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Nachtland
so fest in unsere Haut eingeschlossen sind,
als es scheint.” – Friedrich Hebbel
Ich schlief. Dieser Tatsache war ich mir jedoch nicht bewusst. Unter meinen Füßen war samtenes Gras, das jeden meiner langsamen Schritte dämpfte. Eine angenehme Brise wehte mir gegen die linke Wange und brachte die Erinnerung an Meer mit sich. Vor mir standen ein paar Bäume in einer losen Gruppe zusammen. Ich drehte den Kopf in Richtung der Brise, wobei meine Sicht etwas verschwamm. Die Wiese, auf der ich ging, endete einen Steinwurf entfernt am oberen Rand einer Steilküste. Dort saß ein Mädchen auf einem Felsen und sah auf das Meer hinaus. Sollte ich näher treten? Zaghaft setzte ich einen Fuß vor den anderen, und das weiche Gras sorgte dafür, dass ich lautlos wie ein Tiger war. Warum eigentlich wie ein Tiger? Ich hatte doch keine bösen Absichten, was Tiger wahrscheinlich fast immer haben. Allein diese Zähne.
Das Mädchen stand auf und drehte sich zu mir um. Es konnte mich unmöglich gehört oder gerochen haben, da ich mich doch gegen den Wind angeschlichen hatte. In der Hand hielt es eine angebissene lila Frucht, einem Pfirsich ähnlich, aber etwas größer. Wir standen nun nahe genug zusammen, dass wir uns laut unterhalten konnten. “Wer bist du?”, fragte es mich und kam dabei weiter auf mich zu. Seine Schritte erschienen mir dabei ebenso zögerlich wie meine zu Beginn.
“Ich heiße Bastian”, sagte ich. “Aber wie heißt du?”
“Kavyloqa.”
Sollte mir der Name etwas sagen? Ich fragte mich, ob ich sie kennen könnte. Sie trug ein einteiliges, weißes Kleid, das aus mattem Kunststoff zu sein schien. Es endete kurz über den in Strumpfhosen steckenden Knien, unter denen hellblaue Stiefel mit flachem Absatz begannen. Ihr Gürtel war so kupferfarben wie ihr Haar, das am Rand ihrer Silhouette violett schimmerte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht kannte. Doch auf eine Antwort von mir wartete sie auch nicht, denn sie sprach weiter: “Ich habe dich – nein, jemanden wie dich erwartet. Seit langer, langer Zeit.”
Ich wachte auf. Mein Wecker piepte, dabei war es genau Mitternacht. Schlaftrunken erinnerte ich mich, dass die Batterien aufgrund eines fehlenden Deckels mal wieder herausgefallen waren und ich sie wieder eingesetzt hatte. Das stellte den Alarm immer auf 0:00 Uhr. Erst letzte Woche war mir dies passiert. Ich hätte daran denken sollen, den Alarm wieder zu korrigieren, war aber zu müde, um mich richtig zu ärgern. Bald versank ich wieder in Schlaf.
Ich stand auf einer weichen Wiese, vor mir eine kleine Baumgruppe. Eine leichte Brise von links brachte einen Geruch nach -
“Bastian!”
Ein Mädchen in einem weißen Kleid lief auf mich zu. Es schien in einem Zustand der Freude und Erleichterung zu sein.
“Wer bist du?”, fragte ich und hatte den schwachen Eindruck eines Déjà-vus.
“Du hast es schon vergessen? Kavyloqa.” Sie sprach das O lang und betont aus. “Wir haben uns vor einigen Minuten gesehen.”
Ich erinnerte mich. Es war … in einem Traum gewesen, bevor der Wecker losging. Der Schleier lüftete sich und ich trat in den Klartraum über. Die Konturen wirkten alle einen Tick schärfer, die Farben satter, und wo ich hin sah, offenbarten sich Details bis hin zur Unendlichkeit. Das Licht der Sonne erreichte zum ersten Mal in dieser Welt gleißend meine Augen und die Luft zog frisch durch meine Atemwege. Ich fühlte mich wie eine Hauskatze, die die Außenwelt bisher nur durch ein Fenster beobachtet hatte und nun zum ersten Mal nach draußen ging. Sofort begann ich, neugierig die Umgebung zu erkunden. Was gaukelte mir mein Hirn da vor? Es wäre interessant, zum Rand des Kliffes zu gehen und hinunterzusehen. Ich lief sogleich los und Kavyloqa folgte mir. An dem Stein, auf dem ich Kavyloqa zum ersten Mal gesehen hatte, ging ich links vorbei und erreichte nach ein paar weiteren Schritten den Kliffrand.
“Geh nicht so nah an den Rand. Hey!”, warnte sie und griff mich an der rechten Schulter. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach hinunter zu springen, weil mir ja nichts passieren konnte. “Soll ich springen?”, fragte ich sie halb im Scherz.
“Nein, du bleibst schön hier. Ich habe nicht die letzten Monate umsonst gewartet. Kapiert?”
“Es ist doch erstaunlich, wie konsistent meine Träume sind. Im letzten hattest du auch gesagt, dass du lange gewartet hättest.”
“Vielleicht bin ja auch ich konsistent.”
Ich musste lachen. Mein Gehirn legte den Personen in meinen Träumen offenbar genau die Worte in den Mund, die mir bei einer realen Person logisch erscheinen würden. Sie hatte mich immer noch an der Schulter und drehte mich zu sich um. “Wir haben noch ein Pflichtprogramm zu absolvieren. Danach mach, was du willst.”
Für eine erträumte Person war sie ziemlich forsch.
“Nimm dies”, sagte sie und zog dabei einen Umschlag aus einer unauffälligen Tasche in ihrem Kleid. Als ich gerade nach ihm griff, schien ihr noch etwas einzufallen, und sie zog ihn zurück. “Moment”, murmelte sie und zauberte von irgendwoher einen Kugelschreiber herbei. Sie schrieb damit etwas auf den Umschlag. Nach kurzem Zögern steckte sie den Kugelschreiber in den Umschlag und klebte diesen zu. Dann übergab sie ihn mir.
Von Kavyloqa stand darauf. Wie ich ertasten konnte, enthielt er neben dem Kugelschreiber noch einige rechteckige Stücke aus festerem Papier oder sehr leichter Pappe. So konnte ich ihn leider nicht für die Verwahrung in meiner Hosentasche zusammenrollen und behielt ihn in der Hand. Eine so große Tasche wie Kavyloqa hatte ich nicht.
Es schien, als wollte sie noch etwas sagen, aber sie stockte und musterte mich kritisch mit zusammengekniffenen Augen. Sie ging schnell die paar Schritte zum Felsen zurück, auf dem sie die seltsame lila Frucht liegengelassen hatte, nahm diese auf und biss hinein. Mit der Frucht in der Hand kam sie zurückgehastet und sah mich wieder so komisch an.
“Verflucht”, entfuhr es ihr. “Schnell, iss von dieser Frucht!”
Ohne weiter zu überlegen, nahm ich einen Bissen. Er schmeckte süß und leicht nach Zimt, aber der Geschmack verblasste ungewöhnlich schnell – ebenso wie meine Umgebung. Ich fühlte einen Sog aus der Realität, dem ich nicht mehr lange würde widerstehen können. Gleich würde ich aufwachen.
“Halt den Umschlag fest!”, sagte Kavyloqa.
Dann sprang sie auf mich zu und stieß mich vom Kliff.
Mein Herz setzte kurz aus.
Als ich im Bett hochfuhr, schlug mein Herz wieder, und zwar bis zum Hals. Ich machte das Licht an und trank etwas von dem Wasser, das ich stets griffbereit stehen hatte. Dabei merkte ich, dass mir etwas zwischen den Zähnen hing.
Fruchtfleisch.
Noch während ich es mir aus dem Zahnzwischenraum saugte und dabei gleichermaßen erstaunt wie erschrocken eine Zimtnote wahrnahm, fiel etwas aus dem Bett.
Es war der Umschlag.
Aber er war kaum noch als solcher zu erkennen. Er hatte eine Form, die durch Falten des Papieres nicht zu erreichen gewesen wäre. Vielmehr schien es, als sei Material an einzelnen Stellen hinzugefügt, an anderen entfernt worden, ohne Löcher zu lassen. Aus der Draufsicht hatte er keine rechteckige Form mehr. Eine Hälfte war höher als die andere und außerdem mit einigen Rundungen versehen. Die andere hatte einen kleinen Ausläufer. Kavyloqas Beschriftung war unleserlich. Ich riss eine Ecke ab und öffnete den Umschlag mit einem gekrümmten Finger als Brieföffner. Als erstes nahm ich den Kugelschreiber heraus. Er fühlte sich nach Stahl an. Seine Feder sah seitlich aus der Spitze heraus, obwohl dort kein Loch war. Lückenlos schloß Metall an Metall. Der Schaft sah aus, als hätte ihn jemand einmal quer durchgeschnitten und die Teile gegeneinander versetzt wieder zusammengeschweißt. Ich probierte den Druckknopf. Er ließ sich nicht bewegen. Das war zuviel für mich. Ich sah auf den Wecker. Elf Minuten nach Sieben. Es war Samstag.
Nun hielt ich es allein in meiner Wohnung nicht mehr aus. Der Wahnsinn mäanderte durch die Luft und schlängelte sich lauernd um meinen Kopf. Wenn ich raus ging, unter Leute, dann würde er sich vielleicht nicht trauen, anzugreifen. Also zog ich mich an, nahm den Briefumschlag mit und ging in den Park.
Kaum hatte ich meine Bank am Parkteich gefunden, klappte ich den Umschlag auf, um mir seinen restlichen Inhalt anzusehen. Es waren Fotos. Zumindest waren es mal welche gewesen, nun sahen sie aus wie dustere und verwaschene Werke abstrakter Kunst. Zwei waren an einer Ecke miteinander verbunden, als seien sie zusammengewachsen. Ich musste sie auseinanderreißen. Nach dem mehrfachen Sichten der Fotos – es waren nur fünf – war ich nicht viel schlauer als zuvor. Aber war das so wichtig? Ich sollte eher darüber nachdenken, wie ich Gegenstände aus einem Traum hatte mitnehmen können. Aber wie sehr ich auch grübelte, ich fand nicht einmal den Ansatz einer Erklärung. Andererseits kam es mir fast natürlich vor, so lebendig war die Erinnerung an den luziden Traum. Die Baumgruppe vor mir, Kavyloqa, der Biss in die Frucht, der Sturz von der Steilküste – mein Bett. Sie hatte mich hinunter gestoßen. Warum? Jedenfalls hatte sie nicht den Eindruck gemacht, als hätte sie mir schaden wollen. Mein Blick fiel auf zwei anscheinend besoffene Gestalten, die in einiger Entfernung herumschlichen. Wahrscheinlich hatten sie letzte Nacht durchgemacht. Einer ging gerade in einen dicken Baum, jedenfalls erschien es mir so. Aber ich sagte mir, dass er in Wirklichkeit wohl hinter ihn gegangen war.
Ein Windstoß, der das oberste Foto vom Stapel wehte, riss mich aus den Gedanken. Das Foto fiel in den Teich, aber augenblicklich kam ein kleiner Junge angerannt und fischte es aus dem Wasser. Ich wollte mich gerade bedanken, aber der Junge brachte mir das Foto nicht zurück. Stattdessen betrachtete er es eine Weile und hielt es dann ans Ohr. Ich wurde ungeduldig. “Hey, Kleiner! Kann ich das Foto wiederhaben?”
“Es macht Geräusche”, antwortete der Junge.
“Was meinst du damit?”, fragte ich.
“Es macht … Geräusche.” Nun endlich brachte er mir das Foto. Ich hielt es an mein Ohr, konnte aber nichts hören. Ich schüttelte nur den Kopf. Der Junge antwortete: “Es hat aufgehört.”
Was ich nun tat, war logisch, und dennoch hätte ich es an den meisten anderen Tagen nicht getan. Ich ging zum Teich und tauchte das Foto kurz ins Wasser. Die Töne waren kaum wahrnehmbar, bis ich mir das Foto ans Ohr hielt. Eine schräge Melodie missklang aus dem Papier. Es war nicht zu sagen, was für ein Instrument es war. Schon bald wurde die Melodie zunehmend leiser, bis ich sie schließlich nicht mehr hörte. Ich fragte mich, ob sie jemals endete oder nur immer leiser wurde. Ich kramte in meiner Jackentasche nach dem Euro, den ich schon viel zu lange dort herumtrug, und warf ihn dem Jungen zu. “Danke!”, sagte ich. Statt einer Antwort strahlte der Junge und rannte weg. Er hatte anscheinend ein Ziel. Vielleicht wollte er sich Süßigkeiten kaufen oder zu einer Eisdiele gehen. Ich hingegen ging zurück zur Bank, nahm die restlichen vier Fotos und tauchte sie alle nacheinander ins Wasser.
Nur eines, auf dem man mit etwas Fantasie ein schemenhaftes Gesicht erkennen konnte, zeigte letztendlich eine Reaktion. Es klang wie eine tiefe, verzerrte Stimme, die etwas Unheilvolles in einer fremdartigen Sprache intonierte. Keiner sehr schönen Sprache. Beinahe hätte ich das Foto angewidert fallen lassen. Im Gegensatz zur Melodie verstummten die Worte jedoch abrupt. Ich steckte dieses Foto in die Mitte des Stapels, um es so gut wie möglich einzukerkern. Dann machte ich mich auf den Heimweg.
Zuhause sah ich mir eine Dokumentation über Schwertfische an. Junge Schwertfische haben noch Zähne und Schuppen, ausgewachsene nicht mehr. Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war, aus dem Kühlschrank. Anschließend kam eine Dokumentation über altägyptischen Totenkult. Bei der Mumifizierung wurde das Gehirn mit einem Werkzeug durch die Nase zerstört und zu einem Brei verquirlt. Es wurde flüssig, so dass es durch die Nasenlöcher herauslief. Ich löffelte meinen Joghurt. Die Organe wurden entnommen und separat in Krügen eingelagert. Eine schwabbelige Erdbeere war das einzige nennenswerte Fruchtstück, das ich fand. Der Körper des Leichnams wurde mit Natron gefüllt und ihm dadurch das Wasser entzogen. Laut Zutatenliste enthielt der Joghurt gefriergetrocknete Erdbeeren.
Eine halb transparente Gestalt betrat das Wohnzimmer. Ich fuhr so heftig zusammen, dass ich den Joghurt fallen ließ. Es war ein Mann in mittlerem Alter und mit etwas eigenartiger Kleidung. Er bewegte sich ziellos herum, wie betrunken, und machte einige rätselhafte Gesten mit den Händen. Ich brachte mich auf größtmögliche Distanz zu der Erscheinung und verharrte vor Angst wie versteinert. Die Gestalt bewegte sich mühelos durch Möbel hindurch, verließ einmal sogar kurz den Raum durch die Wand. Zwei Stunden später endete der Spuk. Der kalte Schweiß klebte mir in den Klamotten. Es musste eine Halluzination gewesen sein. Hatte ich etwas Schlechtes gegessen? Oder war dies alles hier – der seltsame Traum, die mitgebrachten Gegenstände – nur ein Zeichen dafür, dass ich den Verstand verlor? Ich horchte, so gut es ging, in mich hinein, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Nach einer Weile beruhigte ich mich. Es war wohl nur ein sehr realistisch wirkender Traum gewesen, was mir im Licht der letzten Ereignisse sehr wahrscheinlich erschien. Diese Erklärung wiederholte ich wie ein Mantra wieder und wieder in meinem Kopf. Es war nur ein Traum, es war nur ein Traum …
Den Umschlag, den Kugelschreiber und die Fotos hatte ich in eine verschließbare Blechdose gelegt. Dass ich von dem Kliff träumen würde, stand für mich außer Frage. Und der einzige Grund – der einzig mögliche, versicherte ich mir – dafür war, dass mir dieser imaginäre Ort schon den ganzen Tag unterschwellig im Kopf herumging.
Ein Tag voll ermüdenden Wartens ging zu Ende und ich legte mich ins Bett. Würde ich Antworten finden? Die Voraussetzungen für alles, was in dem Traum geschehen konnte, mussten immerhin bereits in meinem Kopf existieren.
In meinem Kopf …
existieren …
...
“Warum können wir uns nicht in Träumen treffen und uns alle
unsere Fragen beantworten?” – Katherine Mansfield, Briefe
Die altbekannte Brise und Kavyloqa begrüßten mich auf dem Kliff. Durch die Anwesenheit dieser Elemente kam der Klartraum automatisch. Ich hatte einige Fragen an das Mädchen.
“Hallo, Kavyloqa”, sagte ich, “ich habe -”
”Fragen, natürlich!”, unterbrach sie mich. “Stell sie der Reihe nach, dann erkläre ich den Rest. Und das ist mehr als du denkst.”
Was mich am meisten interessierte, waren die Dinge im Umschlag. Ich erzählte Kavyloqa von dem verzerrten Kugelschreiber und von den rätselhaften Fotos, die Geräusche machten, wenn sie nass wurden.
Kavyloqa nickte. “Unser letzter Abschied war etwas … überstürzt.”
“In der Tat.”
“Dazu kommen wir gleich noch. Jedenfalls hat die Veränderung dieser Gegenstände damit etwas zu tun. Solange du noch nicht die richtige Technik drauf hast, ist es wichtig, dass der Übergang zwischen Schlafen und Wachen sehr schnell abläuft. Nur dann kannst du Gegenstände aus dem Traum überhaupt mitnehmen. Das hat nicht so gut funktioniert, aber das war zu erwarten.”
Für einen Moment amüsierte ich mich über Kavyloqas Gedanken – die ja in Wirklichkeit meine eigenen sein mussten. Oder waren sie das nicht? Hatte ich tatsächlich zuhause diesen Umschlag in der Blechdose oder täuschte mich mein Geist im Traum? “Dass die Fotos Geräusche gemacht haben, wenn sie nass wurden, ist also normal?”, fragte ich.
“Fotos, die Geräusche machen, sind bei uns nicht ungewöhnlich. Aber normalerweise werden sie durch Blicke und Atem aktiviert. Sie hätten losgehen sollen, wenn du sie dir konzentriert angesehen hättest. Der Auslösemechanismus hat unter der Reise wohl gelitten. Du siehst blass aus. Willst du dich setzen?”
Durch Blicke und Atem. “Ja”, sagte ich.
Wir gingen zum Felsen und setzten uns so darauf, dass wir aufs Meer hinaussahen. Kavyloqa legte einen Schalter an einem kleinen Gerät um, das an ihrem Gürtel befestigt war.
“Und was war mit dieser gruseligen Stimme?”, wollte ich wissen.
“Das, ähm, war eigentlich ich. Ein kleiner Gruß. Es sollte dich an mich erinnern, damit du zurückfinden würdest. Dass du zurückfinden würdest, war eigentlich der Zweck aller Fotos.”
“Und die Melodie?”
“Ein Klavierstück von mir. Es heißt Zwei Spinnen auf der Flucht. Es klingt in Wirklichkeit sehr beschwingt. Man muss es aber zu zweit spielen, weil man bis zu sechzehn Finger braucht.”
Konnte sich mein träumendes Gehirn so etwas noch ausdenken? “In Ordnung. Und du hast mich vom Kliff gestoßen, damit ich schnell aufwache?”
“Richtig. Wie gesagt, du hast die Technik zum Transport noch nicht drauf. Eigentlich wollte ich dich vorbereiten, aber ich habe gemerkt, dass du dabei warst, aufzuwachen. Wärest du langsam und normal aufgewacht, hättest du die Gegenstände nicht mitnehmen können.”
“Moment”, unterbrach ich, “woher wusstest du, dass ich aufwache? Außerdem schreckt man doch manchmal aus einem Traum hoch, aber man nimmt dabei niemals etwas mit! Also wie kann das sein?” Das waren schon zwei Fragen, aber mir fiel noch ein Detail ein: “Und warum musste ich von dieser Frucht abbeißen?”
“Sehr gute Fragen! Das hat alles miteinander zu tun. Alles dreht sich um diese Frucht. Sie heißt Noctarine.” Sie griff in das Gras rechts neben sich und holte eine dieser lila Früchte hervor. Aus gutem Grund habe ich immer welche in der Nähe. Aber sie schmecken auch gut.” Herzhaft biss sie hinein. “Ich kann dir leider keine anbieten”, fuhr sie mit vollem Mund dumpf fort, “aber keine Sorge, das hat ebenfalls einen guten Grund. Eine Noctarine wirkt für die nächste Wach- und Schlafphase. Für das, was ich dir zeigen will, musst du wieder noctarinennüchtern sein. Das bist du aber noch nicht, weil du ja bei unserer letzten Begegnung von der Noctarine abgebissen hast.”
Das fand ich schade, denn ich hätte gerne eine Noctarine gegessen. Den Geschmack hatte ich das letzte Mal nicht richtig wahrnehmen können, aber er war sehr vielversprechend gewesen.
“Also”, erklärte sie weiter, “jetzt aber alles der Reihe nach. Woher wusste ich, dass du aufwachst? Normalerweise seid ihr Leute aus Tagland für uns unsichtbar. Aber wenn man auch nur einen Bissen von einer Noctarine nimmt, sieht man euch. Wenn ihr aber langsam aufwacht, verblasst ihr. Genau wie euer Traum. Ganz einfach, siehst du?”
Ich nickte. Es war immer noch alles ganz und gar verrückt, aber plausibel. Aber eben total verrückt.
“Zur nächsten Frage”, sagte Kavyloqa, “Warum haben nicht schon viel mehr Leute etwas aus ihrem Traum mitgenommen, wenn sie schnell aufgewacht sind? Weil sie nicht von einer Noctarine abgebissen haben. Damit wäre auch deine dritte Frage beantwortet. Tadaaa! Alles klar?”
“Das muss ich erst mal verarbeiten.”
“Noctarinen haben aber noch mehr Effekte.”
Ich glaubte wirklich, dass ich nicht mehr weiter aufnahmefähig war. “Nein danke, ich brauche eine Pause”, sagte ich.
Wir sahen eine Weile auf das Meer hinaus. Ich sortierte meine Gedanken, Kavyloqa hingegen träumte vermutlich nur vor sich hin. Tat sie das wirklich? Kann eine erträumte Person in einem Traum träumen? Wenigstens einen Tagtraum? Unwillig, beinahe verzweifelt, wischte ich diesen Gedanken beiseite. Auf dem Meer bildeten sich leichte Schaumkronen. Kavyloqa seufzte. Ich war immer noch unschlüssig, ob ich nur träumte. Noch waren nicht alle Fragen beantwortet, aber ich hatte das vage Gefühl, dass sich allmählich ein Bild ergab. Erst unbewusst, dann aufmerksam fuhr ich mit der rechten Hand über den Felsen und ertastete seine Rauhheit, seine kleinen und größeren Erhebungen. Es wuchsen ein paar Flechten darauf. Ich kratzte an einer und hob den verwendeten Finger dicht vor meine Augen. Ein paar winzige Krümelchen von der Flechte hingen unterm Fingernagel. Nur ein paar, denn er war kurz. Ich hatte ihn vor zwei Tagen erst geschnitten. Nun senkte ich mein Gesicht über den Felsen und betrachtete die Flechte, an der ich gekratzt hatte.
“Das ist doch nur ein Felsen, du … du Clown!”, sagte Kavyloqa. “Da ist nur Eines besonders dran: Dass es mein Felsen ist!” Mit diesen Worten stieß sie mich hinunter. Ich kugelte ins Gras und blieb auf dem Rücken liegen. Sie lachte hell. Zwischen einigen Halmen, die mir über das Gesicht hingen, blinzelte ich in die hoch stehende Sonne. Ein Marienkäfer kletterte an einem der Halme hoch und erreichte dessen Ende. Ich schielte, um ihn zu erkennen. Er plumpste auf meine Nasenspitze, krabbelte ein Stück, und ich musste niesen.
“Gesundheit!”, wünschte Kavyloqa.
Ich bin wirklich hier.
Kavyloqa ließ mir Zeit, über alles nachzudenken, so wie ich erbeten hatte. Die Sachlage hatte ich, so wie sie mir erklärt worden war, verstanden. Natürlich gab es noch offene Fragen, aber ich wollte erst einmal über das Gelernte schlafen. Nein, wachen. In diesen … Stunden? ... auf dem Felsen war ich eher mit der emotionalen Anpassung an die Situation beschäftigt.
“Oh, du gehst ja”, bemerkte Kavyloqa, bevor ich es tat.
Ich fühlte den vertrauten Sog. Die Farben wurden stumpfer, die Sicht verschwommener. Kavyloqa hob eine Hand und bewegte sie langsam von einer Seite zur anderen.
Sie winkte.
Hin …
und her.
Ein Wabern in Wolken …
Es war Sonntag. Meine erste Handlung bestand darin, den Umschlag, die Fotos und den Kugelschreiber zu suchen und zu betrachten, um mich zu versichern, dass nicht doch alles ein Traum gewesen war. Aber alles war korrekt. Korrekt … ein seltsames Wort. Zwei Tage zuvor hätte ich es noch als unmöglich abgetan, dass ich eine Blechdose mit verzerrten Gegenständen aus einem Traum haben würde. Im Übrigen kam in mir der Gedanke auf, dass die Schlafphasen mittlerweile interessanter waren als die Wachphasen.
Diesmal erschien ich direkt neben dem Felsen, auf dem Kavyloqa saß.
“Hey, du wirst besser!”, begrüßte sie mich.
“Danke.”
“Ich hoffe, du hast gut gewacht. Heute wirst du fit im Schädel sein müssen. Du hast viel zu lernen.”
“Dann leg los.”
“Wir fangen am besten mit dem Noctarinen-Experiment an, das ich erwähnt hatte. Die Wirkung deiner ersten Noctarine ist nun verflogen. Nun sollst du erfahren, wie man Gegenstände transportiert. Weißt du, was ich meine?”
Ich nickte.
“Hier.” Sie reichte mir einen Gegenstand aus gebürstetem Metall, ähnlich einem Benzinfeuerzeug nach Zippo-Art. Auf einer der beiden großen Flächen war ein Vogel eingraviert. Auf der anderen war ein großer Knopf, der plan mit dem Metall abschloss. “Sieh es dir gut an. Dann schließ die Augen und versuche, es dir vorzustellen. In allen Details.”
Ich versuchte es, aber es wollte mir nicht befriedigend gelingen.
Sie nahm eine Noctarine aus ihrem Vorrat. “Nun, Tagländer, nimm hin diese Noctarine, die Kavyloqa dir in ihrer unendlichen Güte beschert. Nimm hin und sieh.” Mit gespielt feierlicher Geste reichte sie mir die Frucht. Endlich konnte ich mir Zeit nehmen, dieses Obst genau zu verkosten. Meine Zähne glitten fast mühelos durch die dünne samtige Schale, die eher wie eine Haut wirkte. Das Fruchtfleisch war rosa, zart und saftig. Die bekannte Zimtnote war nur eine Dreingabe zum herrlich weichen Orangenaroma. Es gab keine Bitternis oder Herbe in dieser Frucht. Ihr einziger elementarer Geschmack war eine unaufdringliche Süße.
“Nun”, sagte Kavyloqa, “schließ wieder die Augen und stell dir nochmal dieses Gerät vor.”
Und ich sah.
Es war, als würde ich es mit unstofflichen Tentakeln meines Geistes halten und ertasten. Es bedurfte keiner Anstrengung mehr, jedes Detail wahrzunehmen. So wie es keiner Anstrengung bedarf, einen leichten Gegenstand auf der Handfläche liegen zu lassen. Ich merkte, dass ich mich bewusst dazu hätte entscheiden können, das Gerät loszulassen, indem ich meinen Geist unter ihm wegzog. Natürlich tat ich dies nicht.
Die Augen immer noch geschlossen, hörte ich Kavyloqas Stimme: “Was steht auf dem Boden dieses Gegenstandes?”
”Von deinem Vater”, sagte ich. Dabei hatte ich den Boden noch gar nicht mit offenen Augen gesehen!
“Volle Punktzahl. In diesem Zustand könntest du das Ding mit in deine Welt nehmen. Als ich dich vom Kliff gestoßen habe, warst du noch nicht soweit.
Ich öffnete die Augen und gab es ihr zurück. “Du redest von meiner Welt. Was ist das hier für eine?”, fragte ich.
“In der Natur hat alles zwei Seiten. Und alles ist komplementär. So wie Ebbe und Flut, rechts und links, Elektronen und Positronen. Dies ist die Welt, in der du und alle anderen Menschen deiner Welt im Schlaf erscheinen.”
“Wir träumen nur. Jeder ist in seiner eigenen Welt.”
“Ja und nein. Es ist eigentlich eher so: Ein Tagländer – das sind Leute wie du – erscheint hier, wenn er träumt. Aber er weiß normalerweise nichts davon. Er träumt seine eigenen Sachen und schlafwandelt sozusagen bei uns. Wenn er vom Kampf gegen einen Drachen träumt, schlägt er wild um sich und kann einiges kaputt machen, falls er zum Beispiel in einer Wohnung auftaucht. Er kann auch auf der Flucht vor einem imaginären Monster sein und durch Blumenbeete und Buffets laufen. Es ist furchtbar. Außerdem können wir euch nur sehen, wenn wir Noctarinen essen.”
“Aha. Und anders herum? Wenn ihr schlaft?”
“Dann erscheinen wir bei euch.”
Ich erinnerte mich an die spukhafte Erscheinung in meiner Wohnung. “Dann habe ich einen gesehen!”, rief ich aus. “Gestern in meiner Wohnung! Ich hatte schon befürchtet, ich wäre verrückt geworden.”
“Du konntest ihn sehen, weil die Noctarine noch gewirkt hat.”
Mir fielen auch die zwei Gestalten im Park ein, die ich für Betrunkene gehalten hatte. Vielleicht waren auch sie Besucher aus dieser Welt gewesen.
“Aber warum”, fragte ich, “hat er nichts kaputt gemacht? Er hat nichts, überhaupt nichts, berührt. Er war wie ein Geist.”
“Warum das so ist, kann ich dir auch nicht sagen. Das ist der einzige Unterschied zwischen Tagländern und uns. Wir können mit eurer Welt nicht interagieren, ihr aber mit unserer. Einer alten Geschichte zufolge erstrahlte einst ein ursprüngliches Licht, das eure Welt erfüllte, welche ihrerseits unsere als bloßen Schatten warf. Und weil wir eure Welt, die in Licht getaucht wurde, deswegen Tagland nennen, heißt unsere Welt -”
“Nachtland.”
“Genau.”
“Warum laufen hier nicht lauter Tagländer rum? Du hast doch gesagt, sie seien eine Plage.”
“Tja, genaugenommen war das nur früher so. Bis mein Vater die Attraktoren gebaut hat, die durch ihre Anziehung dafür sorgen, dass alle Tagländer an einem bestimmten Ort erscheinen. Im Hyperkubus.”
Die Bedeutung dieser Worte glaubte ich ausreichend genau zu verstehen, als dass mir dieser Hyperkubus jetzt schon unheimlich war. Aber hätte ich dort nicht erscheinen müssen? “Warum bin ich nicht im Hyperkubus gelandet?”, fragte ich.
“Weil ich einige Bauteile … entwendet habe, um meinen eigenen kleinen Attraktor zu bauen.” Sie zeigte auf ein Gerät an ihrem Gürtel. Ich erinnerte mich daran. “Damit lockst du mich an?”
“Sagen wir mal, ich geleite das Unbewusste träumender Tagländer hierher. Aber wie ich schon erwähnt hatte, ich musste Monate warten, bis einer wie du kam, der diese Welt wahrgenommen hat. Wir nennen es Meta-Luzidität und es ist recht selten. Gegen die großen Attraktoren kommt meiner kaum an.”
“Jetzt klappt es doch immer.”
“Weil du luzide wurdest und ich dafür Sorge getragen habe, dass dieser Ort sich dir eingeprägt hat. Alleine, ohne mein Gerät, würdest du es trotzdem nicht schaffen, glaub mir. In der Stadt gibt es einen Bereich, in dem niemals Schnee liegt, weil die Attraktoren im Untergrund viele Megawatt Abwärme produzieren. Die sind monströs.”
“In der Stadt?” Warum ich so überrascht war, wusste ich eigentlich nicht. Selbstverständlich musste es so etwas geben. Kavyloqa sah nicht aus wie eine Höhlenbewohnerin oder gar Obdachlose.
“Klar. Wo sonst?”
“Ich weiß nicht. Mir kam es nur immer so unberührt vor. Alles hier.”
“Die wahre Hochtechnologie ahmt die Natur nach. Ihr Tagländer seid noch in einer sehr frühen und dreckigen Phase. Du wirst ja sehen, wie es bei uns ist, wenn wir in die Stadt gehen.”
Mit diesen Worten nahm sie das Gerät, dass ich mir unter dem Einfluss der Noctarine eingeprägt hatte, und drückte den Knopf darauf. Ich erwartete angespannt, dass wir in die Stadt gebeamt würden. Nachdem jedoch nichts geschah, beschloss ich, erst einmal abzuwarten, ehe ich eine blöde Frage stellen würde. Einen Blick in Richtung Kavyloqa, der meine Gedanken anscheinend verriet, konnte ich mir jedoch nicht verkneifen. Sie lächelte nur überlegen zurück. Dann richtete sie ihre Augen auf einen Punkt im Himmel vor ihr. Ich versuchte zu erkennen, was es dort zu sehen gab. Ein kleiner Lichtpunkt blitzte kurz auf. Für ein paar Momente geschah nichts weiter. Dann sah ich einen beständigen Lichtpunkt. Während er näher kam, begann ich zu erkennen, dass er eine bloße Reflektion des Sonnenlichts auf irgendetwas war. Aus dem einen großen Lichtpunkt wurden viele kleine flimmernde. Trotzdem konnte ich noch nicht erkennen, um was für ein Objekt es sich handelte. Kavyloqa und ich mussten unsere Köpfe mittlerweile fast in den Nacken legen, denn das fliegende Etwas hatte seine Flughöhe noch nicht verringert. Doch dann kam es so rasant näher, dass ich es bis wenige Meter über dem Erdboden nicht erkennen konnte. Mit einem peitschenartigen Knall breitete es blitzartig silberne Flügel aus und verringerte so auf kürzester Strecke seine Geschwindigkeit. Es sah aus wie ein Falke aus Silber, der sich nun mit dosiertem Flattern seiner Schwingen auf Kavyloqas ausgestrecktem Unterarm niederließ. Er hatte nicht die Klauen eines gewöhnlichen Falken, sondern Greifer, die wie aufgeklappte Armreife aussahen. Diese bestanden aus verschachtelten Elementen und schmiegten sich perfekt an, als sie sich schlossen.
“Bastian, das ist Sirius”, sagte Kavyloqa. “Sirius, das ist Bastian.” Sie wies dabei auf mich. Der Falke wandte seinen Kopf zu mir und sah mich aus giftgrünen, buchstäblich leuchtenden Augen ohne Pupillen an. “Sirius ist natürlich ein Roboter”, merkte Kavyloqa an. “Also, falls du es noch nicht gemerkt hast.” Ein bisschen Stolz schwang in ihrer Stimme mit. “Er ist mein Auge hoch oben im Himmel. Seine Aufgabe ist es, mich zu warnen, falls sich jemand nähert. Denn eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Jetzt, wo wir zu Stadt gehen, schone ich seine Energie lieber.” Sie strich dem Vogel über den Rücken und sagte: “Sirius, Code Lila sieben.” Unter vielfachem Summen und Surren verdrehte und knickte Sirius seine Gliedmaßen auf eigentlich unmögliche Weise und faltete sie in Richtung Körpermittelpunkt. Seine segmentierte Bauchdecke breitete sich nach oben aus und fuhr über seinen ineinander verschobenen Teilen kompakt zusammen. Am Ende der Prozedur hatte Kavyloqa nur noch zwei Armreife, die über eine Box verbunden waren, die etwa so breit und doppelt so lang wie eine Zigarettenschachtel war. Diese Box hatte kaum wahrnehmbare Spalten und Andeutungen von Scharnieren. Aber so, wie sie an Kavyloqas Unterarm befestigt war, hätte man sie durchaus für ein gewagtes, modernes Schmuckstück halten können.
“So etwas habe ich noch nie gesehen”, sagte ich.
“Kannst du ja auch nicht.”
“Gehen wir nun zur Stadt?”
“Natürlich. Folge mir.”
Unser Weg ging bergab und führte uns von der Steilküste fort. Wir benutzten keinen sichtbaren Pfad, sondern liefen über die unberührte Wiese. Nach einigen Minuten fing Kavyloqa an zu rennen und rief mir zu: “Da, hinter den Bäumen!”
Ich rannte hinterher. Zuerst sah ich nichts. Doch als wir durch die Bäume hindurchtraten, die nur in zwei Reihen standen, eröffnete sich mir der Blick auf ein flaches und weitläufiges Tal. Menschen flanierten dort auf weißgepflasterten Wegen, zwischen niedrigen Wohngebäuden. Es gab aber noch eine andere Art von Gebäude, die ich nicht einordnen konnte, und die weitaus höher war. Diese Bauwerke schienen hauptsächlich aus Glas zu bestehen und waren Pilzen ähnlich.
Kavyloqa bemerkte meinen nach oben gerichteten Blick und erklärte: “Das sind unsere Sonnenlichtkollektoren. Sie leiten das Licht in den Untergrund, wo unsere Transportwege verlaufen. Also der Personennahverkehr.”
Mir fiel auf, dass tatsächlich kein einziges Fahrzeug sichtbar war. Ich schloss die Augen und lauschte. Ein Vogel zwitscherte. Kavyloqa atmete noch etwas schwerer vom Rennen und ein Zweig zerbrach hörbar unter ihren Füßen. Ich öffnete die Augen wieder. “Weißt du, wie sich Städte bei uns anhören? Und wie sie riechen?”
“Die dreckige Phase”, sagte Kavyloqa nur und nickte. “Aber eure Städte sind auch wesentlich größer. Hier in Nachtland gibt es nicht viele Menschen.” Sie packte mich an den Schultern und sah mir eindringlich in die Augen. “Hör gut zu. Keiner außer mir kann dich hier sehen. Jedenfalls sollte es so sein, weil der Noctarinenkonsum ja verboten ist. Aber man kann dich hören, und du könntest mit Leuten zusammenstoßen, wenn du nicht aufpasst. Ich werde oft so tun müssen, als wärst du nicht da.”
“Soll das heißen, wir gehen jetzt in die Stadt?”
“Ja, aber das ist nicht unser eigentliches Ziel.”
“Was denn dann?”
“Der Hyperkubus.”
Obwohl die Stadt für ihre Einwohnerzahl sehr großzügig ausgebaut war, gab es einige Situationen, in denen ich nur knapp einem Zusammenstoß mit einem Fußgänger entging. Erst auf diese Weise wurde mir bewusst, wie sehr wir Menschen zumindest in dieser Hinsicht aufeinander achten. Solange Kavyloqa und ich schnell gingen, konnten wir ziemlich sicher sein, dass mir keiner in den Rücken rannte, aber sobald wir irgendwo standen, drückte ich mich an die Wand oder in Ecken. Ich konnte meine Augen nicht überall haben. Obwohl ich das in dieser Stadt gerne gehabt hätte. So konnte ich den Blick nicht von dem weinroten Tier wenden, das von einer dicken Frau spazieren geführt wurde. Kavyloqa bemerkte dies und sagte:
“Sofakatzen lassen sich eigentlich nicht gern an der Leine führen. Sind eher gemütliche Wohnungstiere.” Wann immer sie mit mir redete, tat sie dies möglichst unauffällig und aus dem Mundwinkel. “Siehst du, wie die seitlichen Felllappen über den Rücken gefaltet werden mussten? Für draußen sind diese Tiere wirklich nicht geeignet.” Noch bevor ich mich angemessen darüber wundern konnte, bemerkte ich ein anderes Wesen, das ebenfalls mit seinem Besitzer herumlief. Stumm wies ich mit dem Zeigefinger darauf. Kavyloqa verstand. “Das ist ein Reiseschwein. Vermutlich kommt der Mann gerade vom Bahnhof.” Wir liefen nach wie vor in hohem Tempo. “Du findest das alles sehr wundersam, stimmt’s?”
Ich nickte nur, weil ich nicht die richtigen Worte fand. Vielleicht aber auch, weil ich angestrengt über den Zweck eines karierten Schweins auf einer Reise nachdachte.
“Ich finde eure Welt auch wundersam”, sagte Kavyloqa. “Ich studiere sie geradezu und weiß bestimmt mehr darüber als du.”
“Das erscheint mir als eine gewagte Behauptung.”
“Du hast ja keine Ahnung!” Sie lachte. “Lass uns noch kurz zu mir nach Hause gehen. Da zeig ich dir was.”
So liefen wir noch einige Minuten, bogen zweimal ab, liefen wieder ein Stück, bis Kavyloqa mir bedeutete, dass wir ihr Haus erreicht hatten. Es war so unauffällig und klein wie fast alle Gebäude hier. Die Tür glitt lautlos auf, nachdem Kavyloqa sie wie beiläufig berührt hatte. Die Wände waren innen so weiß wie außen. Obwohl nahezu jegliche Einrichtung im Inneren fehlte, wie mir ein Blick in eine Art Wohnzimmer verriet, schien es irgendwie behaglich.
“Hier ist mein Privatraum.” Sie wies einladend in einen Raum, der lediglich ein schmales Regal mit diversen Gegenständen und ein Piano enthielt. Sie malte mit einem grünen Lichtpunkt lässig ein L auf den Boden, obwohl ich nicht sehen konnte, dass sie einen Laserpointer hielt. “Setz dich doch, bitte.”
Ein weißer Kunststoffsessel fuhr nahtlos aus dem Boden.
“Das ist im Prinzip einfacher 3D-Druck”, sagte Kavyloqa. “Nur sehr schnell. Außerdem kann der Kunststoff auf verschiedenste Art ausgehärtet werden, auch innerhalb eines Objekts. Du kannst auch einen harten Hocker haben, wenn du willst.”
“Nein danke, das ist schon in Ordnung so.” Vorsichtig ließ ich mich auf das Sitzmöbel nieder. Der Sessel trug mich problemlos und ich konnte spüren, dass er unter der weichen Oberfläche einige härtere Stützstrukturen hatte. Eine Geste Kavyloqas auf die Wand ließ diese sich auf einer breiten Bahn öffnen. Es standen Bücher darin.
“Einfache Bücher”, sagte ich. “Kaum zu glauben.”
“Ja, dieser Schrank enthält immer meine aktuell meistgelesenen Bücher.”
“Ah. Also doch nicht so einfache Bücher, nehme ich an.”
“Wir können sehr schnell Dinge produzieren und wiederverwerten. Hast du ja gesehen.”
Sie zeichnete eine Art Q auf den Boden rechts neben meinem Sessel. In wenigen Sekunden wuchs dort ein einbeiniger, runder Tisch. Dann ging sie zu den Büchern – sie sahen alle aus, wie geklonte weiße Taschenbücher, die sich nur im Titel unterschieden – nahm drei heraus und legte sie mir auf den Tisch. “Die sind cool.”
Ich griff mir eines, wobei ich feststellen musste, dass es sich irgendwie gummiartig anfühlte, und las den Titel.
Zu Lande, zu Wasser und in der Luft – Mobilität in Tagland
Das nächste war beschriftet mit:
“Ich bin der verschollene Sohn deines Schwiegersohnes, gib mir Geld” – Die fiesen Tricks der Tagländer
Kavyloqa räusperte sich. Aber ich verkniff mir jede Reaktion und las den letzten Titel:
Der kleine Prinz
“Das kenne ich”, sagte ich.
“Es ist nicht leicht, so etwas wortgetreu aus Tagland zu kopieren. Wir können nichts aus Tagland mitnehmen. Aber es gibt Leute, luzide Gelehrte, die sich bei ihrer Anwesenheit in Tagland so viel wie möglich merken. Nur, weil Der kleine Prinz in Schulen so oft gelesen wird, konnten wir den Text nach und nach zusammentragen.”
Wieder einmal fragte ich mich, wie real dies alles sein konnte. Es war völlig verrückt, was ich da erfuhr. Meine innere Anspannung war kaum zu ertragen, als ich das Buch aufschlug, um es zu überfliegen. Tatsächlich stimmte der Text auf den ersten Blick mit meiner Erinnerung überein, auch wenn ich ihn nicht wortwörtlich kannte. Da waren der Affenbrotbaum, der Hut, der Fuchs und viele andere Dinge, die mir vertraut waren. Nur die Zeichnungen waren trotz aller Ähnlichkeit eindeutig nicht die originalen von Saint-Exupéry. Aber das konnte man den nachtländischen Forschungsreisenden kaum anlasten. In dem Wissen, dass Kavyloqa das Buch gut kennen musste, rezitierte ich seine wohl bekanntesten Worte aus dem Gedächtnis: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.” Vermutlich erwartete ich irgendeine Art der Zustimmung. Stattdessen wirkte Kavyloqa plötzlich nachdenklich. “Hm. Mit diesem Satz habe ich mich nie anfreunden können. Wenn ich das Wesen von etwas ergründen will, benötige ich meinen Verstand. In dem Sinn ist es für die Augen wirklich unsichtbar, ja. Vielleicht merkt man an dem Satz auch, dass es in Tagland keine Noctarinen gibt.”
“Naja, aber irgendetwas ist doch dran an der Aussage.”
“Je mehr ich diese Worte überdenke, desto absurder erscheinen sie mir. Man sieht nur mit dem Herzen gut. Nur! Das hat so etwas Ausschließliches. Wir wissen doch beide, dass das nicht stimmt.”
So hatte ich das noch nie gesehen. “Wenn ich so drüber nachdenke … da bin ich geneigt, dir Recht zu geben.”
“Siehst du? Und hast du das jetzt mit dem Herzen oder dem Hirn gesehen?”
“Touché!”, bestätigte ich grinsend. Ich nahm mir vor, das Wesentliche dieses Satzes später nochmal selbst zu ergründen, indem ich gründlich darüber grübelte. Aber falls er wahr sein sollte, wäre genau dies der falsche Weg. Verdammt. Was hatte sich Saint-Exupéry eigentlich dabei gedacht?
“Hey, bist du noch bei mir? Die Lesestunde ist beendet. Wir wollen doch noch zum Hyperkubus.”
Kaum war ich aufgestanden, veranlasste Kavyloqa auf mir schleierhaftem Wege, dass der Sessel sich zu einer Pfütze auflöste, die vom Boden absorbiert wurde. Den Tisch mit den Büchern ließ sie stehen. Wir verließen das Haus und schlugen den Weg Richtung Hyperkubus ein.
Das Bewundern dieser Stadt ließ mir die Zeit kurz erscheinen, bis Kavyloqa sagte: “Wir sind da.”
Wir standen vor einem kleinen Haus.
“Aber hier ist ni -”, begann ich. Der Boden unter meinen Füßen fuhr unvermittelt senkrecht nach unten. Es war eine recht große Fläche von etwa vier Metern Kantenlänge.
“Dies ist der Lieferaufzug”, erklärte Kavyloqa. Bereits nach einigen Sekunden wurde die Plattform mit einem leisen Surren langsamer. In einer Richtung eröffnete sich ein niedriger, schwach beleuchteter Gang. Kavyloqa ging vor, blieb dann aber stehen. “Wir sind nun etwa fünfzig Meter unter der Oberfläche”, sagte sie sehr leise. “Dieser Gang führt zu den Attraktoren und dem Hyperkubus. Wir müssen jetzt gaaaanz heimlich sein. Ich habe den Zugangscode eigentlich nur für Notfälle. Ab jetzt kein Wort mehr. Es hallt hier.” Sie zog die Stiefel aus und bedeutete mir, das Gleiche mit meinen Schuhen zu tun. Auf Strümpfen setzten wir unseren Weg lautlos fort. Je weiter wir kamen, desto stärker fühlte ich eine leichte Vibration, wie ein Brummton knapp unterhalb der hörbaren Frequenz. Es wurde außerdem etwas wärmer. Schließlich gelangten wir zu einer zweiteiligen Metalltür mit Bullaugen. Kavyloqa sah hindurch und prüfte den dahinter liegenden Raum. “Die Luft ist rein. Aber trotzdem leise reden”, sagte sie. Routiniert gab sie auf einer kleinen Tafel einen Code mit über zehn Stellen ein. “Kleiner Beitrag zur erhöhten Sicherheit. Der erste Teil der Identifizierung läuft über einen subkutanen Funkchip.” Nun trat sie an eine Linse heran, die fast nahtlos in die Wand eingelassen war und öffnete vor ihr weit den Mund. Einen kurzen Moment später konnte man ein bestätigendes Piepen hören, woraufhin Kavyloqa den Mund wieder schloss. “Das war der Uvula-Scan.”
“Uvula?”
“Na, das Würmchen, das bei dir hinten im Rachen runterhängt. Das innere Gewebe davon ist bei jedem Menschen anders aufgebaut.”
“Verrückt.”
“Ich zeig dir gleich was Verrücktes.” Die beiden Hälften der Tür glitten elektrisch vor Kavyloqa auf. Wir betraten den Raum, der den Hyperkubus beherbergte. In der Mitte des Raums stand ein hüfthohes, quaderförmiges Podest aus einem schwarzen, glänzenden Material. Darüber schwebte ein walnussgroßes Objekt, das anscheinend das räumliche Äquivalent zu weißem Rauschen war. Aus der Decke in etwa zehn Metern Höhe ragten drei Geräte, die wie riesige Strahlenwaffen aussahen und auf das seltsame Objekt gerichtet waren. Sie endeten nur wenige Zentimeter über diesem. Kavyloqa wies mit offener Hand darauf. “Hiermit präsentiere ich den Hyperkubus, die vorübergehende Heimat für alle Träumenden deiner Welt.”
“Wie passen sie da rein? Der ist doch viel zu klein. Und wie ein Würfel sieht das auch nicht aus.”
“Der Hyperkubus hat einige tausend – jawohl, tausend! – Dimensionen. Da ist genug Platz drin. Mehr als in diesem Universum. Wir sehen hier nur einen Ausschnitt, der Rest dehnt sich in höheren Dimensionen aus.”
“Das kapier ich nicht.”
“Fangen wir ganz unten an. Jeder Träumer wird entsprechend der Merkmale seines Traums im Hyperkubus platziert. Aber stellen wir uns erstmal vor, die Träumer wären Bücher.”
“Wie du meinst.”
“Du könntest für eine Büchersammlung einen Graphen zeichnen, der nur aus einer Linie besteht. Die Linie repräsentiert die Jahre 1950 – 2000. Für jedes Buch könntest du einen Punkt dort machen, wo sein Veröffentlichungsjahr liegt. Klar?”
“Klingt einleuchtend.” Es war wirklich ganz einfach, dachte ich. Aber Kavyloqa fuhr fort.
“Nun fügst du eine zweite Dimension hinzu. Darauf sind die Seitenzahlen aufgetragen. Von 1 bis 1800. Du kannst deine Bücher also auf einer zweidimensionalen Fläche platzieren.”
Ich ahnte, worauf es hinauslaufen würde. “So ist es”, sagte ich.
“Gut, gut. Dann fügen wir unserem Graphen eine dritte Achse hinzu. Sie repräsentiert die Anzahl der gedruckten Auflagen. Die kann natürlich auch größer werden, so dass sich das Buch auf dieser Achse bewegt. Wir wählen den Wertebereich so groß, dass alle Bücher reinpassen. Wir könnten ihn auch relativ definieren, so dass das Buch mit der höchsten Anzahl gedruckter Exemplare immer am oberen Ende dieser Achse ist. Dann würden sich nur die anderen Bücher bewegen. Aber das ist unerheblich, ich schweife ab.”
“Soweit kann ich folgen.”
“Super! Wir fügen nun eine vierte Achse hinzu.”
“Okay.”
“Hmmm, was nun? Wir könnten die Bücher noch nach der Anzahl der Bilder einordnen.”
“Aber es gibt viele Bücher, die gar keine Bilder haben. Würden die nicht zusammenstoßen?”
“Vergiss nicht die anderen drei Achsen. Dadurch wird diese Wahrscheinlichkeit schon sehr verringert. Und auch die Achse für die Bilderanzahl verringert nur die Wahrscheinlichkeit einer Kollision. Der vierdimensionale Würfel, den wir nun erhalten, hat als Oberfläche gewöhnliche Würfel. Seine Oberfläche hat also ein Volumen.”
“Oweh.”
“Naja, der Hyperkubus beherbergt keine Bücher, sondern Träumende. Und er hat für jeden einfach quantifizierbaren Aspekt des Traumes eine Dimension. Für die Freude, die Angst, die Skurrilität, den Hunger, den Baumbewuchs, die Laufgeschwindigkeit, die Flugfähigkeit, und so weiter. Aus den entsprechenden Werten ergibt sich die Position des Träumenden im Hyperkubus.”
“Und wie viel Platz ist da drin?”
“Aus unserer Sicht: unendlich viel. Allein schon durch die Anzahl dreidimensionaler Würfel, die Teil des Hyperkubus sind, ergibt sich ein unvorstellbares Volumen. Die Formel zur Berechnung, wie viele m-dimensionale Würfel ein n-dimensionaler Würfel enthält, lautet folgendermaßen …” Sie tippte etwas in ihre Handfläche, ohne dass ich erkennen konnte, was dies bedeuten sollte. Daraufhin projizierte sie mit einem unauffälligen silbernen Ring am Zeigefinger etwas auf den Boden zu unseren Füßen. In grünen, leicht flimmernden Zeichen stand dort:
(2^(n-m)) n! / (m! (n - m)!)
“Du kannst ja mal Drei für m und Tausend für n einsetzen, um die Anzahl dreidimensionaler Würfel zu bekommen. Mit der Kantenlänge drei Millimeter erhältst du dann das, was wir Volumen nennen.”
“Jetzt?”
“Nein, wenn du mal Zeit hast. Oder nimm n gleich Drei und m gleich Zwei oder Eins. Dann erhältst du die Anzahl der Flächen respektive Kanten eines gewöhnlichen Würfels. Nur zum Nachprüfen.”
Statt die Formel im Kopf zu wälzen, trat ich näher an den Hyperkubus heran. “Für mich sieht das aus wie chaotisches Flimmern. Nicht wie ein Würfel.”
“In Wirklichkeit dreht er sich um mehrere Achsen. Das führt zu Verformungen, die uns unmöglich erscheinen. Viele seiner sichtbaren Bestandteile überlappen sich außerdem aus unserer Sicht.”
Kaum hatte Kavyloqa ihren Satz beendet, vernahmen wir das Geräusch von sich nähernden Schritten.
“Oh nnngh …” Kavyloqa musste sich fast sichtlich auf die Zunge beißen, um ein Fluchen zu unterdrücken. Sie bedeutete mir mit hektischen Gesten, still zu sein und mich nah an die Wand zu begeben.
“Kavyloqa!” erscholl eine wütende Stimme, deren Besitzer gleichzeitig aus einem anderen als dem von uns gewählten Eingang zur Hyperkubus-Kammer gelaufen kam. “Kavyloqa!”, wiederholte er noch einmal, als er vor ihr stand, “Da steckst du also. Und ich weiß auch, warum du dich in letzter Zeit rar machst. Die Bauteile, die ich schon seit langem vermisse, sind nicht rein zufällig …”, er zeigte auf den kleinen Attraktor an Kavyloqas Gürtel, ”da drin?!”
Kavyloqa legte ertappt und erschrocken die Hand auf das Gerät, als wolle sie es schützen. “Meine eigene Tochter.” Der Mann schüttelte den Kopf. Ich war verwundert über seine letzte Bemerkung, weil er selber nur wenig älter als Kavyloqa schien.
“Vater, du verstehst nicht, wie wichtig -” Ein schneller Griff ihres Vaters wischte ihre Hand beiseite und riss den Mini-Attraktor vom Gürtel. Er besah ihn sich, und für einen Moment verflog der Zorn aus seinem Gesicht. “Es ist sehr beachtlich, dass du so etwas bauen konntest. Bei Sirius musste ich dir noch helfen.” Nun wirkte Kavyloqa noch einen Hauch schuldbewusster.
Von deinem Vater – diese Worte erschienen vor meinem geistigen Auge.
Beiläufig warf der Mann das Gerät hinter sich auf den Boden, während er mit der anderen Hand wütend auf Kavyloqa deutete und sagte: “Das ist verdammt gefährlich. Nicht nur für dich oder uns. Du hast auch Tagländer gefährdet. Das solltest du wissen. Und aus welchem Notfall heraus befindest du dich eigentlich hier?”
“Ich … wollte nur den Hyperkubus sehen.”
Obwohl ich wusste, dass ich nur für Kavyloqa sichtbar war, schien es mir, als würde mich der Blick ihres Vaters nicht ganz zufällig streifen.
“Soso”, sagte er. Hinter ihm kam ein tonnenförmiger Roboter angefahren, griff den kleinen Attraktor und rollte damit aus der Kammer. Kavyloqa rührte sich nicht von der Stelle, aber ihr Blick folgte ihm mit großer Verzweiflung. Von ihrem Vater schien hingegen eine kleine Last abzufallen. “Du bist von Tagland besessen und du spielst mit dem Feuer. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich hatte gehofft … Geh nach Hause. Wir reden später.”
Kavyloqa holte tief Luft. Sie sah in die Richtung, in die der Roboter verschwunden war. “Aber”, setzte sie an. Ihr Vater unterbrach sie. “Nein! Es ist Schluss! Geh endlich!”
Für einen Moment spannte sich Kavyloqa an, aber dann verließ sie sichtbar die Kraft. Sie wandte sich um und rannte hinfort. Ich wollte ihr gerade folgen, da packte mich ihr Vater an der Schulter. Die Ausgangstür öffnete und schloss sich hinter Kavyloqa. Nun sah er mir direkt in die Augen. “Auch ich gönne mir zuweilen eine gewisse Frucht”, raunte er. “Aber was erzähle ich dir. Dies ist nur ein Traum. Du wirst bald aufwachen. Nur ein Traum.” Er ließ mich los. Ohne einen Augenblick zu zögern, begann ich zu rennen, um Kavyloqa einzuholen. Ich erreichte sie kurz vor der Aufzugsplattform. Ohne, dass weitere Worte nötig gewesen wären, griff ich meine Schuhe und sie ihre Stiefel. Erst beim Hochfahren zogen wir unsere Fußbekleidung an. Es war wie eine überstürzte Flucht. Kavyloqa standen Tränen in den Augen und ihre Lippen waren zusammengepresst. Sie zog einen Teil ihres Kleids nahe der Schulter hoch und wischte sich damit umständlich übers Gesicht. Zwei Tränen purzelten wie Glasperlen über einige Falten, dann zum unteren Saum und plitschten auf den Boden. “Wasserabweisend und antihaftbeschichtet”, sagte sie, wobei sie für einen Moment säuerlich schmunzelte.
“Er hat mich gesehen”, sagte ich.
“Waaas?! Das heißt … dieser … dieser … ”
“Ist das schlimm?”
Sie machte eine impulsive Bewegung, als wollte sie mich an den Schultern packen, hielt dann aber inne, als hätte sie Angst, etwas zu zerbrechen.
“Neinneinnein. Es ist alles in bester Ordnung. Verstehst du mich? Dir kann nichts passieren. Du darfst nur nicht aufwachen, also ruhig Blut. Ganz ruhig.”
“Ich verstehe.” Es dämmerte mir erst in dem Moment.
“Falls du jetzt aufwachst, war’s das. Der Attraktor ist für immer verloren. Wie fühlst du dich?”
Ich sah an mir herab und tastete meine Arme ab. “Ganz gut. Ziemlich solide.”
“Gut. Bleib so.” Sie machte eine beschwichtigende Geste mit beiden Händen in meine Richtung. Unser Aufzug hatte schon längst den Erdboden erreicht. “Wir müssen hier weg”, sagte sie. “Weg vom Trubel der Stadt und dahin, wo es angefangen hat. Das wird dich hoffentlich etwas stärker binden. Zurück zur Steilküste. Kannst du rennen?”
“Ich denke schon.”
“Dann los!”
Wir erreichten das Kliff in der Abenddämmerung. Die meisten Sterne waren bereits sichtbar. “Das war dein Vater? Wie alt ist er?”, fragte ich, noch etwas außer Atem.
“312. Aber sein biologisches Alter ist 27, das hat dich vielleicht verwirrt. Wer 36 ist, bekommt eine Gentherapie, die ihn auf das biologische Alter von sechzehn setzt.”
“Ihr sterbt niemals am Alter?”
“So ist es. Und genau deshalb konnten große Wissenschaftler wie mein Vater erst ihre Leistungen vollbringen. Es gibt Erkenntnisse, für die man zweihundert Jahre braucht, weil man das notwendige Wissen erst lernen und tief verinnerlichen muss. Vorher kann man die Zusammenhänge nicht erkennen.”
“Und wie alt bist du?”
“Ich habe erst eine Gentherapie hinter mir. Du solltest wissen, dass niemand vor seinem zweihunderfünfzigsten Lebensjahr überhaupt Kinder bekommen darf.”
“Oh.”
“Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, über diese Dinge zu sprechen.” Kavyloqa pflückte eine Noctarine von einem nahen Baum und hielt sie mir hin. “Nimm diese Noctarine.”
Ich nahm sie.
“Du sollst davon essen.”
Ich biss hinein.
“Gut. Und nun wirst du erstmals etwas sauber und wohlbehalten nach Tagland transportieren.”
“Was?”
“Mich.”
Für einen Moment dachte ich, ich würde jetzt augenblicklich aufwachen und nur dieses letzte Wort würde mir noch im Kopf nachhallen. Mich. Ich gewann meine Fassung wieder und sagte das Erste, was mir in den Sinn kam, weil es mir wichtig erschien: “Bei uns gibt es keine solche Gentherapie.”
“Ich weiß. Aber mein Vater hat wohl Recht. Ich spiele mit dem Feuer.”
“Bist du sicher, dass du mitkommen willst?”
“Ich bin fasziniert von Tagland und habe alles darüber gelernt. Weißt du was im Vergleich dazu hier passiert? Nichts! Alles stagniert, die Entwicklung ist am Ende. Und versuche nicht, mich davon abzubringen. Ich würde es hier in Nachtland eine Ewigkeit bereuen, wenn ich diese Möglichkeit verpassen würde.” Sie klopfte auf den zusammengefalteten Roboterfalken an ihrem Arm. “Der heißt ja auch nicht umsonst Sirius. Benannt nach einem eurer Sterne. Unsere Entsprechung ist da.” Sie zeigte in den Himmel. “Fällt dir was auf?”, fragte sie, während ich noch nach dem hellen Sirius suchte.
“Nein, warum?”
“Dann sieh mal dorthin. Zum Großen Wagen.”
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich es bemerkte. “Die Sternbilder sind gespiegelt!”
“Sie sind spiegelbildlich zu denen von Tagland, ja. Ich war auch erst baff, als ich die ersten Zeichnungen aus eurer Welt gesehen habe. Muss mit der Entstehungsgeschichte zu tun haben. Und ich werde alles darüber erfahren. Keine Zeichnungen und Abschriften mehr.”
“Und wie wollen wir den Transport nun bewerkstelligen?”
“Du erinnerst dich an die Trockenübung mit der Noctarine und dem Rufmodul von Sirius? Das müsste eigentlich schon reichen. Du hast deine Noctarine bekommen und weißt sehr gut, wie ich aussehe. Nimm meine Hand.”
Ich ergriff ihre Hand mit meiner Rechten.
“Nun schließ die Augen und visualisiere mich.”
Ihrer Anweisung folgend, schloss ich die Augen. Mühelos entstand ein genaues Abbild Kavyloqas in meinem Geist. Es blieb bestehen, ohne dass es weiterer Anstrengung bedurft hätte. “Es klappt”, sagte ich. Die Augen immer noch geschlossen haltend, merkte ich, wie Kavyloqa langsam zu gehen begann und mich mit sich zog.
“Dann musst du nun nach Tagland zurückkehren. Aber du musst beim Übergang, der möglichst kurz sein sollte, mein Bild aufrecht erhalten!” Ich fühlte, wie ihr Händedruck fester wurde. “Ich will nicht verzerrt werden!”, sagte sie mit einem leichten Beben in der Stimme. “Versprich es mir. Konzentriere dich!”
Schaudernd dachte ich einen Moment an die verzerrten Gegenstände: den Umschlag, den Kugelschreiber und die Fotos.
Ein Ruf erscholl hinter uns: “Kavyloqa!”
Verwundert öffnete ich die Augen und sah hinter mich. Es war ihr Vater, der auf uns zugerannt kam.
Nun geschah alles sehr schnell. Ich bemerkte, dass Kavyloqa mich ganz an den Rand des Kliffs geführt hatte. Ohne meine Hand loszulassen, trat sie halb hinter meine rechte Schulter und stieß mich mit ihrer linken Körperhälfte stark genug, dass ich das Gleichgewicht verlor und über den Rand stürzte. Kavyloqa, die meine Hand in diesem Moment so stark drückte, dass es schmerzte, folgte mir. Wie so oft in diesen Momenten, in denen die realen Ereignisse sich überschlagen, und in denen sich das Schicksal in Augenblicken entscheidet, nahm ich alles in Zeitlupe wahr. Ich drehte den Kopf nach rechts und sah Kavyloqa. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Haare wirkten durch Wind, Schwerelosigkeit und verlangsamte Zeit wie rote Tentakel. In einem ihrer Augenwinkel hing eine Träne, an der schon der Gegenwind riss, um sie über die Schläfe zu treiben. Dann richtete ich meinem Blick auf die Felsen unter uns, an die das Meer brandete. Es war weit unten, und doch würden wir gleich angekommen sein. Ich würde aufwachen, aber Kavyloqa …
Dieser Gedanke holte mich endlich aus meiner Trance. Geräusche drangen an mein Ohr. Es war mein eigenes Schreien, das Rauschen des Windes und das Donnern der brechenden Wellen. Die Luft war beißend kalt durch die aufgewirbelte Gischt. Sofort schloss ich die Augen und visualisierte Kavyloqa. Diesmal war es anstrengend. Adrenalin und Noctarinen vertrugen sich wohl nicht gut. Im letzten Moment blitzte Kavyloqa vor meinem inneren Auge auf.
Ich lag auf meiner rechten Schulter im Bett und konnte mein eigenes Herz hören. Hatte ich Kavyloqa sauber visualisieren können?
Ich will nicht verzerrt werden!
Es ging alles so schnell. Oder war doch alles nur ein Traum gewesen? Alles, was ich anscheinend die letzten Tage erlebt hatte?
Ich merkte an der Verformung der Matratze, dass etwas hinter meinem Rücken lag.
Es atmete.
Rasselnd.