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Narbe
Narbe
(by Maxinho)
„Warte, ich helfe dir.“
Uneigennützig verschränkt Francois seine Hände, um mir per Räuberleiter auf die Mauer zu helfen. Rasch stelle ich meinen rechten Fuß in die von ihm geformte Stufe und stemme mich so bis an die Kante des Schutzwalls. Vorsichtig ziehe ich mich empor, bis ich einen Blick in das auf der anderen Seite gelegene Areal werfen kann. Der Regen erschwert mir die Sicht, doch die Luft scheint rein zu sein. Hastig ziehe ich mich nun noch ganz bis auf die Mauer, wobei ich dabei den Stacheldraht zur Seite drücken muss. Meine Arme sind zwar sowieso schon blutig, doch das ist jetzt egal. Jetzt geht es um Leben oder Tod. Das Konzentrationslager überlebt niemand – diese Regel sind wir in Begriff zu brechen.
Mit hektischen Bewegungen reiche ich Francois meine Hand und helfe ihm ebenfalls nach oben. Sofort springen wir gemeinsam auf die andere Seite und kauern im Schatten der Mauer. Wir versuchen unsere Atmung zu kontrollieren, flach zu atmen. Doch noch sind wir so aufgedreht, dass jedes Luftschnappen wie ein startendes Flugzeug zu röhren scheint.
Langsam beruhigen wir uns und ich blicke zu Francois herüber. Auch er schaut mich mit schockierten Augen an. Unsere Gesichtszüge entspannen sich mit jedem Moment und plötzlich bricht es aus Francois heraus.
„Mon Dieu, die ´errenrasse kann keine vernünftigen Gefangenenlager bauen. Sogar so ein amerikanischer Tollpatsch wie du kann hier ausbrechen.“
Lauthals lachen wir beide auf. Tränen drängen sich in unsere Augen. Francois klopft mir auf die Schulter. Das Licht eines Scheinwerfers sucht das Gebiet ab und bewegt unaufhaltsam auf uns zu.
Wir rennen um unser Leben. Ein weiterer Sicherheitsstreifen außerhalb dieser Mauer? Damit haben wir nicht gerechnet.
Wir rennen um unser Leben. Francois und ich, nur wir beide sind noch übrig. Alle anderen wurden bereits erwischt. Doch wir noch nicht, wir nicht. Das sind jetzt meine Gedanken und just in diesem Moment durchlöchert eine Salve aus einem deutschen Sturmgewehr Francois. Ich hechte hinter einen Stapel Kisten und entkomme so der nächsten Gewehrsalve. Mein Herz rast, meine Lungen leisten Akkordarbeit beim Atmen. Mit äußerster Vorsicht blicke ich zurück und sehe, dass Francois noch lebt. Blutüberströmt liegt er rund zwölf Meter von mir entfernt im Schlamm. Der Regen prasselt auf ihn herab. Von weitem hört man die Kampfhunde der Nazisoldaten und selbige selbst auf uns zu stapfen. „Francois!“ rufe ich meinem Freund entgegen. „Francois, komm her.“ Doch er kann nicht. Es hat ihn heftig erwischt. Ich will zu ihm, ihn holen. Doch als ich vorspringe, schlagen rings um mich Kugeln ein und ich hechte wieder hinter die Kisten.
Mit zuckenden Bewegungen versucht Francois sich fort zu bewegen, doch er kommt nicht vom Fleck. Der schlammige Untergrund mischt sich mit seinem Blut und färbt sich in unwirkliche Rostfarben.
„Emil! Emil, hilf mir. Bitte, Emil, hilf mir!“
Wieder schnelle ich aus meinem Versteckt hervor, doch wieder zwingen mich Gewehrkugeln zum Rückzug.
„Emil, was ist los? Hilf mir. Hilf mir, Emil.“
Vorsichtig robbe ich auf ihn zu, doch erneut mache ich mich zur Zielscheibe und muss zurück. Ich kann Francois nicht helfen. Ich kann ihm einfach nicht helfen.
Plötzlich sehe ich mich. Ich sehe mich im Schlamm, im Regen, hinter diesen Kisten kauernd. Ich begutachte mich selbst von oben und betrachte, wie mich eine Kugel nach der anderen trifft und so mein Körper durchlöchert wird. Dann wird alles um mich herum dunkel. Dunkler als Nacht je sein könnte. Meine Sinneskräfte scheinen mich zu verlassen. Alles wirkt so taub. Vollkommene Dunkelheit umgibt mich, nur ein winziger Lichtstreifen ist vor mir zu erkennen. Die Lichtquelle wird stärker. Sie blendet mich und ich entschwinde fast vollkommen.
Die Tür wird geöffnet und eine der Schwestern betritt den Raum.
„Guten Morgen. Wie haben Sie geschlafen? Heute ist Mittwoch, Herr Kreuzer. Badetag. Also lassen Sie uns in den Waschraum gehen.“
Ein Wärter kommt hinzu. Er greift unter meinen kraftlosen Körper und hebt mich auf.