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Noviziat
Das Postulat liegt hinter mir. Seit gestern trage ich die graue Ordenstracht, die Schwestern des Monasterio del Maria tragen schwarz. Noch immer bin ich die neue. Obgleich ich schon sechs Monate hier lebe, betrachten sie mich nicht als ihresgleichen. Das würde sich auch mit den ersten Gelübden nach dem Noviziat nicht ändern. Erst mit den ewigen, die für ein Leben gelten.
Nach dem Morgengebet gehe ich zur Messe, nach dem Gottesdienst nehmen wir schweigend das Frühstück ein. Um acht beginnt der Arbeitsdienst, heute im Garten, vor dem Mittagessen fahre ich mit Schwester Oberin Luisa Fernanda zum Markt.
„Wie fühlst du dich?“, brüllt mir Schwester Luisa Fernanda ins Ohr. Die Siebzigjährige sitzt schräg hinter mir auf dem blechernen Kotflügel, ihre permanente Knoblauchfahne ist legendär. Der winzige Traktor hat nur einen Sitz, nicht selten fahren wir damit zu dritt. „Mir geht es gut“, schreie ich gegen den bellenden Motorenlärm an, „heute ist ein herrlicher Tag!“
„Ja!“, brüllt sie, „aber das meine ich nicht.“
Es geht das Gerücht um, die Oberin verzehre Unmengen Knoblauch, damit man den Likör nicht riecht.
„Du trägst jetzt sein Gewand“, schreit sie, „damit gehst du eine Verpflichtung ein!“ Schwester Luisa Fernanda packt mich schmerzhaft am rechten Arm, krallt sich daran fest, als fürchte sie, vom ruckelnden Traktor zu fallen.
„Das weiß ich!“, rufe ich nach hinten, die Finger meiner rechten Hand beginnen zu kribbeln.
„Nichts weißt du!“, belehrt sie mich. „Nicht das Geringste!“
Ich starre stur geradeaus, erwidere nichts und hoffe, dass sie es dabei belässt.
Unser Weg führt an den Bahngleisen entlang, flirrend zeigt sich die Hitze über dem Schotterbett der Schienen.
„Halt an!“, schreit Schwester Oberin plötzlich und gibt meinen Arm frei. Ich steige auf Kupplung und Bremspedal und stoße mir die Knie an der offenen Lenkstange. „Was ist passiert?“, frage ich und fahre herum. Die Oberin springt vom Kotflügel und landet leichtfüßig auf dem Feldweg. Verblüfft schaue ich der greisen Frau nach, nie hätte ich für möglich gehalten, dass sie dazu in der Lage ist. Ich steige ebenfalls vom Traktor, reibe mir die Knie und folge ihr ein kurzes Stück den Weg zurück.
„Heilige Maria Muttergottes!“, stößt Schwester Luisa Fernanda aus, bleibt stehen und hebt beide Hände zum wolkenlos Himmel. Eine Sekunde später trete ich neben sie und schreie vor Entsetzen auf. Zwischen sich im Wind wiegenden, graugelben Gräsern liegt der nackte Leichnam eines Kleinkindes. Sofort wende ich mich ab, schlage die Hände vors Gesicht und schließe die Augen. Zu spät, der entsetzliche Anblick hat sich bereits in meine Netzhaut gebrannt. In meinem Rücken höre ich Schwester Luisa Fernanda beten, auf Kopf und Schultern spüre ich die brennende Sonne. Mir ist heiß, entsetzlich heiß, dann dunkelt es vor meinen Augen. „Du bleibst hier!“, befielt die Oberin und läuft an mir vorüber zum Traktor. Ihre harschen Worte holen mich zurück. Ich möchte protestieren, ihr nachlaufen, bleibe jedoch wie mit dem Boden verwachsen stehen. „Bete für das Kind!“, ruft Schwester Luisa Fernanda über die Schulter, dann steigt sie auf und fährt weg.
Das Kind liegt auf dem Rücken, die Arme mit einer Paketschnur an den dürren Körper gebunden, über dem Kopf ein grobmaschiger Sack. Auch Knie und Knöchel sind zusammengebunden und die gleiche Schnur mäandert vom Brustbein hinunter, bis weit über den Bauchnabel hinaus; verschwindet in der milchweißen Haut, taucht zweifingerbreit entfernt wieder auf. Ein verschnürtes, vernähtes Paket. Gott, bitte nimm dies Bild von mir!
Ein Windhauch fährt mir entgegen, wischt mir Hände und Zweifel aus dem Gesicht. Mit klarem Blick schaue ich hinaus, sehe die Herrlichkeit seiner Schöpfung, fühle die Gegenwart und weiß um die Unfehlbarkeit seines Handelns. Die frische Brise trägt den schweren Duft der warmen Erde mit sich, den der Gräser und der wogenden Mohnblüten ringsum. Dann dreht der Wind und mich überfällt der faulige Gestank des Todes.
Am nächsten Tag bin ich vom Arbeitsdienst freigestellt, liege lange auf dem Bett in meiner Kammer und weiß nicht, was ich denken soll. Gott, warum?
Das tote Kind ist nicht das erste, das in unmittelbarer Nähe zum Klosters aufgefunden wurde. Das geht schon über ein Jahr so, beinahe monatlich ein Kind, manchmal mehr. Immer die gleichen, schrecklichen Details, verschnürt und ausgenommen wie Fische. Nahezu alle Organe fehlen, dazu die Augäpfel und manchmal die Zähne.
Was dahintersteckt, liegt auf der Hand.
Davon zu wissen, ist eine Sache, es mit eigenen Augen zu sehen, eine ganz andere. Auf meinem Nachthemd, dem Kissen und auf dem Boden neben meinem Bett klebt Erbrochenes. Ich muss an Laura Sofia denken, die Tochter meiner Schwester, seit Wochen weiß niemand, wo sie ist. Wieder schnürt es mir die Kehle zu, muss ich würgen.
Die Ohnmacht im nahegelegenen Dorf ist allgegenwärtig. Nahezu jeder kennt jemanden, der betroffen ist, oder zählt selbst dazu. Die Policía Nacional bleibt tatenlos, Schwester Oberin und ich wurden zu gestern noch nicht einmal befragt. Nicht wenige glauben, die Polizei hätte selbst damit zu tun oder hält zumindest die Hand auf.
Gott, wieso lässt du das zu?
Nach dem Mittagstisch halte ich es nicht länger im Kloster aus. Die Schwestern gehen mir aus dem Weg, Schwester Oberin sieht mich noch nicht einmal an. Dabei brauche ich gerade jetzt einen Menschen, der mich liebt, der mich in die Arme schließt und festhält. Trost und Zuflucht bei Gott zu finden, scheint mir auf einmal schwer möglich. Ich stehle mich aus dem Kloster, nehme eines der Fahrräder und mache mich unbemerkt auf den Weg ins Dorf.
Es ist heiß, ich schwitze unter dem dicken Ordensgewand. Schon nach wenigen hundert Metern bin ich außer Atem und werde deutlich langsamer. Jäh wird mir klar, dass ich erneut die Stelle passieren muss, an der tags zuvor das Kind gelegen hat. Meine Arm- und Beinmuskulatur verkrampft sich und ich gerate ins Schlingern. Herr, warum?
Taumelnd komme ich zum Stehen, stolpernd springe ich vom Rad und falle zu Boden. Mit dem Gesicht nach unten bleibe ich liegen und blase stoßweise Staubwolken auf.
„Schwester!“, vernehme ich eine Stimme, im nächsten Augenblick greifen Hände nach mir.
„Sind Sie verletzt?“, fragt jemand und will mir aufhelfen, aber ich fahre herum und stoße ihn von mir.
„Ana Maria, ich bin es.“
„Mateo!“ Als ich meinen Onkel erkenne, stürze ich mich in seine Arme. Mateo fängt mich auf und zieht mich an sich. Tränen trüben meinen Blick, laut schluchzend bringe ich kein weiteres Wort hervor. Mateo hält mich fest, lässt mich weinen.
„Hast du es gehört?“, frage ich endlich.
„Darum bin ich gekommen.“
So wie er es sagt, überfällt mich ein entsetzlicher Gedanke, den ich bis eben nicht gedacht, wohl verdrängt habe. Wortlos reiße ich mich von Mateo los und starre ihn an. Er erwidert meinen Blick, dann steigen ihm Tränen in die Augen und er wendet sich ab.
„Es ist Laura Sofia“, sage ich tonlos und jemand schaltet die Welt aus. Ein vierseitiger Vorhang zieht mir den Blick zu, etwas reißt mir die Sinne weg, Muskeln und Knochen sind nicht länger existent.
Am Nachmittag erwache ich in meinem alten Zimmer. Die Fensterläden sind geschlossen. Im Halbdunkel lausche ich aufgebrachten Stimmen, die von nebenan zu mir dringen.
„Wir gehen weg, schon nächste Woche, das ist entschieden!“
„Weglaufen? Alles zurücklassen, was wir uns aufgebaut haben?“
„Willst du bleiben? Weiter zusehen?“
„Und Ana Maria?“
„Sie hat selbst entschieden. Jetzt ist es ihre Sache!“
Papa streitet sich mit Mateo. Ob noch jemand mit im Zimmer ist, kann ich nicht sagen.
„Sie braucht uns“, sagt Mateo.
„Sie hat selbst entschieden“, wiederholt Papa, er hat es mir nicht verziehen. Für Papa habe ich mich mit dem Eintritt ins Kloster gegen die Familie entschieden. Gegen eine eigene Familie, gegen seine Enkelkinder. Ich kann ihm nicht unter die Augen treten, nicht jetzt. Auf Zehenspitzen sammle ich ein paar Sachen ein und schleiche zum Fenster.
In der Scheune steige ich aus der Ordenstracht und ziehe Jeans und T-Shirt an. Noch nicht einmal eine Woche ist es her, dass ich weltliche Kleidung abgelegt habe. Jetzt in Hosen zu stecken und meine nackten Arme zu zeigen, erscheint mir falsch und befreiend zugleich.
"Du trägst jetzt sein Gewand, damit gehst du eine Verpflichtung ein!", hallen Schwester Oberins Worte in meinem Kopf wider. "Ich weiß", hatte ich geantwortet. Und jetzt lege ich es einfach so ab.
Auf der Straße, hinten auf Mateos Pickup finde ich das Fahrrad. Die Tracht verstaue ich auf dem Gepäckträger und radle los. Am Ende des Dorfes biege ich nach Westen ab, fahre hinunter zu dem verlassenen Güterbahnhof, wo Andres Felipe das Sagen hat. Sie nennen ihn el chapito, aber für mich bleibt er für immer Felipo, seit er mich in der dritten Klasse auf den Mund geküsst hat.
Bei den Verladerampen angekommen mustern mich feindselige Blicke, Felipo ist nirgends zu sehen. Fünf oder sechs junge Burschen stehen herum, keiner wesentlich älter als ich. Ausnahmslos jeder trägt eine Waffe.
„Puta, was willst du hier?“, blafft einer und ein zweiter: „Suchst du einen Schwanz, cariño?“
Was habe ich mir dabei gedacht? Das sind nicht mehr die Jungs aus der Schule, das haben sie weit hinter sich gelassen. Zwei stellen sich mir in den Weg, zwei weitere schneiden mir den Rückzug ab.
„Wo ist Andres Felipe?“, frage ich und meine Stimme klingt weit weniger selbstsicher, als ich gehofft habe. Ihre Blicke verfinstern sich, dann packt mich einer am Arm und zieht mich vom Rad.
„Ich bin Ana Maria“, sage ich hastig, „el chapito kennt mich, sagt ihm das.“
Ein anderer packt mich an den Haaren, reißt meinen Kopf herum. „Ich bin jetzt el chapo!“, brüllt er und schlägt mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie werfen mich auf den Boden, ich fange an zu schreien und in der nächsten Sekunde hält mir einer ein Messer an den Hals.
„Halt die Fresse, puta, oder ich schlitz dich auf!“ Die Klinge schneidet in meine Haut und ich verstumme. Blut läuft mir in den Nacken, als sie sich an meiner Hose zu schaffen machen. Jäh wird mir vollends bewusst, welch großen Fehler ich gemacht habe. Wie um alles in der Welt hatte ich glauben können, hier Antworten oder sogar Hilfe zu finden? Rücksichtslos ziehen sie mir die Jeans von den Beinen und zerreißen meine Unterhose. Ich wehre mich nicht, auch so schneidet das Messer tiefer in meine Haut.
„Das ist Mosqueras Tochter“, sagt einer, „die ist Nonne.“ Er hält mein Ordensgewand in Händen und schaut die anderen unschlüssig an.
„Interessiert mich `n Scheiß!“, meint ein anderer, macht seine Hose auf und drängt sich zwischen meine Beine. El chapo packt ihn am Hemd und zieht ihn von mir. Einen Moment fürchte ich, dass er sein Vorrecht einfordert, dann sagt er jedoch unverhofft: „Gib ihr das!“ Und an mich gewandt: „Lass dich hier nie mehr blicken!“ Sie werfen mir mein Gewand hin, am Boden kauernd ziehe ich es über. Ich schaue keinen von ihnen an, stehe auf und geh zum Fahrrad.
Keine fünfhundert Meter entfernt bleibe ich stehen und greife mir an den Hals. Die Wunde blutet noch, brennt wie Feuer, aber nicht so sehr wie die Scham in mir. Dieses Land ist derart verkommen, ein Leben so wenig wert und Gott sieht bei allem zu. Papa hat recht. Warum hierbleiben?
Ich sehne mich in die Zeit zurück, als er mich auf seinen Armen trug, ich nichts von all dem wusste. Achtlos lasse ich das Rad fallen und sinke zu Boden. Auf der Erde sitzend ziehe ich die Knie dicht an den Körper und umschließe sie mit den Armen. Vornübergebeugt verbergen meine Haare mein Gesicht. Mit dem Anlegen des Gewandes ging ich eine Verpflichtung ein.
„Was machst du hier noch?“
Ich blicke auf, es ist der Junge, der meinen Vater erwähnte.
„Verschwinde von hier!“, keift er, dabei sieht er über seine Schulter. Als er mich wieder anschaut, blicke ich ihm in die Augen und erkenne ein verunsichertes Kind. Ich strecke ihm die Hände entgegen und er zögert. Wieder blickt er sich um, dann ergreift er sie und hilft mir auf die Beine. Im Stehen will er mich abschütteln, aber ich lasse seine Hände nicht los. „Gott sieht alles und jeden“, sage ich und weiß nicht, woher die Worte kommen. Ich schaue ihm weiter in die Augen und er verzieht das Gesicht zu einer ängstlichen Grimasse. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und greife mit meiner rechten in seinen Hosenbund. Er zuckt zusammen, macht jedoch keinerlei Anstalten, mich daran zu hindern, seine Pistole zu nehmen. Einen weiteren Augenblick lang halte ich seine Hand lose in meiner, dann gebe ich ihn frei. Er schluckt, schaut auf die Waffe in meiner Hand und dann wieder mich an. Wortlos drehe ich mich um und gehe langsam Richtung Bahnhof. Hinter mir höre ich seine Füße scharren, dann rennt er weg.
„Was zur Hölle!“, sagt einer und el chapo kommt auf mich zugelaufen. „Bist du irre?“, fragt er und stellt sich mir in den Weg.
„Ich möchte wissen“, sage ich und schaue ihm direkt in die Augen, „wer die Kinder holt?“ Verborgen unter dem Ordensgewand halte ich die Pistole in der Hand.
Er kratzt sich am Kopf, kneift die Augen zusammen und beginnt zu grinsen. Dann holt er aus und ich schieße ihm in den Bauch. Der Knall ist ohrenbetäubend und erschreckt mich mindestens genauso wie die anderen. Ich lege auf den nächsten an und feuere. Ich verfehle ihn und dann frisst sich etwas in meine Brust und die Welt erlischt einmal mehr.
In Schwärze und Stille falle ich. Dann schlage ich hart auf dem Boden auf und komme noch einmal zurück. Wie dicke Wassertropfen bei einem beginnenden Platzregen prasseln weitere Treffer auf mich ein. Und dann