Nummer 85
Er blieb vor dem Haus stehen. Mal wieder. Bestimmt schon 1000 Mal hatte er davor gestanden, das hochgewachsene Gras im Garten betrachtet und die alte,
rostige Gartenpforte geöffnet und wieder geschlossen. Sogar in den Garten hatte er sich schon einmal hineingetraut, bis zur siebten Platte des Gartenweges.
Dann war allerdings ein Auto den Feldweg entlanggekommen und er hatte mit klopfendem Herzen das Weite gesucht.
Heute wollte er es wagen, sich selbst beweisen, dass er mutig genug war das Haus zu betreten und sich drinnen umzuschauen. Das Haus stand direkt am Waldrand, Fliederweg Nummer 85. Er wohnte in Hausnummer 12, beinahe einen
Kilometer von hier entfernt, Richtung Stadt, wo der Fliederweg noch eine breite Straße war. Doch hier, wo nur selten jemand vorbeikam, war der holprige Feldweg
mit Gras und Farn überwuchert, waren große Schlaglöcher und schlammige Pfützen.
Er schaute sich um, lauschte, ob vielleicht ein Auto kam und öffnete langsam die knarrende Gartenpforte. Einen Schritt nach dem anderen näherte er sich
der braunen Eichenholztür, die dringend einen neuen Anstrich brauchte. Sechste Platte, siebte Platte, achte Platte, jetzt war er schon weiter als beim letzten Versuch, neunte Platte, zehnte. Ihm stockte der Atem, als er in der Ferne Autogeräusche hörte, die näherkamen. Durfte er überhaupt hier sein? Was war, wenn man ihn erwischte? Würde er Ärger kriegen, würde man seine Eltern ins Gefängnis sperren? Blödsinn, dachte er, mich sieht ja keiner. Glücklicherweise entfernten sich die Motorengeräusche wieder, das Auto war wohl in die Bachallee abgebogen, die dort den Fliederweg kreuzte, wo er zum Trampelpfad wurde und das letzte bewohnte Haus stand. Nur noch wenige Schritte, dann stand er plötzlich vor der großen Tür, hinter die er schon so oft hatte blicken wollte.
Martin drehte am verrosteten Türknauf, doch wie nicht anders zu erwarten war die Tür abgeschlossen. "Mist," fluchte der Junge leise. Er ging zurück auf
den Gartenweg und suchte nach einem offenen Fenster oder einer anderen Tür.
Hinter dem Haus, im zugewucherten Garten, entdeckte er eine Hintertür vor dem, was wohl einst die Terrasse gewesen war. Ein morscher Holztisch gammelte dort
vor sich hin, den Pilzen und Mossen schien es zu gefallen. Daneben stand ein brüchiger Stuhl mit ähnlichem Bewuchs. Den Gartenmöbeln keine weitere
Beachtung schenkend rüttelte er an der Hintertür. Sie schien nicht so stabil gebaut zu sein wie die eichenhölzerne Vordertür und gab schon nach wenigen Sekunden
nach.
Da stand er nun, am Ziel seiner Träume. Von draußen sah er durch die halb geöffnete Tür nur Dunkelheit, abgesehen von dem schmalen Lichtstreifen, der
durch den Türspalt fiel und einen staubigen Holzboden preisgab. Sein Herz klopfte wie verrückt, aber warum? War es nicht das, was er sich immer gewünscht hatte, einmal das alte Fachwerkhaus zu betreten und dort rumzustöbern? Es konnte
ihn doch keiner entdecken, wenn er erstmal im Haus war, wozu also die Panik?
Mit zitternden Händen öffnete er die Tür etwas weiter, womit auch der Lichtstrahl, der das Innere des Hauses beschien, immer größer und größer wurde.
Zuerst offenbarte er nur eine alte staubige Kommode, dann einen alten staubigen Schrank und schließlich eine alte staubige Küche. Überhaupt, alles im Haus war
staubig. Was hatte seine Mutter nochmal gesagt, das Haus war seit 20 Jahren verlassen? Er trat einen Schritt in das Haus hinein. Sein Herz klopfte wie verrückt, doch er nahm seinen ganzen Mut zusammen und ging weiter. Vorsichtig schloss er die Tür wieder, vielleicht würde man ihn sonst doch entdecken. Er hielt einen Moment inne. Im Haus war es totenstill. Naja, fast jedenfalls. Martin hörte ein leises, scharrendes Geräusch, das aus dem ersten Stock zu kommen schien. "Wahrscheinlich Mäuse," sagte er und erschrak vor seiner eigenen Stimme. Ich werde jetzt kein Feigling sein, dachte er, ich bin im Haus drin, also werde ich mich auch umschauen.
Er ging weiter voran, durch die alte Küche hindurch in den Flur. Auch dort standen einige alte morsche und verstaubte Möbel. Er beachtete sie nicht, ihn zog es nach oben in den ersten Stock. Obwohl er wusste, dass ihn keiner hören konnte - wer soll denn hier schon sein? - bemühte er sich leise zu sein. Schwierig, wenn die Treppe bei jedem Schritt knarrt als würde sie jeden Moment auseinanderfallen. Als er etwa auf der Hälfte der Treppe war, brach eines der Bretter durch. Er quiekte leise und stolperte beinahe panisch ein paar Stufen höher. Oben musste er sich erstmal auf den Treppenabsatz setzen um einen Moment zu verschnaufen. Er schaute die Treppe hinunter, in der jetzt ein relativ großes Loch klaffte.
Nach wenigen Sekunden stand er wieder auf und schaute sich im oberen Stockwerk um. Links von ihm schien eine kleine Kammer zu sein, soweit er es durch die halb geöffnete Tür erkennen konnte. Darin befand sich ein Bett, das schon mal bessere Tage gesehen hatte, vor allem die Matratze, aus der schon die Federn rausquollen.
Plötzlich hörte er das Scharren wieder, ganz in der Nähe. Er folgte dem Geräusch, ganz langsam. Es kam aus dem hintersten Zimmer dieses Stockwerks. Die Tür war verschlossen. Sollte er sie öffnen? Wer weiß, vielleicht war doch etwas anderes als eine Maus dahinter? Doch das konnte er nur herausfinden, wenn er die Tür öffnete. In der Schule würde man ihn für seinen Mut beneiden, wenn er rumerzählte, dass er sich in das Haus gewagt und sich sogar in das Zimmer in dem irgendetwas rumorte, getraut hatte.
Martin legte seine Hand auf die kalte Türklinke. Das scharrende Geräusch war jetzt ganz laut zu hören. Aber da war noch etwas, eine Art Schnaufen. Martin schluckte. Ganz langsam drückte er die Türklinke herunter, ganz langsam öffnete er die Tür, und ganz langsam schritt er in den Raum. Innen war es recht dunkel, da das Fenster direkt vor eienr großen Buche lag, die sich im Wind wiegte. Nach wenigen Sekunden begannen seine Augen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das Schnaufen schien direkt vor ihm zu sein. Er erkannte die Umrisse eines Bettes, auf dem etwas lag, was diese Geräusche machte. Es schien zu schnarchen. Plötzlich murmelte das schnarchende Etwas irgendwas. "Hrmmm... Was... was ist denn das?" grollte es mit tiefer Stimme. Martin erschreckte sich wie nie zuvor in seinem Leben. Er stolperte rückwärts gegen die Tür und landete auf dem Boden. Sofort raffte er sich wieder auf und laut kreischend stolperte er die Treppe runter, durch die Küche und rannte nach draußen.
Mit zitternden Knien stand er wieder vor der Gartenpforte des Hauses, das er so oft hatte betreten wollen. Nun ja, davon war er jetzt kuriert. Leise schluchzend trottete er nach Hause und schwor sich nie wieder an das Haus Nummer 85 zu denken.
Innen räkelte sich der Landstreicher auf dem staubigen alten Bett, gähnte einmal herzhaft und schlief wieder ein.