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Neuroline

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02.10.2016
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Neuroline

Neuroline (extended)

Ich amüsierte mich köstlich über das neue Video, das Nico gerade per Neuroline geschickt hatte. Ein Bär wischte sich mit einem Hasen den Hintern ab, da ihm gerade das Toilettenpapier ausgegangen war. Ich hätte zu gerne gewusst, woher er nur immer diese Filmchen hatte.
»Geil!«, cōgitierte ich und schickte noch einen Daumen-Hoch-Emoji hinterher. Kurz darauf war die Nachricht als gelesen markiert.
»Freitag Franks Party?«
»100pro!«
Ein gefülltes Bierglas neben einem headbangenden Smily waren das Versprechen auf einen ausschweifenden Abend mit seinen Kumpels.
Während ich die weiteren Termine dieser Woche durchging, bog das automatische Taxi in die Straße zu meiner Wohnung ein. Heute Abend stand nichts mehr an. Das war die Gelegenheit, Vera mal wieder auf einen Neuro-Fick zu treffen. Hoffentlich hatte sie Zeit. Das versaute Luder lag genau auf meiner Wellenlänge. Es war zwar schon wieder ein halbes Jahr her, dass wir uns bei Neuromance gefunden hatten, doch unser virtueller Sex hatte immer noch nichts von seinem Reiz verloren.

Das MonoCab hielt an. Es übermittelte den Fahrpreis auf mein Neuroline. Ich bestätigte den Betrag per Gedankensignatur und stieg aus.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, näherte ich mich der Haustür und prallte mit voller Wucht dagegen. Benommen taumelte ich zur Seite und konnte mich durch einen Griff zum Geländer gerade so vor einem Sturz retten.
Etwas stimmte nicht.
Da sah ich den alten Mann am Fuß der Treppe. Er stand einfach nur da, die Hände in den Hosentaschen, und starrte mich an. Sein Aufzug passte nicht in diese Gegend. Er trug einen schäbigen, ausgebeulten Mantel. Seine Hosen waren geflickt, die Schuhe ausgetreten. Wir sahen uns stumm in die Augen. Wartete er auf mich?
Ein Klicken kündigte das Öffnen der Haustür an. Ich drehte mich zu ihr um und sah sie aufschwingen. Dann ein Blick zurück die Treppe hinunter. Der Mann war verschwunden.
Wie gelähmt stand ich eine kleine Ewigkeit da, den Blick auf den Flecken gerichtet, wo gerade eben noch der Fremde gestanden hatte. Ich versuchte mich zu sammeln. Dann gab ich mir einen Ruck und beeilte mich, in meine Wohnung zu kommen.

Als ich wieder zu mir kam, saß ich in meinem Sessel. Keine Ahnung, wie ich dort hin gekommen war. Ich blickte mich um und stutzte. Das war nicht meine Wohnung. Graue Tapete, keine Bilder, billigste Einrichtung. Ich schloss meine Augen und schüttelte mich.
„Michael!“
Ich prüfte mein Neuroline auf ein eingegangenes Cōgit. Nichts.
„Michael, ich bin hier!“
Ich drehte mich im Sessel um. Da stand er wieder. Der alte Mann mit dem Mantel.
»SOS! Überfall!«
Ich setzte ein Notcōgit ab. Mein Neuroline würde automatisch meine Position hinzufügen.
„Das nützt nichts, Michael. Du bist offline!“
Ich hörte die Stimme des Mannes, verstand aber nicht. Offline? Was war das?
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
„Ich brauche deine Hilfe. Nicht umsonst, natürlich.“
„Danke, ich brauche Ihr Geld nicht.“
Nach einem geringschätzigen Blick fügte ich hinzu: „Sie haben sowieso nicht genug.“
„Pah, Geld! Michael, ich habe etwas viel Wertvolleres für dich.“
Der Mann beugte sich etwas zu mir herunter. Seine Augen wollten mich durchbohren.
„Ich biete dir einen unverfälschten Blick auf die Wirklichkeit. Sie dich um!“
Seine Hand machte eine ausladende Geste, die den ganzen Raum einzuschließen schien.
„Das ist deine Wohnung, wie sie wirklich ist.“
Ich blickte mich noch einmal um. Die Größe des Zimmers und die Anordnung der Einrichtung stimmte. Doch es konnte nicht meine Wohnung sein. Die Sitzgruppe sah aus wie aus Presspappe hergestellt. Keine Spur von den lederbezogenen Stahlrohrschwingern und dem Tropenholztisch. Die Repliken von Miró und Warhols Tomatensuppe fehlten.
Ich schlug mit der Faust auf die Armlehne.
„Reden Sie keinen Unsinn. Sie haben mich entführt und in diese Kulisse gesteckt. Was wollen Sie wirklich?“
Der Mann schüttelte langsam den Kopf und ging auf das Fenster zu.
„Michael, sieh hinaus. Ich kann verstehen, dass es dir schwer fällt, das zu begreifen. Aber das hier ist deine Wohnung. Das ist dein Wohnviertel. Deine Wahrnehmung wurde bisher einfach manipuliert.“
Ich tat ihm den Gefallen und ging ans Fenster. Gegenüber lebten die Kaufmanns in einem schiefergedeckten Bungalow. Aber was ich sah, waren ein einfacher Kasten mit Wellblechdach. Kein Fensterschmuck. Keine feinen Scheibengardinen auf goldenen Stangen. Und dann der Vorgarten. Der Baum ...
Ich blickte in die Vorgärten der anderen Betonklötze. Konnte das sein? Der Mann konnte nicht recht haben!
„Wie haben Sie das gemacht? Wie haben Sie die Bäume hierher bekommen?“
„Sie stehen dort, wo sie bisher auch standen. Es besteht keine Notwendigkeit, deine Wahrnehmung der Bäume zu manipulieren. Hauptsächlich wird das Bild von Menschen hergestellter Objekte angepasst. Dein Neuroline gaukelt dir hochwertige, exklusive Dinge vor, die so gar nicht existieren.“
Ich blickte ihn angewidert an. Warum wollte er mir diesen Stuss einreden?
„Sieh genau hin, Michael. DAS ist echt! Nicht der Luxus, in dem du dich bisher bewegt hast.“
Die Bäume verunsicherten mich. Ich blickte ihn durch zusammengekniffenen Augen an.
„Wieso?“
„Wieso deine Wahrnehmung manipuliert wird? Um dich bei der Stange zu halten. Menschen, denen es gut geht, lehnen sich nicht gegen die politische Führung auf.“
Was sollte das? Es gab keine Probleme, den Menschen ging es in der Tat gut. Und die Wahlergebnisse alle 10 Jahre sprachen eine eindeutige Sprache.
„Ich verstehe nicht.“
„Es gibt kaum noch Öl, kaum Rohstoffe. Die Ressourcen sind so knapp, dass nur noch das Nötigste produziert werden kann. Es wird gespart, wo es nur geht. Würde die Bevölkerung das mitbekommen, würde die Unzufriedenheit das politische Establishment gefährden.“
„Und das macht das Neuroline?“
„Klar. Es hatte ja sowieso jeder schon ein Implantat. Ein kleines Update der Hard- und Software war eine vergleichsweise einfache Lösung für ein gigantisches, wirtschaftliches Problem.“
Meine Gedanken drehten sich wie ein ausgewachsener Tornado. Übelkeit stieg in mir auf und ich musste mich wieder setzen.
„Warum ich?“
„Du arbeitest im Kontrollzentrum. Über dich bekämen wir besseren Zugang zum Neuroline-Netz.“
„Aber ich arbeite nur in der Verwaltung. Für die Technik hab ich keine Freigabe.“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Alten.
„Das wissen wir. Und das macht es auch unauffälliger, da du weniger streng überwacht wirst, als die Techniker. Wir können dir weitergehende Zugriffsrechte verschaffen.“
Ich richtete mich in meinem Sessel auf, meine Augen wurden größer.
„Wie?“
„Es ist besser, wenn du das nicht weißt, zu deinem und unserem Schutz.“
Ich fühlte mich hin und her gerissen. Wenn er Recht hatte, war mein bisheriges Leben nur eine Illusion gewesen. Aber was würde mich erwarten, wenn die Blase um mich herum platzte?
„Was, wenn ich nicht möchte?“
„Du hast natürlich die Wahl. Wenn du ablehnst, müssten wir allerdings dafür sorgen, dass du keine Informationen weitergeben kannst.“
„Dann entfernen Sie die Erinnerung an den heutigen Abend aus meinem Gedächtnis?“
Er grinste und hatte dabei einen Gesichtsausdruck, den ich nicht recht deuten konnte.
„Das ist eine hübsche Umschreibung, die muss ich mir merken. Ganz so selektiv wird der Vorgang allerdings nicht sein.“
Ich verstand nicht.
„Genug für heute. Wir treffen uns bald wieder, überleg es dir. Die Erinnerung an die letzte Stunde ist für dein Implantat nicht zugänglich, das haben wir durch ein kleines ‘Update’ geblockt. Das macht es dir unmöglich, über unser heutiges Treffen per Neuroline zu kommunizieren. Komm nicht auf dumme Gedanken, wir haben dich im Blick.“
Er steckte seine rechte Hand in die Hosentasche und war verschwunden. Ich befand mich wieder in einer vertrauten Umgebung. Meine Wohnung. Meine Möbel. Meine Bilder.

Ein Cōgit von Nico, bereits 20 Minuten alt.
»Hey. Bock auf ein Bier bei Harrys?«
Ich konnte mich jetzt nicht mit Nico treffen. Ich saß verwirrt im Sessel und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Oder hatte ich nur geträumt?
»Heute nicht, Alter. Bin platt.«
Die Lesebestätigung folgte umgehend. Hoffentlich ließ er mich in Ruhe. Mein Wunsch erfüllte sich nicht.
»Schade, hätte was zu bereden. Geile Sache!«
»Sorry. Vielleicht morgen.«

Mein Neuroline weckte mich unerbittlich zur üblichen Uhrzeit. Ich hatte kaum geschlafen und fühlte mich elend. Das Gespräch mit dem Fremden hatte mir zugesetzt.
Mechanisch arbeitete ich meine morgendliche Routine ab. Duschen, anziehen, einen Kaffee trinken. Dann ein MonoCab für die Fahrt in die Firma rufen. Laut Neuroline würde es in etwa zwei Minuten ankommen.
Die Stufen hinunter zur Straße nahm ich automatisch. Immer noch abwesend stieg ich ins Taxi. Es fuhr los.

Am Kontrollzentrum angekommen, erschien mir der Weg zu meinem Büro wie Spießrutenlaufen. Alle starrten mich mit verzerrten Mundwinkeln an. Jeder wusste von meinem Besucher. Oder doch nicht? Die Krawatte schnürte mir die Luft ab. Ich bildete mir das alles nur ein.
Ich ging schneller als sonst durch das Großraumbüro meiner Abteilung. Ab und zu presste ich ein angestrengtes „Morgen“ hervor. Mein Tunnelblick fixierte die Tür zu meinem Kabuff.
Dort angekommen, schloss ich die Tür hinter mir und ließ mich in den Sessel fallen. Endlose Sekunden Starre. Wie sollte ich nur den Tag überstehen. Ich schloss die Augen und begann von neunundneunzig an rückwärts zu zählen.
Bei sechsundvierzig klopfte es an die Tür. Mein Herz wollte aussetzen. Ella, die gute Seele der Abteilung öffnete die Tür.
„Guten Morgen, Michael. Alles klar?“ Sie kniff ein Auge etwas zusammen und sah mich mir leicht schräg gestelltem Kopf an.
„Kaffee?“
Ihrem Blick nach musste ich ein elendes Bild abgegeben haben. Ich versuchte mich zusammenzureißen.
„Ja. Danke, Ella.“
„War spät gestern, was?“
Worauf wollte sie hinaus? Ich brummte zustimmend.
Kurz darauf stellte sie eine dampfende Tasse Kaffee mit einem Schuss Milch auf meinen Schreibtisch. Sie warf mir noch einen aufmunternden Blick zu und ließ mich alleine.
Ich versuchte mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Wochenberichte über Hard- und Software-Updates von Implantaten, Geburtenzahlen, Abgänge. Schloss ich meine Augen, tanzten die Zahlen in meinen Gedanken weiter.
Der alte Mann wollte nicht aus meinem Kopf. Hatte er Recht? Oder hatte er mir SEINE Bilder gestern Abend eingepflanzt?
Die Minuten und Stunden vergingen in quälender Langsamkeit.

Kurz vor Dienstschluss kam ein Cōgit von Nico.
»Harrys? 1900?«
„Scheiße“, entfuhr es mir unwillkürlich. Heute konnte ich ihn sicherlich nicht so leicht abwimmeln.
»Wer kommt noch?«
»Alex. Vielleicht Fe.«
Zumindest wäre ich mit Nico nicht alleine. Felicitas würde die Unterhaltung im Griff haben, und ich könnte mich etwas im Hintergrund halten.
»OK. CU.«
»Cool. CU.«

Entgegen meiner Gewohnheit rief ich kein Taxi. Bis zur vereinbarten Uhrzeit war es noch etwas hin, und ich wollte vorher nicht noch mal nach Hause. Der Spaziergang würde mir hoffentlich gut tun.
Ströme von MonoCabs fuhren in Richtung der Wohngebiete. Dann und wann waren auch mehrsitzige Automattaxis darunter. Zu beiden Seiten der Straße strebten die Glasfassaden der Bürogebäude den Wolken entgegen. Banken. Handelskonzerne. Dienstleistungsunternehmen.
Im Vorbeigehen laß ich die Schilder in den Eingangsbereichen. Einige Namen fielen mir dabei besonders auf: Digital Creative, Next Virtual, VR Labs. Viele der hier ansässigen Unternehmen schienen sich mit Virtueller Realität zu beschäftigen.
Die Bürogebäude wurden allmählich von Wohnhäusern abgelöst. Dann und wann kam ich an einem Restaurant oder einem Showroom eines großen Versandhändlers vorbei. Geschäfte, in denen man die Ware gleich mitnehmen konnte, gab es schon lange nicht mehr. Heute bestellte jeder aus Online-Katalogen oder sah sich die Ware in einer der Musterausstellungen an.
Vor dem Schaufenster eines auf Bekleidung spezialisierten Händlers blieb ich stehen und sah mir die Auslage an. Anzüge aus feinen Stoffen und handgearbeitete Schuhe zu einem stolzen Preis. Ein Schild versprach Lieferung am nächsten Tag.

Kurz nach neunzehn Uhr erreichte ich Harrys. Fe, Alex und Nico waren bereits da. Wir begrüßten uns, Küsschen links, Küsschen rechts. Per Neuroline bestellte ich ein Bier.
„Und? Wie war dein Tag?“, wollte Fe von mir wissen.
„Das Übliche. Jede Menge Zahlen schaufeln. Aufpassen, dass die Leute keinem Mist bauen. Nix besonderes“
„Also ich weiß nicht, wie du das aushältst“, meinte Nico. „Den ganzen Tag so ein eintöniger Kram.“
Fe fiel ihm ins lachend Wort. „Ja, ja. Und du produzierst lieber Bling-Bling, mit dem du unschuldige Menschen in den Wahnsinn treibst.“
„Das nennt sich Marketing, liebste Felicitas“, gab Nico trocken zurück. „Manche Menschen möchten einfach gerne über Neues auf dem Markt informiert werden.“
„Und das drückst du dann ungefragt Omi und Opi ins Hirn. Schäm dich!“ Fe drohte scherzhaft mir dem Zeigefinger.
Nico zuckte mit den Achseln.
„Wenn die das nicht wollen, sollen sie es abstellen. Zwingt sie ja keiner zu.“
Eine Kellnerin brachte mein Bier. Gedanklich bestätigte ich den Erhalt, der Preis wurde von meinem Konto abgebucht.
Der Abend plätscherte so vor sich hin. Getratsche über Bekannte. Die letzten Urlaubspläne. Dann und wann sagte ich auch mal etwas, aber gegen Fes Mitteilungsbedürfnis konnte und wollte ich nicht ankommen.
Mit der Zeit und einem zweiten Bier entspannte ich mich dann doch etwas. Der alte Mann verabschiedete sich aus meinen Gedanken, wurde zum verdrängten Albtraum.

Gegen halb zehn bestellten wir uns MonoCabs. Zuerst wurde Alex abgeholt, dann Fe. Nico und ich standen vor Harrys als sein Taxi anhielt. Er reichte mir die Hand zum Abschied und sah mir in die Augen. Etwas länger als sonst. Dann ging er zum Fahrzeug.
Mit einem Bein im Taxi drehte er sich noch mal zu mir um.
„Ich wollte mit dir ja noch über etwas reden. Haben wir jetzt gar nicht mehr geschafft. Morgen?“
Ich blickte kurz die Straße entlang, dann wieder zu Nico.
„Worum geht’s denn?“
„Morgen!“
„OK, wir cōgitieren noch mal.“
Grinsend stieg Nico in sein MonoCab. Es fuhr davon.

Kurz darauf hielt vor mir ein Viersitzer. Im gleichen Augenblick veränderte sich sein Aussehen. Der glänzende Lack wurde zu einer stumpfen, mit Rostflecken gespickten Ansammlung von Kratzern. Die Gebäude um mich herum hatten sich ebenfalls verändert. Ich drehte mich um und sah den alten Mann vor einer heruntergekommenen Spelunke stehen.
„Hallo, Michael. Steig ein, das ist unser Wagen.“
Mein am Abend wiedergewonnenes Gleichgewicht wurde von einem Steinblock erschlagen. Mit unsicheren Bewegungen setzte ich mich auf die hintere Fahrgastbank. Auch diese hatte schon einmal bessere Zeiten erlebt.
Der alte Mann machte es sich mir gegenüber bequem. Das Taxi setzte sich in Bewegung.
„Du musst etwas vorsichtiger sein, Michael. Halte an deinen Gewohnheiten fest. Dein Spaziergang war recht leichtsinnig.“
„Sie haben das gesehen? Aber wie?“
„Michael. Ich sagte dir doch, wir hätten dich im Blick. Jemand von uns war immer in deiner Nähe.“
Mit offenem Mund saß ich einige Zeit da und starrte ihn an.
„Die Zweifel in deinen Augen konnte man während deines Spaziergangs übrigens ganz gut erkennen. Du solltest dich damit abfinden.“
Ich wendete meinen Blick von ihm ab, sah zum Fenster hinaus. Graue Blöcke zogen an uns vorbei. Schmucklos. Hässlich. Armselig.
Meine Fäuste trommelten an die Tür des MultiCab, begleitet von einem langen Schrei. Schließlich vergrub ich mein Gesicht in meinen schmerzenden Händen, einen salzigen Geschmack an meinen Lippen.
Der Alte legte eine Hand auf meine Schultern.
„Michael. Niemand soll länger getäuscht werden. Jeder muss wieder seine Welt, die echte Welt gestalten können. Du solltest uns helfen, den Menschen ihr eigenes Leben zurückzugeben. Willst du das tun?“
Erschöpft und am Boden zerstört nickte ich.
„Das ist sehr gut, Michael.“

Am nächsten Morgen ging es mir nicht besser als tags zuvor. Wieder eine Nacht mit vielen Gedanken und wenig Schlaf.
Trotzdem die gleiche Routine wie jeden Tag: Duschen, Kaffee, MonoCab.
Dass etwas mit der Route des Taxis nicht stimmte, merkte ich erst, als es vor einem mir unbekannten Gebäude anhielt. Ein großer grauer Kasten mit vielen kleinen Fenstern. Nico stand vor dem Eingang. Hinter ihm vier Männer in Uniformen der Staatspolizei.
Ich stieg aus und blieb mit fragendem Blick stehen, während Nico und seine Begleiter auf mich zukamen.
„Hallo Michael, jetzt hätten wir Zeit für unser Gespräch.“
Er wusste alles! Und das konnte nur bedeuten, dass er nicht der war, den ich zu kennen glaubte. Nico war nur eine Fassade.
„Was habt ihr mit mir jetzt vor?“
Die Worte kamen kaum über meine trockenen Lippen.
„Komm, Michael. Wir gehen erst mal rein.“
Die vier Polizisten stellten sich hinter mich. Nico, oder wie auch immer er wirklich heißen mochte, drehte sich um und ging langsam auf den Eingang des Gebäudes zu. Ich folgte ihm, die vier Bewacher im Nacken.
Er ließ mich zu sich aufschließen, während wir durch das Gebäude gingen.
„Du hast Glück, Michael. Du bist wichtig genug, du wirst rekonditioniert.“
„Rekonditioniert?“
„Ja. Die Erinnerungen an die letzten beiden Tage werden entfernt. Vielleicht erhältst du auch noch ein oder zwei andere Korrekturen. Morgen bist du jedenfalls wieder ganz du selbst.“
„Und wenn sie es noch einmal versuchen?“
Nico lachte laut.
„Wer? Der alte Mann? ER wird dich sicherlich nicht mehr besuchen.“
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Nico hielt ebenfalls an und drehte sich zu mir um. Mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt starrte er mich aus kalten Augen an.
„Ihr habt ihn getötet?“
Keine Antwort. Lediglich ein frostiges Lächeln auf Nicos Lippen.
„Und was ist mit denen passiert, die ihr nicht rekonditioniert habt?“
Nico verzog keine Miene, hielt den Blick einige Sekunden. Dann drehte er sich abrupt um und ging weiter. Ich erhielt einen Stoß in den Rücken.
„Geh weiter!“
Demnächst würde ich aus diesem Albtraum aufwachen und mich an nichts mehr erinnern. Gott, wie ich mich darauf freute.

 

Hallo pantoholli.

Noch einer? Sonst begegnen mir wesentlich weniger Holgers in so kurzer Zeit.
Vielen Dank fürs Lupfen des Hutes, das freut mich wirklich sehr.

Viele Grüße
Holger

 

Merhaba Meryem.

Cōgitierte: Ich habe dieses Wort noch nie gehört und Google anscheinend auch nicht.
Das ist richtig. Das ganze Cogit-Gedöns habe ich für diese Geschichte erfunden, angelehnt an das Lateinische cogitare (denken). Wenn die Gedankentelegrammtechnik in ein paar Jahren kommt, wird auch dieser Begriff seinen Einzug in den Duden finden. :D

Die Line, also auf meine Neuroline.
Das Neuroline als Eigenname für das implantierte Gerät. "Mein" ist in diesem Fall richtig.

Gefühle sollte man nicht mit einem einzigen Wort beschreiben. Zeig uns das Gefühl, den Ärger, wie er um sich blickt, das Gesicht verzieht und dann die Wörter zwischen den Zähnen presst, langsam und mit Bedacht gewählt: „Red keinen Unsinn!“ Irgendetwas in die Richtung halt.
Jau, ist so. Danke. Hast mich wegen reichlich solcher Stellen in der ersten Version von "Jedem seine eigene Hölle" zerrissen, die aber mittlerweile komplett überarbeitet ist. Aber so langsam wird's besser mit mir. Hoffe ich ...

schwerfällt
Ist korrigiert, danke!

Du bist so ein Arsch, HoWoA. Ich hatte eine ähnliche Idee für eine Sci-Fi-Geschichte :/
:Pfeif:

es ist ein toller Blick in die Zukunft. Eine interessante Sci-Fi-Geschichte mit den richtigen Elementen. Doch mir fehlt hier die Spannung, die Tiefe, viel mehr wirkt es für mich so, als hättest du eine tolle Idee gehabt und nur nicht gewusst, wie du sie umsetzen solltest. Für meinen Geschmack ist das einfach zu dünn. Interessant, aber eben zu wenig.
Wahrscheinlich werde ich noch einen Tag zwischen der Begegnung mit dem Alten und seiner Rekonditionierung (Ihr glaubt aber auch jeden Scheiß!) einschieben. So ein paar Ideen entwickeln sich noch.

Liebe maria.meerhaba,

vielen Dank für's Lesen und Kommentieren,
für die Anregungen und auch etwas Lob.

Grüße
Holger

 

Cōgitierte: Ich habe dieses Wort noch nie gehört und Google anscheinend auch nicht.
Das ist richtig. Das ganze Cogit-Gedöns habe ich für diese Geschichte erfunden, angelehnt an das Lateinische cogitare (denken). Wenn die Gedankentelegrammtechnik in ein paar Jahren kommt, wird auch dieser Begriff seinen Einzug in den Duden finden. :D

Aber noch schlägt www.duden.de zu diesem Suchwort vor:

Oder meinten Sie: koitieren?
Vielleicht ganz passend zu dem virtuellen Date mit Vera. :naughty:

Im Englischen gibt es übrigens bereits das Wort cogitate, das in etwa so viel wie "nachsinnen" bedeutet. Das fand ich ein passendes Wortspiel, auch wenn es vielleicht nicht beabsichtigt war.

Grüße vom Holg ...

 

Vielleicht ganz passend zu dem virtuellen Date mit Vera.
Der Duden ist immerhin schon mal auf dem richtigen Weg. :rotfl:

Im Englischen gibt es übrigens bereits das Wort cogitate, das in etwa so viel wie "nachsinnen" bedeutet. Das fand ich ein passendes Wortspiel, auch wenn es vielleicht nicht beabsichtigt war.
Wieder was gelernt, diese Vokabel kannte ich in der Tat noch nicht. Danke schön.

Viele Grüße.

 

Hi HoWoA,

gleich vorweg: SF fällt nicht in mein Beuteschema. Bin da auch ziemlich ahnungslos. Vor vielen Jahren Bladerunner gesehen, Report der Magd gelesen. Das war's so ziemlich.

(Möglicherweise verpasse ich da was. Mir scheint, SF kann an die existentiellen Fragen gehen.)

Deine Geschichte hab ich ganz gerne gelesen.
Ich find's auch gut, wie du dich mit den Kommentaren hier auseinandersetzt.

Keine Spur von den lederbezogenen Stahlrohrschwingern und dem Tropenholztisch.

Das Detail gefällt mir. Tropenholz gibt's da garantiert nicht mehr.

Offline? Was war das?

:D

„Ich biete dir einen unverfälschten Blick auf die Wirklichkeit. Sie dich um!“

Bei "Sie" fehlt das H.

LG, Anne

 

Hallo Anne49.

gleich vorweg: SF fällt nicht in mein Beuteschema. Bin da auch ziemlich ahnungslos.
Dann freut es mich umso mehr, dass du hier reingesehn hast.

Ich find's auch gut, wie du dich mit den Kommentaren hier auseinandersetzt.
Klar doch, ich will mich und die Geschichte ja verbessern.

Das Detail gefällt mir. Tropenholz gibt's da garantiert nicht mehr.
Der Klimawandel schiebt die Tropen schon noch in den Breisgau, dann ist das heimisches Gehölz. Aber das ist eine andere Geschichte ...

Bei "Sie" fehlt das H.
Danke, ist korrigiert.

Viele Grüße
Holger

 

Hallo Holger,
Deine Geschichte hat mir gefallen. Mein einziger Kritikpunkt ist, dass du zu schnell und gradlinig auf die Lösung zustrebst. Einige unerklärliche Irritationen, unerklärliche Risse in der Fassade der Umwelt deines Protagonisten am Anfang würden seine und die Spannung des Lesers sicherlich steigern.

Schön, dass eine SciFi Story hier soviel Resonanz findet.

Gruß Werner

 

Hallo Werner.

Mein einziger Kritikpunkt ist, dass du zu schnell und gradlinig auf die Lösung zustrebst. Einige unerklärliche Irritationen, unerklärliche Risse in der Fassade der Umwelt deines Protagonisten am Anfang würden seine und die Spannung des Lesers sicherlich steigern.
Werde die Geschichte noch etwas ausbauen. Versprochen.

Schön, dass eine SciFi Story hier soviel Resonanz findet.
Ja, bin eigentlich recht überrascht. Freut mich aber sehr, anscheinend ein interessantes Motiv gefunden zu haben.

Viele Grüße
Holger

 

Liebe Wortkrieger,

wie schon angedeutet habe ich noch einen Tag eingeschoben. Die Geschichte ist zwar jetzt mehr als doppelt so lang, bietet jetzt aber doch deutlich mehr Einblick in Michaels Lebensumfeld. Ich hoffe, das lohnt sich und ist trotzdem nicht zu langatmig.

Darüber hinaus habe ich noch ein paar Stellen überarbeitet.

Grüße
Holger

 

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