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No Exit
Hektisch agierende, schwer bewaffnete Polizisten, hin- und herfahrende Krankenwagen, Gesichter, gezeichnet von Angst und Schrecken. Auf allen Bildschirmen über mir die gleichen, sich wiederholenden, stummen Bilder.
Das Band bringt meinen Steppmantel, die Schuhe, die Handtasche. Der Laptop meines Hintermannes schiebt sich durch die Gummilaschen. Wo ist mein kleiner roter Koffer? Während ich meinen Mantel und die Schuhe anziehe, schaue ich fragend zu den Sicherheitsleuten an der anderen Seite des Bandes. Es sind mehr als sonst. Einer erwidert meinen Blick und weist mit dem Daumen hinter sich. Da steht er. Unsicherheit erfasst mich. Ich gehe um das Ende des Bandes. Was habe ich übersehen? War doch eigentlich eine gute Idee: nur Handgepäck, kein Einchecken, keine Wartezeiten.
Es ist stickig. Den Mantel werde ich wieder ausziehen, sobald ich durch bin. Was ist mit der Klimaanlage? Draußen sind es achtzehn Grad – Mitte November. Das ist auch in Budapest nicht normal.
Eine Angestellte fordert mich mit einer knappen Geste auf, den Koffer zu öffnen und alles herauszunehmen: die Unterwäsche, die Hose, die Blusen, die Strickjacke, die Ersatzschuhe, das Geschenkpäckchen Paprikapulver, die Kulturtasche. Nacheinander nehme ich alles heraus, halte es ihr für einen Moment hin, um es dann betont akkurat neben meinen Koffer zu legen. Natürlich, sie übertreiben es, denke ich. Doch diskutieren wäre jetzt sinnlos. Wie auch? Die Frau zeigt auf die Kulturtasche und ich öffne den Reißverschluss. Sie fingert darin herum, zieht endlich das Handgel raus. Ein Kollege kommt dazu. Gemeinsam schauen sie sich das Etikett an, halten die Tube gegen das Licht, betrachten den blasigen Inhalt, lassen sich Zeit. Ich öffne meinen Mantel, warte.
Endlich sind sie fertig. Das Gel darf nicht mit. Die Gesten sind eindeutig. Alles andere kann zurück. Der Kollege geht.
Das Schließen des Koffers macht mir Probleme. Ich spüre den Blick der Frau auf meinem Nacken. Warum steht sie immer noch hier? Ohne zu grüßen, wende ich mich ab und gehe in Richtung Duty Free. Eine Hand tippt mir auf die Schulter. Was denn noch? Wortlos reicht sie mir meine Handtasche.
Vor der Parfümerieabteilung steht eine Bank. Ich ziehe meinen Mantel aus, setze mich und atme tief durch. Europa 2015, denke ich. Man muss das jetzt wohl alles so hinnehmen.
Vor einer halben Stunde hat mich Jan vor dem Eingang abgesetzt.
Nachdem er den kleinen Koffer auf den Bordstein gestellt hatte, legte er mir seine Hände auf die Schultern: „Hab eine schöne Zeit und pass gut auf dich auf. Drei Tage vergehen schnell.“ Er küsste mich. Beim Öffnen der Autotür fiel ihm noch etwas ein: „Und du weißt ja: Das Flugzeug ist das sicherste Verkehrsmittel.“ Sein Lächeln versuchte den Ernst in seiner Stimme zu überspielen. Er kennt meine Flugangst.
Bevor er in den Süden Ungarns, wo wir seit zwei Jahr leben, zurückfährt, wird er ein paar Stunden in einem Thermalbad verbringen, wie er es immer macht, wenn er schon einmal in Budapest ist.
Der lange Aufenthalt im Kontrollbereich hat die Wartezeit verkürzt. Ich halte mich nicht an den Parfümständen auf und gehe gleich weiter zum Gate. In der Ladenpassage begegnen mir schwer bewaffnete Männer. "Nichts ist mehr, wie es war." Die Worte eines Politikers kommen mir in den Sinn.
Im Warteraum füllen sich allmählich die Reihen. Eine Angestellte in der auberginefarbenen Uniform der Fluggesellschaft tritt hinter das Pult. Durch die bodentiefen Scheiben sehe ich, wie sich die Maschine aus Düsseldorf ruhig und langsam dem Gebäude nähert. Alles wie immer – noch eine Viertelstunde bis zum Einstieg. Ach ja, das Handy. Beim Einstellen des Flugmodus sehe ich, dass es fast leer ist.
Zwanzig Minuten vergehen. Die meisten der Passagiere stehen schon, warten, dass es losgeht. Eigentlich müsste alles längst gecheckt sein, geht es mir durch den Kopf. Die Angestellte steht am Fenster, schaut zur Maschine. Ich studiere ihr Gesicht. Es ist ausdruckslos. Sie geht zurück. Weitere zwanzig Minuten vergehen. Endlich. Ein Krächzen, dann die Mikrofonstimme: „Liebe Passagiere, wir bitten Sie um etwas Geduld. Es gibt ein kleines technisches Problem. Ihr Flug wird sich um etwa vierzig Minuten verzögern.“
‚Kleines technisches Problem’. Die Bordkarte klebt an meinen Fingern. Ich schiebe sie in das Seitenfach der Tasche und reibe meine Handflächen an der Hose. Männer in schwarzen, eng sitzenden Anzügen zücken ihre Smartphones, eine Mutter wiegt ihr Kind auf den Armen.
Ich nehme mein Buch aus der Tasche, suche die richtige Seite und lege es auf den Schoß. In meinem Kopf wieder die Bilder von gestern: schreiende, auf die Straße laufende Menschen, umgeben von einer Rauchwolke, die mit ihnen aus dem Haus quillt. Schlimme Zeiten. Sollte man im Moment überhaupt fliegen, wenn man nicht muss?
Stille hat sich über den Warteraum gelegt. In meinen Ohren ein leiser, sirrender Ton. Die Angestellte nimmt ihre Papiere, geht weg. Keine Durchsage, keine Erklärung.
Ich möchte mit Jan telefonieren. Vielleicht ist er noch nicht im Bad. Im Toilettenraum müsste es eine Steckdose geben. Beim Aufstehen fällt mein Buch zu Boden.
Ich schaue dem Handy zu, wie es sich auflädt, denke an den 11. September, denke an Passagiere, die in den Unglücksmaschinen letzte Gespräche mit ihren Angehörigen führten. Noch jetzt, vierzehn Jahre danach, erfasst mich die Tragik der Situation.
Zehn Minuten müssen genug sein. Ich ziehe das Kabel aus der Steckdose und gehe zurück zu meinem Platz. Er ist noch frei. Ich schaue auf den Bildschirm. Neunzig Minuten Verspätung. Keine Durchsage. Ich betrachte die Gesichter der Wartenden. Manche sind stoisch nach vorne gerichtet, andere können ihre Augen nicht vom Bildschirm nehmen – nur wenige sprechen miteinander, flüstern, wie mir scheint. In meinen Ohren immer noch dieser feine, sirrende Ton.
Endlich die Mikrofonstimme, verzerrt und schwer verständlich: Bei der Maschine habe man einen kleinen technischen Defekt festgestellt. Man bemühe sich, diesen zu beheben und bitte weiterhin um Geduld. Deutsch, Englisch und Ungarisch, zum Schluss ein überdeutliches Knacken.
Jan ist nicht erreichbar. Ich schreibe ihm eine SMS. Immer wieder treffe ich den falschen Buchstaben, beginne neu. Meine Lippen sind rau. Ich sollte sie in Ruhe lassen.
Mehr als eine Stunde ist vergangen. Neben mir die Titelseite einer ungarischen Zeitung. Ich sehe die Bilder des Attentats, verstehe die Überschriften nicht. Meine Hände fühlen sich klebrig an.
Ich stehe auf, nehme Mantel und Koffer und gehe zur Toilette. Der kalte Wasserstrahl läuft über meine Knöchel. Im Spiegel sehe ich mein Gesicht. Auf den Wangen zeigen sich kleine rote Stellen. Auch der Hals ist gerötet. Ich verliere mich in meinem Spiegelbild. Technischer Defekt? Was verheimlichen die uns? Können die das in der kurzen Zeit wirklich beheben? Die Zeit drängt. Die müssen schnell sein, sonst wird es teuer: Nach drei Stunden Verspätung müssen die Tickets erstattet werden. … Und wenn sie was übersehen? … Vielleicht ist ja auch was ganz anderes passiert?
Ich gehe zurück, mein Platz ist besetzt. Mein Blick wandert über die Reihen. Einer ist noch frei, ein Mantel und eine schwarze Tasche liegen darauf. Der Mann ist mit seinem Tablet beschäftigt. Unschlüssig schaue ich hinüber. Was will ich eigentlich in Deutschland? Die Familie kann ich auch im Frühjahr treffen. … Das Wetter soll regnerisch werden. Alles nur für drei Tage. Hundertdreißig Euro. Zweimal Essengehen. … Jan wird mich nicht verstehen. Oder vielleicht doch? Irgendwann muss er doch mal auf sein Handy schauen.
Ich stehe und spüre, wie meine Gedanken sich verhaken, immer um denselben Punkt kreisen, nur eine Konsequenz zulassen.
Ich ziehe den Mantel an, gehe durch die Passage, vorbei an den kleinen Läden, schlängle mich durch die Parfümregale, reiße mit dem Koffer eine Geschenkpackung vom Ständer und bin wieder im Kontrollraum. Ich will raus. Ich will zurück nach Hause.
Ein Angestellter hält mich am Arm fest, weist zurück in Richtung Duty Free. Ärgerlich schüttle ich seine Hand ab, besinne mich und suche nach einer Möglichkeit, ihm meine Situation zu erklären. Doch meine kargen Ungarischkenntnisse lassen das nicht zu. Jan hat wahrscheinlich recht, wenn er sagt, dass ich mich endlich mal darum kümmern sollte.
„Sprechen Sie Deutsch?“
„Nem.“
Neuer Versuch:
„Do you speak English?“
“Nem!”
Klar, denke ich. Wollen zu Europa gehören und sprechen nicht mal eine Fremdsprache!
Ich ziehe die Bordkarte aus der Tasche, halte sie ihm hin und zeige auf die Eingangshalle: „Vissza!“ Gut, dass mir in diesem Moment das Wort für ‚zurück’ einfällt.
„Nem! Nem szabat!“
Der Mann fasst mich wieder am Arm, will mich zurückschieben. Ich bocke. Es muss doch eine Möglichkeit geben, hier wieder rauszukommen. Die können mich doch nicht zwingen, zu fliegen, wenn ich das gar nicht will.
Wir stehen uns gegenüber. Der Mann wartet, schaut mich verschlossen an. Was wäre eigentlich, wenn ich ihn einfach ignorierte, einfach an ihm vorbeiginge? Er ahnt, was ich vorhabe, geht wortlos ein paar Schritte zurück, breitet seine Arme aus und versperrt mir den Weg. Eine lächerliche Situation. Wir erregen Aufmerksamkeit.
Zwei Uniformierte in Schwarz nähern sich uns. Sie sind bewaffnet: Gewehre und Schlagstöcke. Mir wird heiß, mein Kopf glüht.
Zu dritt stehen sie jetzt vor mir, lassen mich nicht aus den Augen. Der Angestellte flüstert den beiden Bewaffneten etwas zu. Ich verharre und weiß nicht weiter, rieche meinen Schweiß; das Dröhnen in den Ohren ist stärker geworden.
Ich sehe mich um, suche einen Blickkontakt. Alle sind mit sich beschäftigt, schauen nur hin und wieder verstohlen zu uns rüber. Niemand, an den ich mich wenden könnte. Das kann doch nicht sein. Es muss doch einen Weg geben, hier wieder rauszukommen. Ich bin doch nicht die Erste, die ihren Flug, aus welchen Gründen auch immer, nicht antreten möchte. Ich muss Jan erreichen.
Immer noch die Mailbox. Durchsagen hallen in meinen Ohren. Übelkeit steigt in mir auf. Ich kann nicht mehr stehen. Die Bank vor dem Duty Free. Ich gehe zu ihr und setze mich, erhebe mich noch einmal, ziehe den Mantel aus. Mit den Händen versuche ich, mein Gesicht zu kühlen. Meine Unterlippe ist aufgesprungen und schmerzt.
Die Drei sprechen miteinander, lassen ihren Blick nicht von mir.
Einer der beiden Uniformierten geht weg.
Wieder der Lautsprecher. Ich möchte mir die Ohren zuhalten. Dieses Dröhnen in meinem Kopf. Tränen treten mir in die Augen, laufen über die Wangen, tropfen auf den Pullover, färben das helle Beige dunkler. Meine Hand verwischt die Tränen. Ein Finger ist schwarz. Das Taschentuch fasert aus. In der Kulturtasche ist noch ein Päckchen. Weinend beuge ich mich über den Koffer, öffne ihn und nehme die kleine Tasche heraus. Ich muss vergessen haben, ihren Reißverschluss zu schließen. Alles rieselt auf den Boden: die Zahncreme, die Wimperntusche, die Cremes, der Kamm, das Seifenstück, die Wattestäbchen, die Zahnseide. Auch die grünen Baldrianperlen fallen aus ihrer Schachtel, verteilen sich, kullern überall hin. Ich bücke mich nach vorne, sammle ein paar Sachen auf und werfe sie zurück in die kleine Tasche. Das weiter hinten unter der Bank Liegende kann ich nicht erreichen. Ich muss aufstehen und mich bücken. Der Mantel rutscht von der Bank. Ich greife nach einer Perle, fasse daneben, falle auf die Knie und breche schluchzend zusammen. Aus Augen und Nase rinnt es. Das Taschentuch in meiner Hand ist völlig aufgeweicht. Ich sitze vor der Bank und vergrabe mein Gesicht in den Ärmeln meines Pullovers, schluchze und weine.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Erst langsam wird mir bewusst, dass ich gemeint bin. Ich schaue auf und sehe durch den Tränenschleier eine junge Frau in einem auberginefarbenen Kostüm. Sie beugt sich zu mir herab.
„Was ist denn nur los mit Ihnen?“
Ich schluchze, möchte nur immer weiter weinen.
„Beruhigen Sie sich doch. Alles wird gut werden.“ Sanft streicht sie mir über die Schulter. Dann reicht sie mir ihre Hand.
„Bitte. Versuchen Sie aufzustehen.“
Ich komme umständlich auf die Beine und wir setzen uns.
Immer noch zucken meine Schultern, die Nase trieft. Sie reicht mir ein Taschentuch.
„Sagen Sie mir doch, was los ist.“
Ihre Stimme beruhigt mich etwas, aber das Schluchzen behindert mein Sprechen.
„Ich möchte nicht fliegen. … Ich möchte zurück. … Bitte.“
Wieder streicht sie mir über den Rücken. Sie nimmt die zerknitterte Bordkarte, die aus dem Seitenfach der Handtasche hervorlugt, und studiert sie.
„Keine Sorge“, murmelt sie. „Alles wird gut werden. Kommen Sie bitte.“
Behutsam schiebt sie mir ihre Hand unter den Arm und wir stehen gemeinsam auf.
„Jetzt gehen wir erst mal zum Zoll.“ Sie beugt sich nach unten und sammelt auf, was noch auf dem Boden liegt. Ich stehe daneben und sehe ihr zu, wie sie den Koffer schließt und den Mantel über ihren Arm legt. Wieder wäre meine Handtasche beinahe liegengeblieben. Sie hängt sie mir über die Schulter.
„Jetzt erst mal zum Zoll“, wiederholt sie. Ein kleines Lächeln tritt in ihre Augen: „Und dann dürfen Sie wieder raus.“
Allmählich versiegen die Tränen. Wir gehen durch einen langen, schmalen Gang und ich denke, dass unter meinen Augen alles verschmiert sein muss. Neben mir höre ich die ersten, noch leisen Akkorde meiner Handymelodie.