- Beitritt
- 31.10.2003
- Beiträge
- 1.543
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Nur ein Motiv
Linke Spur. Autobahn.
Ein flüchtiger Blick zum Tacho.
165 km/h.
Rauschende Landschaft. Fliegender Asphalt.
180 km/h.
Kein weiteres Fahrzeug auf dieser Spur.
Beruhigende Geschwindigkeit.
In weiter Ferne zwei Lkw rechts.
182 km/h.
Vertrauen, dass der Hintere rechts bleibt.
Ein kurzer Gedankenblitz.
Gewissheit, dass er es doch nicht tut ...
Benjamin Fiedler schraubte das Teleobjektiv von der Kamera ab. Es waren genug. Und einige von ihnen waren mit Sicherheit ein kleines Vermögen wert.
Er blickte kurz auf die endlose Autoschlange, die sich von der Polizeiabsperrung bis weit in den Horizont hineinzog. Für einen winzigen Augenblick überlegte Benjamin, ob sie ein Foto wert wäre, verwarf den Gedanken aber gleich darauf wieder. Uninteressant. Für eine kilometerlange Blechlawine ließ keine Zeitung etwas springen. Er tätschelte seine Kamera; hier drin befanden sich die echten Schätze, eng aneinander gereiht in einer lichtundurchlässigen Plastikummantelung.
Er lächelte, während er das Objektiv behutsam, beinahe sanft, in die weiche Schaumstoffhülle seines Koffers legte. Ben war noch einer der wenigen Fotografen, die auf diesen ganzen neumodischen, digitalen Schnickschnack dankend verzichteten. Und darauf war Benjamin Fiedler auch stolz.
Vor drei Jahren hatte er festgestellt, dass er mit seinem Hobby richtig Kohle machen konnte; man brauchte lediglich eine Möglichkeit, den Polizeifunk abzuhören – kein Problem für ihn -, ein schnelles Auto – geländegängig – und ein bisschen Zeit und Glück. Und schon zauberte er die schönsten Fotos von verstümmelten Unfallopfern, bis zur Unendlichkeit zerstörten Autowracks und ähnliche Kuriositäten auf Zellophan. Danach ein kurzer Anruf bei diversen Zeitungen – die meisten kannten Ben schon lange und schätzten seine Arbeit – und ab nach Hause zum Entwickeln. Schnell, schnell; das Wichtigste war Schnelligkeit. Und natürlich möglichst viel Blut. Je grausamer das Motiv, desto dicker das Konto. Sein Konto.
Die Unfallstelle war inzwischen zum größten Teil geräumt, und die Polizei hatte damit begonnen, einen der Fahrstreifen wieder freizugeben. Der zerstörte Lkw war mittels eines fahrbaren Krans zur Seite befördert worden; der andere Klumpen Metall – war es mal ein Audi gewesen? – lag verkümmert und schon fast mitleidserregend auf einem Abschleppwagen.
Ben stand abseits auf einem Feld, weit hinter den Leitplanken und blickte auf einen Feuerwehrmann, der eifrig mit dunklem Blut verklebten Staub von der Straße fegte.
Der Rettungswagen mit den in einem schwarzen Sack verpackten Leichenteilen hatte vor ein paar Minuten die Unfallstelle verlassen. Stumm war er auf der freien Strecke seiner grausamen Bestimmung entgegen gefahren.
Tja, wieder einer weniger. Ben hatte sich mittlerweile an alles gewöhnt; es war sein Job. Warum und wie es zu dem Unfall kam, war ihm einerlei. Hauptsache er war passiert und brachte Geld ein. Geld hieß Leben.
Ben klappte den Koffer zu, griff nach seinem Handy und wählte drei Verlage an, sprach schnell – Schnelligkeit war das Wichtigste – und nachdem er aufgelegt hatte, überzog ein breites Grinsen sein hageres Gesicht.
Sein Geländewagen stand etwa fünfzig Meter von ihm entfernt auf dem durchweichten Feld, Ben musste sich jetzt beeilen. Ein kurzes Aufblitzen neben der Leitplanke ließ ihn jedoch für einen Moment in seiner Bewegung verharren. Er wollte weitergehen, doch irgendetwas zwang ihn schon fast, sich noch einmal umzudrehen.
Die Sonne war an einer winzigen Stelle durch die dichte Wolkendecke gebrochen und ein spärlicher Lichtstrahl hatte irgendeine Reflexion ausgelöst.
Vermutlich ein Teil des Autowracks. Ben verfluchte seine Neugier, stellte den Koffer ab und ging vorsichtig, sich immer wieder umsehend, auf dieses blitzende Etwas zu. Er musste es möglichst unauffällig tun, denn die Polizei sah es nicht gerne, wenn jemand in der Nähe des Unfallorts herumschnüffelte.
Er hatte die Leitplanke erreicht – unentdeckt – und nach kurzem Suchen stand er neben dem kleinen Gegenstand. Er tat so, als müsse er sich die Schuhe binden, während er das Handy aus dem zähen Lehm hervorzog.
Zwei Minuten später saß Benjamin Fiedler auf dem Sitz seines Wagens und befreite vorsichtig mit einem Tuch das Plastik vom Schmutz. Es war eines dieser neumodischen Fotodinger. Ben schüttelte den Kopf.
Irgendwie muss es bei dem Unfall aus dem Wagen geschleudert worden sein, und irgendwie war es dabei heil geblieben. So robust seine Canon auch war, er war sich sicher, dass sie so etwas niemals aushalten würde. Also ein Kompliment an den neumodischen Scheiß.
Ob es sich tatsächlich um das Telefon des Unfallopfers handelte? Mit großer Wahrscheinlichkeit ja, denn der Teil, der nicht im Schlamm steckte, sah sehr sauber aus. Das Ding kann noch nicht lange dort gelegen haben. Wieder grinste Ben, denn wenn es so wäre, dann hielt er hier eine Art Tagebuch in den Händen. Vielleicht hatte das Opfer noch kurz vorher telefoniert? Vielleicht eine heiße sms geschrieben?
Alles Dinge, die dann nur er wissen würde. Alles Dinge, für die die Zeitungen eine ganze Stange Geld springen lassen müssten. Der nächste Karibikurlaub war ihm sicher.
Ben klappte das Handy auf, und für einen winzigen Augenblick gefror sein Grinsen zu einer steinernen Maske. Vom Display aus lächelten ihn die Gesichter zweier, kleiner Kinder an.
Ben schluckte. Das Opfer war Familienvater.
Scheiße! Ben hatte stets darauf geachtet, nichts Persönliches über die Opfer zu erfahren; schließlich waren sie nur ein Motiv. Nichts weiter. Nur etwas Statisches, das ihm alle möglichen Annehmlichkeiten dieser Welt bescherte.
Erneut blickte er auf die lächelnden Gesichter. Zwei Jungs, der eine etwa acht, der andere wesentlich jünger. Beide blickten freudestrahlend in die Kamera, beide blickten freudestrahlend auf Ben.
Er klappte das Handy zu, warf es auf den Beifahrersitz und startete den schweren Wagen.
Eine Stunde später saß Ben an seinem Küchentisch und starrte auf das leuchtende Bild des winzigen Monitors.
Die Tür zur Dunkelkammer war geöffnet und die Bilder des Unfalls hingen zum Abtropfen an einer Leine. Spätestens in zwei Stunden wollte der Verlag sie haben. Sie würden der morgigen Ausgabe einen unermesslichen Wert erteilen. Und sie würden Bens Konto einen unermesslichen Wert erteilen.
Die Kinder lächelten ihn an.
Ben schüttelte den Kopf, als sein Finger die Menütaste betätigte.
Nachrichten! Keine Kinder mehr.
Ein Schweißtropfen hatte sich auf Bens Stirn gebildet.
Posteingang! Neue Nachrichten! Postausgang!
Bens Finger zitterte. Er wollte das Leben – das erloschene Dasein – des zerfetzten Mannes doch gar nicht kennen. Er durfte es gar nicht kennen.
Denk an die Kohle!
Ben dachte an die Kinder. Ob sie es mittlerweile wussten? Bestimmt, denn seit dem Unfall war bereits über eine Stunde vergangen. Und in dieser Zeit war die Polizei mit Sicherheit ihrer Pflicht nachgekommen.
„Guten Tag Frau xyz. Dürfen wir einen Moment herreinkommen?“
Bens Zittern verstärkte sich und er kniff für einen winzigen Augenblick die Lider zusammen.
Als er sie wieder öffnete las er: ´Hallo Liebling. Wir vermissen dich so sehr. Freuen uns wenn du wieder da bist. Ganz dicken Kuss!´
Hatte sein Herz gerade einen gefährlichen Aussetzer gehabt? Ben legte das Handy zurück auf den Tisch. Die Uhrzeit der Nachricht war auf 6.22 Uhr datiert. Das muss kurz vor dem Unfall gewesen sein. Ben drehte sich um und blickte auf die Fotos. An einem fiel ein winziger Tropfen Flüssigkeit zu Boden, es war, als rann er direkt aus der glänzenden Blutlache auf der Abbildung.
Erneut berührten Bens Finger die kleinen Tasten.
Letzte Gespräche!
Ben sah eine Reihe Nummern; die meisten waren identisch und mit einem winzigen Häuschen verziert. Seine Privatnummer.
Denk an die Schlagzeilen! Denk an die Kohle! Denk an die Karibik!
Ben drückte die rote Taste und die Gesichter der Kinder freuten sich wieder, ihn zu sehen.
Warum hatte er das verdammte Ding nicht im Schlamm stecken gelassen? Die Polizei hätte es mit Sicherheit irgendwann gefunden oder sonst wer. Aber nein, Herr Fiedler konnte seine Finger wieder nicht bei sich lassen.
Das Display mit den Kindern verschwand und ein Rufaufbau wurde signalisiert. Erst jetzt registrierte Ben, dass er die Wahlwiederholung gedrückt hatte. Ein gewaltiger Kloß breitete sich in seinem Hals aus, schien gleichzeitig seinen Brustkorb zu erdrücken.
Leg auf!
Denk an die Kohle!
Er führte das Handy zu seinem Ohr.
Leg auf! Ben spürte, wie seine Finger zuckten. Drück, verdammt noch mal, die rote Taste!
„Hallo?“
Die winzige Stimme hätte Ben beinahe aufschreien lassen. Schweißperlen rannen von seiner Stirn herab und hinterließen ein brennendes Gefühl auf der Netzhaut.
„Hallo? Wer is denn da? Papa, bist du das?“
„Hallo.“ Ben zuckte zusammen, seine Stimmbänder hatten tatsächlich geantwortet. Er sah den kleineren der beiden Jungen vor sich, sah, wie dieser lächelte und wie sein Lächeln verstummte, als nicht die Stimme seines Papas antwortete.
„Mama! Da is nich Papa dran!“ Die Stimme war weit entfernt.
Eine harte Explosion in seinen Eingeweiden verschaffte Ben die grausame Erkenntnis: Sie wussten es noch nicht! Die verdammte Polizei hatte es ihnen noch nicht gesagt.
„Hallo? Wer ist denn da?“ Eine weibliche Stimme, melodisch, lieblich.
Ben schluckte. Es war die Stimme, die ihren Liebling so sehr vermisste. Die Stimme, die sich bereits auf seine Rückkehr freute und die einen ganz dicken Kuss per sms versandt hatte. Kurz bevor ...
Hallo! Wer ist da bitte?“ Ihre Stimme wurde fordernder. Dann: „Liebling, bist du es?“ wieder etwas weicher.
Nein, dein Liebling hängt an einer Wäscheleine hinter meinem Rücken! Ben spürte, wie eine Träne in seinen Augen entstand und der Kloß in seinem Hals drohte ihn zu ersticken. Warum hatte die Polizei noch nichts gesagt? Diese Familie wartet doch auf die Rückkehr des Vaters. Warum ließ man sie solange warten? Warum wurde ihr weiterhin diese heile Welt vorgegaukelt?
„Liebling, warum sagst du denn nichts? Ich sehe doch an deiner Nummer, dass du es bist.“ Kurze Pause. „Stehst du etwa schon vor der Tür?“
„Is Papa schon da?“ Wieder diese kleine Stimme im Hintergrund. „Darf ich schon aufmachen, Mama?“
Das Läuten einer Türglocke drang durch den winzigen Lautsprecher in Bens Ohr.
„Ich hab´s doch gewusst“, lächelte die Frau in den Hörer. „Du kannst aufmachen, Benny. Papa ist da!“
Dann wurde die Verbindung beendet.