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Neues Leben
Ich lehne mich im Sessel zurück, atme kräftig aus, fahre mit den Fingern durch die Haare. In fünf Minuten kommt er. Ich will schön für ihn sein.
Christian hat mir meine Lieblingssachen herausgelegt. Der frisch gewaschene Pulli riecht nach Lavendel, lässt mich für einen Augenblick den Fischgeruch vergessen, der freitags durch das ganze Haus weht. Ich streife über den samtigen Stoff der Hose. Mein Körper kribbelt. Vorsichtig drücke ich die Stelle am Knie. Es schmerzt. Sie haben eine Salbe draufgeschmiert. Als ob das helfen würde. Dreißig Jahre habe ich in einer Apotheke gearbeitet. Auf mich hört ja keiner.
Noch ist es relativ still. Erst um siebzehn Uhr drehen sie den Ton am Fernseher lauter. Ich schaue wieder auf die Wanduhr, drehe mich um. Hinten am Tisch sitzt die alte Kruschinski, hält Spielkarten in der Hand. Ständig wiederholt sie „Zwei ziehen! Zwei ziehen!“ und merkt nicht, dass ihr Gegenüber eingenickt ist. Die Alte ist plemplem.
Am Ecktisch sitzen drei Männer, deren Namen ich nicht kenne, obwohl sie täglich hier sind. Die alten Witwer haben mich nie interessiert. Was soll ich mit sabbernden Hosennässern anfangen?
Sie lösen Kreuzworträtsel, schlürfen ihr Getränk, lesen in Automagazinen – obwohl sie schon lange kein Auto mehr fahren können. Einer von ihnen zeigt mit dem Finger auf mich. Schnell drehe ich mich um, starre erneut auf Uhr und Tür. Er scheint sich noch an letzte Woche zu erinnern, als er an meiner offenstehenden Zimmertür entlangschlich. Oder hat er mich am Kaffeeautomaten gesehen? Dabei wollte ich dem jungen Mann bloß einen Fussel vom Kittel streichen.
Christian hat mich nach dem zweiten Mal aufgesucht.
„Herr Schubert hat sich beschwert. Sie hätten ihn mehrmals unsittlich berührt.“
„Nein! Herr Schubert irrt sich! Ich hab mich halten wollen, als er meine Wunde versorgt hat. Ich wäre sonst … gestürzt.“
„Ich denke, es ist besser, wenn sich ab sofort Frau Weber um Ihr Bein kümmert.“
Soll er ruhig die hässliche Weber schicken, dachte ich mir. Ich weiß, wann der süße Schubert seine Schicht macht, passe ihn am Kaffeeautomaten ab.
Das war keine so gute Idee. Einen Tag später musste ich in Christians Büro.
„Wegen Ihrer fortschreitenden Krankheit verlieren Sie mehr und mehr Ihre Hemmungen“, sagte Christian, während er meine Akte durchblätterte.
Verschämt blickte ich auf den Boden. Als ob er mich verstehen würde, ergänzte er: „Es ist ein normales Bedürfnis.“
Mit rasendem Herzschlag starrte ich ihn an. Was weiß er? Drumherumgerede? Noch nie hat es jemand ausgesprochen. Selbst ich nicht.
Zurück in meinem Zimmer setzte ich mich aufs Bett. Meine Augen schwammen in Tränen. Erinnerungen schossen durch meinen Kopf. „Ekelig“ sagte mein Vater damals und schlug mich windelweich. Schloss mich oft in meinem Zimmer ein. Als ich endlich eigenes Geld verdiente, schmiss er mich aus dem Haus. Erst, nachdem ich in eine andere Stadt gezogen war, fühlte ich mich nicht mehr beobachtet.
Normales Bedürfnis. Von wegen normal. Ich weiß, dass ich anders bin. Ein Leben lang begleitet es mich. Ich weiß, dass ich später nichts mehr kontrollieren kann. Und dann, noch später, weiß ich überhaupt nicht, was Kontrolle ist.
Tags darauf hat mir Christian von seiner Idee berichtet.
„Ich habe mit der Leitung gesprochen. Wir könnten jemanden kommen lassen. Wollen Sie es ausprobieren?“
Ich nickte stumm, die Hände in den Taschen vergraben.
„Und, keine Sorge: Es ist vertraulich, alles bleibt unter uns.“
Jetzt sitze ich hier und warte auf ihn. Hoffend, dass er mir gefällt. Wissend, dass es nichts Festes werden kann.
Der Ton des Fernsehers wird lauter. An der Tür tut sich nichts. Ich schaue mich um. Die alte Kruschowski – oder wie sie heißt – plappert noch immer „Zwei ziehen!“ vor sich hin; die Männer hocken schweigend auf den Stühlen.
Ein Klopfen an der Tür. Ich rutsche auf dem Sessel hin und her. Christian öffnet sie, schüttelt jemandem die Hand, dreht sich kurz und nickt mir zu.
Ich beäuge den jungen Mann, der da auf dem Gang steht. Er mag auf die fünfzig zugehen, wirkt sehr gepflegt, trägt modische Kleidung, die zweifellos teuer ist.
Er sieht mich an. Augen – unergründlich wie dunkle Seen. Sofort habe ich das Gefühl, ihn seit ewigen Zeiten zu kennen. Mir wird warm. Im Unterleib kribbelt es. Ein Typ, dem ich damals hinterhergelaufen wäre. Wenn ich es gekonnt hätte.
Es ist mühsam, mich aus dem Sessel zu erheben. In meinen Pantoffeln schlurfe ich zum Eingang. Gleich ziehe ich meine schönen, frisch gewienerten Schuhe an, die an der Garderobe warten. Ich spüre, wie Dutzend Augen mich verfolgen. Was wollt ihr? Mein Neffe besucht mich. Mein Neffe, sage ich in Gedanken und trete auf den Gang, schließe die Tür hinter mir, ohne nochmal in den Aufenthaltsraum zu schauen.
Der Mann strahlt mich an und gibt mir die Hand. „Manfred. Guten Abend!“ Eine raue Stimme.
Ich vernehme einen süßlichen Duft, sage „Gleisenstein“ und will die Hand am liebsten nicht loslassen. Sie ist warm, kräftig, zärtlich, gibt mir Halt.
„Ich lasse Sie beide dann mal allein“, sagt Christian. Er schaut auf meine Füße und lächelt. „Denken Sie noch an Ihre Schuhe.“
Als ob ich das nicht selbst wüsste.
„Der Empfang unten weiß Bescheid, seien Sie bitte spätestens um neunzehn Uhr auf Ihrem Zimmer“, sagt Christian und lässt uns tatsächlich allein.
Manfred reicht mir den langen Schuhanzieher, wartet, bis ich in meine Schuhe geschlüpft bin. Als ich zur Jacke greife, meint er: „Sollen wir erst in der Cafeteria unten einen Kaffee trinken und dann etwas im Park spazieren?“
Ich taumle einen Schritt zurück. In der Cafeteria? Was soll’s. „Gut. Aber nicht so viel laufen. Mein Bein. Und Sie sind mein Neffe, falls jemand fragt.“
Manfred lächelt. „So machen wir das, Herr Gleisenstein … oder soll ich nicht besser Norbert sagen? Und nach dem Kaffee können wir uns draußen auf der Parkbank ganz in Ruhe unterhalten, bevor …“
Ich drücke den Rücken durch, meine Brust schwillt an. Die Augen füllen sich mit Tränen. „Bevor wir auf mein Zimmer gehen?“
Jetzt beginnt für mich ein neues Leben.