Play. Ich höre ein wahnsinnig schnelles Schlagzeug, einen ebenso schnellen Bass und dazwischen kieksiges Geschrei, das wohl den Gesang darstellen soll. Der Refrain ist ganz gut.
„Cool“, sage ich, als das Stück fertig ist und gebe Timo den Kopfhörer zurück. „Wirklich nicht schlecht.“
„Echt? Cool! Der Text ist von mir.“
„Ja, der ist super“, sage ich, obwohl ich kein Wort verstanden habe.
Timo strahlt und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich mir gerade überlegt habe, ob es komisch käme, wenn ich jetzt wieder zum Sofa zurückgehe.
Ich bleibe sitzen.
„Hey, wir haben nächsten Donnerstag ein Konzert. Im „On the rocks“. Nichts Großes“, fährt Timo fort. „Kostet auch keinen Eintritt.“
Ich schaue auf meine Hände hinunter. Frag nicht, denke ich. Bitte, Timo, frag nicht.
Er dreht seinen mp3-Player in den Händen, dann sieht er mich an. „Magst du kommen?“
„Klar“, sage ich und weiche seinem Blick aus. „Klar, das klingt super.“
***
Montag ist die vorletzte Biostunde. Seit fast vierzig Minuten liegt der Zettel schon neben meinem Heft. Lauter belangloses Zeug steht darauf, was meine Lieblings-Eissorte ist (Himbeer), was ich von Formel-1 halte (nichts) und was mein schönster Geburtstag war (mein zehnter, da sind wir in den Europapark gefahren). Ich habe noch keine Gegenfrage aufgeschrieben.
Zum zehnten Mal lese ich mir alles durch, schaue auf die Uhr - zwei Minuten noch bis zur Pause. Ich blicke wieder auf den Zettel. Komm schon, denke ich und setze den Stift aufs Papier. Ziehe ihn wieder weg. Noch ein Blick auf die Uhr (eine Minute noch), dann kritzele ich dazu: Wollen wir am Freitag Eis essen gehen?
***
Die Tage bis zur nächsten Biostunde sind die Hölle. Drei Mal bin ich kurz davor, in den Biosaal zu rennen und den Zettel wieder zurückzuholen. Wenn ich durch die Schule gehe, habe ich das Gefühl, ein Schild hinge um meinen Hals – Ja, ICH hab diesen bescheuerten Zettel geschrieben.
Sogar meiner Mutter fällt auf, dass etwas nicht stimmt. „Was ist denn los mit dir?“, sagt sie, als ich in Tränen ausbreche, nur weil mein Schokopudding angebrannt ist.
„Nichts.“
„Du wirkst … angespannt.“
„Ja“, sage ich. „Wegen den Zeugnissen.“
Mittwoch ist der schlimmste Tag. Die ersten drei Schulstunden rauschen irgendwie an mir vorbei. In Englisch vergesse ich, mein Buch aufzuschlagen, und starre zehn Minuten lang auf die unbeschriebene Tafel.
Es wird keine Antwort drunter liegen. Da bin ich mir inzwischen sicher. Ich sehe es schon vor mir – ich hebe die Stiftschale, darunter: nichts. Mir ist kotzübel.
Dann haben wir Bio. Schon beim Betreten des Raums wandert mein Blick zu dem Tisch. Natürlich sieht alles aus wie immer.
Dann sitze ich auf meinem Platz und starre auf die Schale. Ich schaffe es nicht, drunter zu schauen. Annika flüstert mir irgendetwas zu, ich mache „Hm“, keine Ahnung, was sie gesagt hat. Scheiße, Leonie, das ist ein bescheuerter ZETTEL!, denke ich und dann hebe ich die Stiftschale hoch. Meine Finger zittern, als ich mit den Nägeln unter das Plastik fahre.
Da liegt ein Zettel. Ich falte ihn auf. Eine Handynummer steht drauf, und zwei Sätze: Klar, Eis ist super. 14 Uhr im Numero Uno?
***
Ich kann den ganzen Donnerstag über nicht stillsitzen, deswegen gehe ich joggen. Draußen hat es fast dreißig Grad, aber ich renne wie eine Bescheuerte den Feldweg entlang. Nach dem Duschen fahre ich zum Drogeriemarkt, kaufe Kajal und Rouge und Lidschatten, und eine Bodylotion. Sommer Edition steht darauf, sie duftet nach Vanille und Pfirsich.
Ich denke nur an morgen. Was, wenn er wirklich ein Insektenfreak ist? Oder ein pickliger Fünftklässler? Oder – noch schlimmer: was, wenn er gar nicht kommt?
Bevor ich schlafen gehe, schaue ich nochmal auf mein Handy. „Okay“, habe ich ihm geschrieben, und: „Ich trag ein rotes T-Shirt!“ Darauf habe ich keine Antwort erhalten, aber eigentlich erwarte ich auch keine.
Freitag Morgen. Ich schaue in den Spiegel, binde mir die Haare zusammen, löse sie wieder. Ich trage Wimperntusche auf, Rouge, Lidschatten, Kajal - es sieht beschissen aus. Vielleicht hätte ich die Schminktipps doch nicht überblättern sollen. Ich wische alles wieder ab.
Dann schlüpfe ich in einen schwarzen Rock. Eine Jeans. Eine kurze Hose. Ich hole mein rotes T-Shirt aus dem Schrank, mein Lieblings-Shirt, aber ich ziehe es nicht an. Soll ich wirklich hingehen? Was, wenn er nicht kommt? Ein paar Minuten stehe ich in meinem Zimmer und knete den Stoff in meinen Händen. Dann streife ich es mir über den Kopf.
Als ich an Mama vorbei zur Haustür gehe, dreht sie den Kopf. „Du riechst gut“, sagt sie. „Was ist das, ein neues Parfüm?“
Im Bus treffe ich Timo. Ich ziehe meinen Rucksack zur Seite, damit er sich setzen kann, aber er läuft an mir vorbei, ohne mich anzusehen.
Ich starre ihm nach und da fällt es mir wieder ein. Scheiße.
„Timo!“ Ich springe von meinem Sitz auf und laufe ihm hinterher. „Timo, es tut mir so leid!“
Er bleibt stehen und schaut mich an.
„Es tut mir so leid“, sage ich nochmal und rede hastig weiter: „Ich … ich wollte wirklich kommen. Ich hab’s einfach nicht mehr geschafft.“
„Du hättest mich anrufen können.“
„Ja.“ Ich schaue auf meine Füße und weiß nicht, was ich noch sagen soll.
Er dreht sich weg und zieht seinen mp3-Player aus der Hosentasche.
„Timo, ich … zu eurem nächsten Konzert komme ich, okay? Ich komme wirklich, ich versprech‘s.“
„Ist mir egal“, sagt Timo, setzt sich die Kopfhörer auf und schaltet die Musik an.
***
Als ich zur Eisdiele komme, fällt mir niemand auf. Drei kleine Mädchen sitzen mit ihren Müttern an einem der Tische und essen Spaghetti-Eis, daneben zwei Jungs in meinem Alter, und ein Opa, der einen Cappuccino trinkt. Keiner, der aussieht wie ein Alex.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. Kurz nach zwei. Er wird schon noch kommen. Ich stelle mich vor die Eisdiele und beobachte die Menschen, die die Fußgängerzone entlanggehen. Irgendwann fällt mir auf, dass die beiden Typen in meinem Alter mir komische Blicke zuwerfen, deswegen hole ich mein Handy raus und tippe darauf herum.
„Hey, schönes Shirt!“, höre ich da jemanden hinter mir sagen.
Ich drehe mich um. Ein Junge, helle Haare, gebräunte Haut, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er sieht gut aus, besser als Max, und um Längen besser als Timo. Ich kann mein Glück gar nicht fassen.
Er lächelt. „Bist du Leonie?“
Ich nicke und will zurücklächeln, aber meine Mundwinkel sind wie eingefroren.
„Ja, Leonie, ein wirklich schönes Shirt“, wiederholt er.
„Danke“, bringe ich hervor.
Ich kann nicht aufhören, ihn anzuschauen. Zwei Grübchen graben sich in seine Wangen, feine Sommersprossen überziehen die Nase.
„Wunder-, wunderschön“, sagt er. „Hast du das extra für mich angezogen?“
Ich sehe ihn an und bin plötzlich verunsichert. Er erwidert meinen Blick, unverändert lächelnd. Ich warte darauf, dass er noch irgendetwas sagt, aber nichts passiert. Dann prusten die beiden Jungs an dem Tisch neben uns los und sein Lächeln wird auch immer breiter und plötzlich ist es kein Lächeln mehr, sondern ein Grinsen.
„Ey, du hast echt gedacht, das ist ein Date, oder?“, sagt er, während sich die beiden Jungs daneben gar nicht mehr einkriegen. „Du hast das echt geglaubt!“
Jetzt fängt er auch an zu lachen. Ich sehe zwischen ihm und den beiden Jungs hin und her, sage irgendwas von wegen „Haha, nee, Quatsch“ und kichere ganz hoch und schrill. Und dann drehe ich mich um und laufe weg, weil meine Kehle so zugeschnürt ist, dass ich nicht mehr sprechen kann.
„Hey, ich glaub, die heult!“, höre ich einen der Jungs rufen, aber das ist natürlich totaler Schwachsinn. Ich heul doch nicht, war mir ja auch von Anfang an klar, dass das kein Date ist, hab ich mir heute Morgen schon gedacht, und dass ich das rote T-Shirt angezogen hab, das war nur so, zur Sicherheit, ist ja auch mein Lieblingsshirt, aber natürlich hab ich gewusst, dass das kein Date ist, ich bin ja nicht blöd. Und überhaupt, wieso sollte ich wegen so einem Kerl heulen, der nicht mal weiß, wie man Fotosynthese schreibt, ich meine, nur wegen ein paar Nachrichten, so ein paar blöder, alberner Nachrichten. Nein, das wäre ja albern, ganz ehrlich, nur wegen ein paar bescheuerter Zettel, da heul ich doch nicht.