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Nadia Kailouli Seawatch 3 (Film) - Pia Klemp: Lass uns mit den Toten tanzen.

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31.08.2008
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Nadia Kailouli Seawatch 3 (Film) - Pia Klemp: Lass uns mit den Toten tanzen.

Nadia Kailouli wollte eigentlich nur eine ganz gewöhnliche Reportage machen, auf einem Rettungsschiff mit engagierter junger Crew, vielleicht ein kleines Schlauchboot finden und Flüchtlinge an Bord nehmen, dann ab in den Flieger mit einem netten Film. Unversehens stolpert sie mit ihrem Team in eines der spannendsten Ereignisse der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer: unter der Führung von Kapitänin Carola Rackete nimmt die „Seawatch 3“ viele Flüchtlinge an Bord, bekommt keine Genehmigung zum Einlaufen in italienische Häfen, das Seerecht, dass die schnellstmögliche Verbringung in einen sicheren Hafen fordert, und die italienische Migrationspolitik unter Außenminister Salvini kollidieren, und dazwischen steht Carola Rackete. Bilder von den Flüchtlingen, zaghafte Gespräche, die das Grauen in libyschen Gefängnissen nur andeuten, schwer traumatisierte Menschen bringen das ganze Elend nahe, wecken Respekt vor dem Einsatz der Crew, Menschen, die ihren Jahresurlaub dafür geben, hier zu sein und zu helfen, als Deckmannschaft, Krankenpfleger, Ärztin, Maschinist – es gibt für jeden Job Anwärter auf Warteliste, selten war Hilfsbereitschaft so sichtbar. Zum Schluss fährt, das ist wohl kaum jemandem entgangen, Carola Rackete entgegen den Anweisungen der Behörden in einen Hafen, das Schiff wird von jubelnden Unterstützern und kreischenden Protestierern empfangen, letzteren wird die Genugtuung zuteil, dass die Kapitänin sofort verhaftet und abgeführt wird.- Eine eindrucksvolle Dokumentation mit sehr viel menschlicher Nähe zum Geschehen.


Pia Klemp is selbst Kapitänin, sie fährt auf der „Juventa“ einen Einsatz im Mittelmeer. Locker, in einer manchmal überzeichnet deftigen Sprache schreibt sie von dieser Fahrt, dem Kennenlernen der neuen Crew, der Ausgelassenheit, die wie eine Verdrängung dessen wirkt, was kommt und was alle wissen. Ein Dialog zum weiblichen Selbstverständnis: „Ich raff´s echt nicht, wie es für zwei Babes wie uns so schwer sein kann, flach gelegt zu werden“, wundert sich Salma giggelnd.
„Warum gibt’s mehr Materie als Antimaterie? Weiß auch kein Mensch, und dabei ist das noch die unkompliziertere Frage.“ Wir stoßen an, und ich beteuere ihr: „Wir sind richtige Babes.“
„Dumm nur, dass wir Generatoren generalüberholen können.“
„Und Marmeladengläser alleine aufmachen“, komplementiere ich die Faktenlage. „Komplett unsexy“, mokiert sie sich, und Frust über die Wahrheit in ihrer Aussage schwingt mit.

Da fragt man sich, wie es ihr ergeht, wenn das Drama losgeht. „Das RHIB fährt noch einmal raus, um nach Leichen zu suchen, die sie auch finden. Die meisten sinken zum Grund und bleiben dort auch. Das Meer schert sich nicht um ihre Pässe, es nimmt jeden vorurteilsfrei auf.“
Es folgt ein Verwirrspiel der italienischen Behörden, die „Juventa wird absichtlich auf Kurse geschickt, wo keine Flüchtlinge zu retten sind, ihr werden unsinnig weit entfernte Häfen als Ziel angewiesen und Pia Klemp muss Mut beweisen, wie Carola Rackete, beide erzeugen immer Erstaunen, wenn realisiert wird, dass hier ein richtiges Schiff von einer jungen Frau geführt wird. "Madam, you have to follow the orders.“
„Sir. The orders don´t make any sense.“ könnte stellvertretend für viele Dialoge stehen.

Auf Deck herrscht Friedhofsstille. „Wie viele haben wir an Bord?“, traue ich mich zu fragen.
„Etwa sechzig“, schätzt Jeremy.
Ich nicke stumm. Dann sind mindestens dreißig ertrunken. Was für ein elendiger Scheißtag.


So unterschiedlich diese beiden Frauen auch sein mögen, sie beide haben hier mit einer Realität zu kämpfen, die an Grenzen führt, an seelische Zerreißproben, denn sie müssen entscheiden, und egal, wie sie entscheiden, immer sterben Menschen, immer steht am Ende der Rettung vieler die Schuld für den Tod derer, die nicht überlebt haben. Die Last macht mutig, sie macht unsicher, all das wird hier sichtbar. Zwei verwegene junge Frauen, die die Menschenverachtung der gesamten EU vorführen. Wen sie es so sehen könnten, als bloße politische Demonstration, dann könnten sie damit vielleicht auch leben.

 

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