Was ist neu

Nordmeerfahrt

Seniors
Beitritt
25.01.2002
Beiträge
1.259
Zuletzt bearbeitet:

Nordmeerfahrt

Hätte ich meiner Frau die Schiffsreise nie geschenkt! Mit gekrümmtem Bauch kauerte ich am Boden, stoßweise rang ich nach Luft. Doch der Mann ließ nicht von mir ab. Seit er Klara und mich wie Vieh an Deck geschleift hatte, malträtierte er mich mit seinen hohen Lederstiefeln. Dabei hatte zunächst alles so harmlos begonnen.
In der Hansestadt Bergen hatte die MS Polarlys nach der Einschiffung den ersten Hafen verlassen, über Ålesund und Trondheim erreichte das Hurtigrutenschiff am Morgen des vierten Tages den nördlichen Polarkreis. Von dort aus ging es weiter nach Tromsø, Honningsvåg und Kirkenes, bis nach Hammerfest, der nördlichsten Stadt Europas. Eine faszinierende Landschaft aus Schären und Inseln war an uns vorbeigezogen.
Doch nun das!
Der Mann mit dem langen Haar hielt kurz inne und bellte etwas in einer altnordischen Sprache. Ich verstand kein Wort. Vergeblich bemühte ich mich, zurück auf die Beine zu kommen. Klara wollte mir dabei helfen, aber ihre Handfesseln ließen es nicht zu.
Das Kreuzfahrtschiff, das sich über Nacht verwandelt haben musste, war nicht wieder zu erkennen. Unter tief am Himmel dräuenden schwarzen Wolken knarzte ein Mast, der ein vom Sturm gepeitschtes, rot-weiß gestreiftes Segel trug, Regen prasselte auf faulige Planken. Gut zwei Dutzend Wikinger hockten an den Ruderbänken zwischen den Spanten. Jeder in Fell gehüllt und mit einem grob geschmiedeten Schwert an seiner Seite. Mit zitternden Muskeln legten sie sich in die Riemen, um das schwankende Schiff voranzutreiben.
»Das ... das ist ein Traum«, stammelte ich. »Ein Albtraum!«
»Olaf!«, zischte Klara. »Er muss uns das eingebrockt haben!«

Während der schwedische Kellner die Gläser spülte, lächelte er. Das Schiffspub war gut besucht. Klara und ich saßen an der Bar und lauschten der gedämpften Live-Pianomusik.
»Ihre erste Kreuzfahrt?«, erkundigte sich Olaf höflich.
»Ja«, antwortete ich. »Wir wollten schon immer mal mit so einem Luxusliner aufs offene Meer hinaus.« Dass Klaras und meine Vorstellungen dabei ein wenig auseinander gingen, stellte sich leider erst im Nachhinein heraus.
Eine Weile plauderten wir über die noch vor uns liegenden Rundreiseziele.
»Bald erreichen wir den spektakulären Trollfjord«, erzählte Olaf. »Für mich jedes Mal das Highlight dieser Fahrt.«
»Trollfjord?«, vergewisserte ich mich und kramte neugierig eine Broschüre hervor. Ich suchte kurz, fand den entsprechenden Abschnitt, und erfuhr, dass es sich dabei um einen zwei Kilometer langen Seitenarm des Raftsunds handelte, der Wasserstraße zwischen den Inselgruppen Lofoten und Vesterålen. Früher war es dort üblich, sich durch das Aufmalen des Schiffsnamens an den Felswänden zu verewigen.
»Ja.« Der Kellner bekam vor Begeisterung leuchtende Augen. »In Zeiten, in denen noch Wikinger die Seewege beherrschten, hausten in den dunklen Wäldern des Fjords nämlich tatsächlich Trolle! Riesige graue Geisterwesen, die das Sonnenlicht scheuten. Und das ist noch nicht alles: Sie entführten Kinder und legten stattdessen einfach ihre eigenen Neugeborenen in die Betten!«
Klara war voller Skepsis. »Das glauben Sie wirklich? Was für ein Schwachsinn! Bringen Sie mir lieber den Wein, den ich vor einer halben Ewigkeit bestellt habe!«
Seit Tagen war ihre Laune nicht gerade die beste. Erst vor knapp einer Woche hatte sie mir gestanden, dass sie viel lieber mit der AIDA wärmere Gefilde anstatt das Nordland bereist hätte. Aber dafür war es nun zu spät. Zu meinem Bedauern ließ sie ihren Frust nicht nur an mir, sondern auch an dem Bordpersonal aus.
Olaf wandte sich sichtlich gekränkt von uns ab und kam dann mit dem Glas zurück.
»Wenn es hier wenigstens ein Animationsprogramm gäbe!«, wandte sich Klara an mich.
Der Kellner hatte die Worte gehört. »Keine Sorge, Sie kriegen Ihr Animationsprogramm.« Er warf meiner Frau einen bösen Blick zu, während er den Wein servierte, dann lächelte er seltsam. »Das kommt schon noch.«
Damit war das Gespräch für Olaf beendet. Verärgert kehrte er Klara den Rücken zu und wir sahen ihn an dem Abend nicht mehr. Ich konnte es ihm kaum verübeln und entschuldigte mich in Gedanken für meine Frau. Normalerweise war sie Fremden gegenüber aufgeschlossen und höflich.
»Pfui Teufel, was ist das denn für ein Gelabber?« Klara würgte den Wein hinunter und verzog das Gesicht.
Ich kostete den trockenen Rebensaft, diesmal musste ich meiner Frau recht geben. Norwegen mochte für seinen Fisch bekannt sein, aber von Weinherstellung verstanden die Einheimischen wirklich nichts.
Gegen Mitternacht überwältigte uns die Müdigkeit und wir begaben uns in die luxuriöse Doppelkabine.

»Heiliger Strohsack!«, entfuhr es Klara. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Auch ich traute meinen Augen nicht. Das Blut gefror mir in den Adern.
Während das schwankende Schiff mit dem Drachenkopf mühsam versuchte, dem starken Wellengang zu trotzen, traten auf dem Hochplateau der fast senkrechten Felsformation gigantische Trolle in Erscheinung. Mit ihrer Muskelkraft wälzten die Riesen, die wohl darüber verärgert waren, dass die Wikinger ihr Reich betreten hatten, im strömenden Regen Holzkatapulte bis vor den Abgrund.
Eisige Gischt spritzte an Bord. Am tiefschwarzen Himmel durchbrach grollender Donner das Fauchen des Windes.
»Das ist das Ende!«, prophezeite Klara düster. »Was sollen wir nur tun?« Wir waren der Situation hilflos ausgeliefert.
Die Wurfarme schossen nach oben, ein Bombardement aus Felsbrocken hagelte mit voller Wucht auf das Drachenschiff, das das Fahrwasser in der Mitte des Meeresarmes zwischen den beiden Landzungen suchte. Der verzweifelte Versuch der Wikinger, sich an den rauen Bergen vorbei zum Engpass Richtung See zu stehlen, scheiterte. Wurfgeschosse trafen den Rumpf des Langschiffs und schlugen Lecks. Holz splitterte. Gewaltige Wassermassen fluteten das Schiff und drückten das Deck nach unten. Bug und Heck hoben sich, Klara und ich wurden über Bord geschleudert. Ich tauchte unter, von der Kälte wie gelähmt, schluckte brackiges, salzhaltiges Wasser. Vergeblich kämpfte ich trotz Handfesseln gegen die viel zu starke Strömung. Bis meine Kräfte schwanden.

Nur langsam verstummten meine panischen Schreie, ich hörte auf, wie wild um mich zu schlagen, sah mich verdutzt um, erkannte die Doppelkabine der MS Polarlys. Ich lag auf dem harten Teppichboden. Neben mir richtete sich nach einem angsterfüllten Aufschrei Klara auf. Danach war alles still. Von Wikingern und Trollen keine Spur. Mein Schädel dröhnte, als hätte ich die Nacht durchgemacht, aber wir schienen beide unverletzt zu sein. Ich sah durch das Bullauge, dichter Nebel verschleierte die Sicht. Vermutlich war es früh am Morgen.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Ein Nicken. »Wo waren wir gewesen?«
»Du meinst wohl, wann ...« Ich bekam eine Gänsehaut.
Wir fanden nie heraus, warum wir beide die gleiche Halluzination gehabt hatten. Aber unser schwerer Verdacht fiel auf Olaf. Was zur Hölle war nur in dem Glas gewesen, das er meiner Frau serviert hatte? Hätte ich nur nicht davon gekostet!
»Vielleicht hättest du ihm doch ein wenig mehr Respekt entgegenbringen sollen«, erwiderte ich und setzte mich auf das Bett.
Nach einem Zögern nickte Klara. »Ganz unrecht hast du ja nicht. Ich muss ziemlich widerlich zu ihm gewesen sein.«
Die Befürchtung, die Halluzination würde sich wiederholen, erwies sich zu meiner großen Erleichterung als unbegründet. Stattdessen fand Klara an den darauf folgenden Tagen doch noch Gefallen an der Nordmeerfahrt. Als wir auf dem Sonnendeck des Hurtigrutenschiffs die Bekanntschaft eines Ehepaars aus Österreich machten, war der Albtraum vergessen.
Bis ich am letzten Tag zufällig auf Olaf traf. Er grinste.
»Hat Ihrer Frau das Animationsprogramm gefallen?«

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Anakreon!

Als ich die Geschichte wieder las, kamen mir Szenen auf, die ich demnach unbewusst ausschweifend verdichtete. Es mag daran liegen, dass die Wikinger mir nicht unbedingt vertraut sind und deine erste Version mir eine Auseinandersetzung damit bereitete. Aber es spricht für dich, wenn du solches auslösen konntest.
Es freut mich, wenn ich das erreichen konnte. :)

Mit, auch die Trolle mussten Haare lassen, meinte ich es eher symbolisch
:D

Dennoch, ganz werde ich das Gefühl nicht los, ein paar gute Farbkleckse im Bild seien verwischt worden. Aber möglicherweise ist es eine Verwischung von mir selbst, da ich sie nicht benennen kann.
Ich will nicht ausschließen, dass evtl. ein paar gute Farbkleckse im Bild verwischt wurden. Ich hab die neue Version noch mal mit der alten verglichen und ein paar Details wieder aufgenommen, aber wirklich nur Kleinigkeiten. Mir sind keine großen fehlenden Kleckse aufgefallen. :) Aber letztendlich ist das alles auch subjektives Empfinden. ;)

Ich muss aber Vermerken, dass die Geschichte mir dennoch sympathisch ist, was in meinem Komm. anscheinend zu wenig durchgeklungen ist. ;)
Herzlichen Dank! :)

Inzwischen hab ich im dritten und vierten Abschnitt noch ein paar Änderungen vorgenommen, insbesondere an der Sprache gefeilt.

Ich bin nicht ganz mit der Erzählung zufrieden, denke aber, dass der Inhalt nun schlüssig ist, die Überarbeitung sich gelohnt hat, und das Skript zumindest kurzweilig unterhält.

Vermutlich ließe sich aus dem Inhalt noch weit mehr rausholen, wie weltenläufer schreibt, wenn dem Szenario und der Charakterentfaltung mehr Raum gegeben wird, wodurch die Kurzgeschichte deutlich länger werden dürfte. Momentan fehlen mir für eine umfassende Erweiterung jedoch Abstand, Motivtion und Zeit. Nichtsdestotrotz werde ich das im Hinterkopf behalten.

Liebe Grüße
Michael

 

Hallo zusammen,

die Kurzgeschichte wurde vertont. Besten Dank an ddragon!

Viele Grüße
Michael

[ame="http://www.youtube.com/watch?v=6tA3NUIBHVY"]‪Nordmeerfahrt‬‏ - YouTube[/ame]

 

hallo,

dein Text ist zwar ganz interessant, aber das Thema ist etwas ausgelutscht.
Des weiteren ist der Perspektivenwechsel spannend, doch ich würde ihn nicht ankündigen...
Die letzten 2 Zeilen würde ich weg lassen, da sie einen Aha-Effekt erzeugen sollen, der nicht zu Stande kommt, somit wirken sie schlechtIch weiß auch nicht, ob der Text zu dem Genre passt, hab mir ehrlich gesagt etwas anderes vorgestellt

canavani

 

Danke für deine Anmerkungen! Schade, dass kein Aha-Effekt zustande kommt. Letztendlich liegt der Inhalt doch im Bereich der Phantastik, wobei man bei Fantasy/Märchen wohl eher an "Herr der Ringe", etc. denke. Das hängt wohl auch von den Erwartungen des Lesers ab, wobei hier sicherlich noch Verbesserungspotential besteht.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom