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Nichts zu verlieren
Auf dem Weg zu unserer Sommerhütte gehe ich am Waldsee entlang. Der glitzert weiß in der aufgehenden Sonne. Und, obwohl es noch kalt ist, nehme ich den Weg zur Badestelle.
Nicht, weil ich schwimmen will.
Es ist mittlerweile ein Trampelpfad, der wahrscheinlich immer noch von Teenagern genutzt wird, die hier die Sommernächte verbringen wollen. Aber heute ist niemand hier. Es riecht genau wie früher, aber jetzt weiß ich erst wonach: Wasser und Leben.
Wie oft haben wir die Wochenenden hier verbracht? Hier haben wir gefeiert und dann in der Hütte gepennt. Manchmal bis Montagmorgen, um völlig verkatert in der Schule aufzutauchen.
Oder eben oft genug nicht.
Freiraum nannte es Papa, Selbsterfahrung Mama.
'Freedom's just another word for nothin' left to lose'.
Ich sehe große Steine am Ufer liegen, solche wie die, die wir früher ins Wasser gewarfen, um unsere Kraft zu beweisen. Die könnte ich mir jetzt in die Jackentaschen stecken und zur Mitte des Sees gehen. Untertauchen.
Aber ich bin schon wieder zu nüchtern und außerdem habe ich plötzlich das Mädchen vor Augen, Britt hieß sie, wie sie die Jeans auszieht, das Shirt und dann die Unterwäsche, als würde sie gleich unbemerkt in die Dusche steigen. Baumwollschlüpfer. Und mir genügte das.
Sehe sie, wie sie einen Augenblick zu lange dicht vor mir steht, die dünnen Arme hängen am Körper herunter. Ihre Brüste schimmern im Mondlicht weiß wie unberührter Schnee, zum Anfassen nahe, und ich sehe Britt lächeln, mit schief gelegtem Kopf.
Ihre dunklen Haare verdecken einen großen Teil der Augen. In meiner Erinnerung scheinen sie auf mich wie Licht. Sie dreht sich schnell weg, um ins flache Wasser zu laufen.
"Komm Robert, das Wasser ist total warm!"
Sie hörte sich an wie ein übermütiges Kind, als sie durch die stille Nacht rief. Sie sah auch genauso aus. Wir sind alle übermütige Kinder gewesen. Ich war ebenfalls nackt, als ich ihr hinterherlief.
Später hing sie dann mit anderen Kids ab und wir sahen uns nicht mehr. Sie ging auch gar nicht auf unsere Schule.
'And feelin' good was good enough for me.'
Vorhin ging ich zur Feier von Toms Dreißigsten. Ich bin den ersten Tag wieder in der Stadt und direkt vom Bahnhof zu Tom gefahren.
Tom und ich. Als Kinder waren wir mittwochs zusammen beim Fechten, wie viele aus unserem Viertel. Zwölf Jahre alt und Nachbarskinder. Wir hingen immer miteinander ab. Sigrid lernten wir beim Klavierunterricht kennen. Sie ging in unsere Parallelklasse.
Von da an waren wir Tom, ich und Sigrid. Und das war nie ein Problem.
Auf der Feier habe ich das Mädchen vom See wieder getroffen. Ich habe sie gefragt, ob sie mir mal ihre Brüste zeigen würde; hätte sie lange nicht gesehen.
"Arschloch", hat sie gesagt, mit schief gelegtem Kopf sah sie mich durch die Strähnen ihrer dunklen Haare verächtlich an. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, wer ich war. Sie ging zu ihrem Freund und schmiegte sich an ihn. Ein netter Typ, ihr Freund, so auf den ersten Blick. Bank- oder IT-Branche, dachte ich. Später habe ich mit ihm gemeinsam Wodka auf die alten Zeiten getrunken.
Er auf seine. Ich auf meine.
"Hatte gar nicht gedacht, dass du so okay bist", sagte er nach dem zweiten Shot übermütig und klang irgendwie erleichtert. Er lachte laut auf und legte seine Hand auf meine Schulter, tankte etwas Verwegenheit.
"Geht mir genauso", sagte ich und trank den dritten Schnaps ohne ihn.
"Nee, im Ernst. Warst ja wohl 'n ziemliches Arschloch. Damals."
Ich schenkte uns erneut ein und zwinkerte ihm zu. Nur um zu signalisieren, dass ich ihm nicht böse war. Sein Mädchen hatte mich wohl doch wiedererkannt.
Ein ziemliches Arschloch? Warum hat mir das damals keiner gesagt?
Ich schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter und schob mich ziellos durch die Menge.
Was sollte ich sagen?
Auf der Party wimmelte es dann von Leuten in unserem Alter. Ich kannte nicht viele von denen.
Klar, man lief sich früher mal hier und da über den Weg.
In der Schule, in der Uni, abends in den Bars. So groß war unser Radius nicht.
Und nach dem üblichen Jahr im Ausland kamen wir alle zurück. Wieder ins behütete Heim. Bis Papa das erste WG-Zimmer finanzierte. Und noch etwas mehr. Er wollte, dass ich mich um die wesentlichen Dinge kümmern konnte. Ich komme bloß nicht dahinter, welche das sind.
Tom wird im Winter Vater. Darauf haben wir einen gehoben. Man sieht es Sigrid schon an. Sie hat mich am Eingang mit einem Kuss auf beide Wangen begrüßt, so als hätten wir uns letzte Woche zuletzt gesehen. Ich freue mich echt für die beiden. Auch wenn es sich nicht so anfühlt.
Die schaffen das bestimmt. Vater-Mutter-Kind.
"Cool, Mann, dass du wieder hier bist", sagte Tom und sein Lächeln war warm und vertraut. Er legte seinen Arm um meine Schulter, zog mich an sich und dann an die Bücherwand. Ich hielt meine Bierflasche fest in der Hand.
War eine Menge Literatur zu Schopenhauer und Kierkegaard, de Beauvoir und Camus hinzugekommen. Hartmut Rosa, Uwe Johnson, Karl Reinhard waren jetzt Toms zusätzliche Begleiter. Die soziologische Komponente.
'Well, I'd trade all my tomorrows for one single yesterday'.
"Hab' mir echt Sorgen gemacht. Bist einfach verschwunden damals", sagte Tom und es hörte sich schon weit weniger besorgt an.
"Neue Freunde ", meinte ich nur. Ich musste echt zu ihm aufschauen. Habe früher nie bemerkt, wie viel größer er war als ich.
Tom zögerte: "Nenn' sie wie du willst. Hast du noch Kontakt zu denen?"
Er betonte 'denen', als wären meine Dealer widerliche Insekten.
"Nee. - Und du?" Ich meinte, ich wollte wissen, ob er vorhätte, das Leben der Eltern fortzusetzen.
Fand nicht die richtigen Worte. Tom hatte es dann auch nicht kapiert, zuckte die Schultern:
"Nee, du. Werd' ja jetzt Vater. Wir haben dieses Jahr geheiratet. Wollten dich einladen, aber deine Eltern meinten, du wärst zur Kur. - Aber ey, jetzt biste ja clean!"
Er ignorierte meine Bierflasche in der Hand.
"Naja", murmelte ich, als wir uns umarmten.
Ich bemerkte seinen kräftigen Körper. Er achtete gut auf sich.
'Yeah, Bobby shared the secrets of my soul'.
Ich wartete auf ein Gefühl. Neid. Überlegenheit. Freude. Irgendeins.
Es stellte sich keines ein.
"Lass' uns mal nächste Woche essen gehen, Rob. Mensch, ich freu' mich echt, dich zu sehen."
Er klopfte auf meinen Rücken, verschwand dann in der Menge und ließ mich bei den Büchern unserer Jugend stehen. Wir hatten die tatsächlich alle gelesen und nächtelang diskutiert. Während Tom sich zu Kierkegaard wund reden konnte, war ich der Meinung, seine Angst und Gottesnähe würden seine philosophischen Ansätze dominieren. Doch bei Camus lagen wir uns dann wieder in den Armen.
Der musste sich seine Meinung nicht bestätigen lassen, um zu wissen, dass er richtig lag.
Felicia war auch auf der Party. Sie hat mich zuerst gesehen und fröhlich gewunken.
"Hej, Robert", rief sie quer durch den Raum. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir zusammen gewesen sind. Auf jeden Fall sind wir an irgendeinem Sommer gemeinsam in die Ferienwohnung meiner Eltern nach Alicante geflogen. Das Apartment dort haben sie erst letztes Jahr verkauft. Wahrscheinlich, um meine Kur zu finanzieren.
Die anderen unserer Bande kamen auch noch hinterher. Nach zwei Wochen bewohnten wir die wenigen Quadratmeter zu acht und ich war vier Wochen dauerbesoffen. Das war nach dem Abi, glaube ich, aber vor dem Auslandsjahr.
In den Staaten habe ich mich mit Tom und Sigrid getroffen. Sind dann so zu dritt rumgetourt. Easy life. Wir haben keine Freiheit gesucht. Auch nicht uns selbst oder irgendeine Erkenntnis. Wir hatten schon alles. Ich wollte Zeit gewinnen, denk' ich.
Es gab nur uns und den Spaß, den wir gemeinsam hatten. Zum Beispiel in LA. Dort begannen die Abende früh und endeten früh am nächsten Tag. Abgefahren waren die 'Weltuntergangpartys'.
Wir waren drei Tage lang k. o.
Mir war die Zukunft scheißegal. Die Vergangenheit auch. Mich interessierte nur der Moment. Klingt buddhistisch. War's aber nicht.
"Ich wusste gar nicht, dass du schon wieder hier bist", sagte Felicia vorhin auf der Party.
Haben anscheinend doch alle mitbekommen, als ich der Gruppe entglitt. In die Sucht und dann verschwand. Zuerst in mich selbst, dann außer Landes.
"Ich habe Clara getroffen. In der Stadt. Ganz zufällig. Deine Schwester hat mir erzählt, dass sie dich in die Schweiz geschickt haben. Da war mir gleich klar, warum."
"Ach ja?"
"Schon. Du hast irgendwann als einziger gedrückt. Wir haben ja nur gekifft, mal 'ne Line", meinte sie schulterzuckend, als wäre das das Geheimnis ihrer Reinheit.
"Klar. So gesehen ... " Ich versuchte ein Lächeln, doch wahrscheinlich sah es aus wie Muskelzucken.
"Darfst du denn trinken? Alkohol, mein' ich."
"Nein", sagte ich und kippte ein Glas Wein auf ex.
"Was machst du jetzt so?" Felicia war süß, runzelte nur ganz zart die Stirn. Sie ging nicht, blieb bei mir stehen und nahm stattdessen meine Hand.
"Weiß nicht. Nichts. Morgen soll ich mich in einer Redaktion vorstellen. Mein Vater hat das organisiert. Vor dem Entzug hab ich ein, zwei Artikel für die geschrieben. Über uns alle. Die mochten das. Den authentischen Ton." Ich nahm einen Schluck Bier.
Felicia nickte und lächelte, als würde sie das für eine gute Nachricht halten.
"Und du?" Ich war nicht wirklich neugierig. Sie wirkte frisch und sah nach Zukunft aus.
"Ich studiere. Medizin. Hab spät angefangen." Ihre Wangen röteten sich.
Fast unschuldig. Wir waren beide sparsam mit unseren Worten.
"Klingt doch gut." Wir stießen an. "Auf uns." Es klang so optimistisch.
"Ich wusste nicht, wie schlecht es dir ging. Echt nicht." Sie strich mir über den rasierten Kopf und ich war schockverliebt.
"Ich auch nicht." Ich zwinkerte wieder. Es sollte lässig wirken. Von welcher Hölle sollte ich auch berichten, durch die ich gegangen bin. Nicht nur im Entzug. Ich meine die Vorhölle. Bis ich Papas Hartnäckigkeit nachgab. Was sollte schon passieren? Stoff gab's überall. Sicher auch in der Schweiz.
Sie lächelte schüchtern. Kurz darauf standen wir im Flur und sie küsste mich, klammerte sich an mich. Ihre Lippen waren weich und nachgiebig. Deswegen hielt ich meine Bierflasche fest umklammert in der Hand. Ihre Lebendigkeit prallte einfach an mir ab. Ich konnte sie nicht halten.
"Ich war sehr verliebt in dich, Robert. Hast du das denn gar nicht mitgekriegt?" Sie klang heiser und ich ahnte, welche Überwindung sie es kostete, mir das jetzt zu sagen.
"Ich muss los, Feli. Mach's gut", sagte ich stattdessen und hoffte, sie dieses Mal nicht allzu sehr zu verletzen. Jetzt streichelte ich ihr über den Kopf, über ihre weichen, hellen Haare.
Ihren Blick zum Abschied konnte ich nicht verstehen. Traurig. Enttäuscht. Wütend.
Ich kenne mich nicht aus.
Auf der Straße vor Toms Haus suchte ich im Mobiltelefon die Nummer einer meiner neuen alten Freunde. Ich hatte sie gelöscht. So machte ich mich auf den Weg zur Wohnung, die mir so vertraut wurde. Als mir Tränen über's Gesicht liefen, musste ich lachen. Ein klägliches, kehliges Lachen und ich war mir selbst entsetzlich fremd.
Natürlich empfing man mich herzlich in der ranzigen Bude des Dealers meines Vertrauens. Ich zahlte immer Cash, handelte nie.
"Du glaubst gar nicht, was die mir alles anbieten", jammerte er und zeigte auf eine Reihe nagelneuer Nikes, während er meinen Stoff wog. Auf dem Sofa neben ihm gümmelte eine hübsche Blonde und ließ mich nicht aus den Augen. Als ich die Wohnung verließ, kam sie mir nach. Und als ich Minuten später auf den regennassen Gehweg trat, wusste ich, dass ich nie wieder Sex mit irgendwem im Hausflur wollte, auch nicht besoffen.
Die Hütte am See ist renoviert. Sicher war nichts mehr zu gebrauchen von dem alten Zeug hier drinnen. Es hängen sogar Fotos an den Wänden. Von meiner Schwester und mir. Ich hätte Clara besuchen sollen. Sie hätte mich besuchen sollen. Wir hatten wohl beide Angst. Ich vermisse sie nicht einmal.
Jetzt erst fällt mir auf, dass ich schon den ganzen Abend den Song von Janis Joplin im Kopf habe.
In Dauerschleife höre ich "Me and Bobby McGee".
Mein Telefon klingelt. Es ist Felicia. Ich drücke sie weg und lege es mit dem Besteck auf den Nachttisch und mich daneben ins Bett, zünde eine Kerze an und schließe die Augen. Vielleicht findet Felicia eines Tages heraus, warum die meisten von uns den Weg zurück nicht mehr finden. Vielleicht ...
'He's lookin' for that home and I hope he finds it'.