Was ist neu

Nachtland

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14.09.2001
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Nachtland

“Der Traum ist der beste Beweis dafür, dass wir nicht
so fest in unsere Haut eingeschlossen sind,
als es scheint.” – Friedrich Hebbel

Ich schlief. Dieser Tatsache war ich mir jedoch nicht bewusst. Unter meinen Füßen war samtenes Gras, das jeden meiner langsamen Schritte dämpfte. Eine angenehme Brise wehte mir gegen die linke Wange und brachte die Erinnerung an Meer mit sich. Vor mir standen ein paar Bäume in einer losen Gruppe zusammen. Ich drehte den Kopf in Richtung der Brise, wobei meine Sicht etwas verschwamm. Die Wiese, auf der ich ging, endete einen Steinwurf entfernt am oberen Rand einer Steilküste. Dort saß ein Mädchen auf einem Felsen und sah auf das Meer hinaus. Sollte ich näher treten? Zaghaft setzte ich einen Fuß vor den anderen, und das weiche Gras sorgte dafür, dass ich lautlos wie ein Tiger war. Warum eigentlich wie ein Tiger? Ich hatte doch keine bösen Absichten, was Tiger wahrscheinlich fast immer haben. Allein diese Zähne.
Das Mädchen stand auf und drehte sich zu mir um. Es konnte mich unmöglich gehört oder gerochen haben, da ich mich doch gegen den Wind angeschlichen hatte. In der Hand hielt es eine angebissene lila Frucht, einem Pfirsich ähnlich, aber etwas größer. Wir standen nun nahe genug zusammen, dass wir uns laut unterhalten konnten. “Wer bist du?”, fragte es mich und kam dabei weiter auf mich zu. Seine Schritte erschienen mir dabei ebenso zögerlich wie meine zu Beginn.
“Ich heiße Bastian”, sagte ich. “Aber wie heißt du?”
“Kavyloqa.”
Sollte mir der Name etwas sagen? Ich fragte mich, ob ich sie kennen könnte. Sie trug ein einteiliges, weißes Kleid, das aus mattem Kunststoff zu sein schien. Es endete kurz über den in Strumpfhosen steckenden Knien, unter denen hellblaue Stiefel mit flachem Absatz begannen. Ihr Gürtel war so kupferfarben wie ihr Haar, das am Rand ihrer Silhouette violett schimmerte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht kannte. Doch auf eine Antwort von mir wartete sie auch nicht, denn sie sprach weiter: “Ich habe dich – nein, jemanden wie dich erwartet. Seit langer, langer Zeit.”


Ich wachte auf. Mein Wecker piepte, dabei war es genau Mitternacht. Schlaftrunken erinnerte ich mich, dass die Batterien aufgrund eines fehlenden Deckels mal wieder herausgefallen waren und ich sie wieder eingesetzt hatte. Das stellte den Alarm immer auf 0:00 Uhr. Erst letzte Woche war mir dies passiert. Ich hätte daran denken sollen, den Alarm wieder zu korrigieren, war aber zu müde, um mich richtig zu ärgern. Bald versank ich wieder in Schlaf.


Ich stand auf einer weichen Wiese, vor mir eine kleine Baumgruppe. Eine leichte Brise von links brachte einen Geruch nach -
“Bastian!”
Ein Mädchen in einem weißen Kleid lief auf mich zu. Es schien in einem Zustand der Freude und Erleichterung zu sein.
“Wer bist du?”, fragte ich und hatte den schwachen Eindruck eines Déjà-vus.
“Du hast es schon vergessen? Kavyloqa.” Sie sprach das O lang und betont aus. “Wir haben uns vor einigen Minuten gesehen.”
Ich erinnerte mich. Es war … in einem Traum gewesen, bevor der Wecker losging. Der Schleier lüftete sich und ich trat in den Klartraum über. Die Konturen wirkten alle einen Tick schärfer, die Farben satter, und wo ich hin sah, offenbarten sich Details bis hin zur Unendlichkeit. Das Licht der Sonne erreichte zum ersten Mal in dieser Welt gleißend meine Augen und die Luft zog frisch durch meine Atemwege. Ich fühlte mich wie eine Hauskatze, die die Außenwelt bisher nur durch ein Fenster beobachtet hatte und nun zum ersten Mal nach draußen ging. Sofort begann ich, neugierig die Umgebung zu erkunden. Was gaukelte mir mein Hirn da vor? Es wäre interessant, zum Rand des Kliffes zu gehen und hinunterzusehen. Ich lief sogleich los und Kavyloqa folgte mir. An dem Stein, auf dem ich Kavyloqa zum ersten Mal gesehen hatte, ging ich links vorbei und erreichte nach ein paar weiteren Schritten den Kliffrand.
“Geh nicht so nah an den Rand. Hey!”, warnte sie und griff mich an der rechten Schulter. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach hinunter zu springen, weil mir ja nichts passieren konnte. “Soll ich springen?”, fragte ich sie halb im Scherz.
“Nein, du bleibst schön hier. Ich habe nicht die letzten Monate umsonst gewartet. Kapiert?”
“Es ist doch erstaunlich, wie konsistent meine Träume sind. Im letzten hattest du auch gesagt, dass du lange gewartet hättest.”
“Vielleicht bin ja auch ich konsistent.”
Ich musste lachen. Mein Gehirn legte den Personen in meinen Träumen offenbar genau die Worte in den Mund, die mir bei einer realen Person logisch erscheinen würden. Sie hatte mich immer noch an der Schulter und drehte mich zu sich um. “Wir haben noch ein Pflichtprogramm zu absolvieren. Danach mach, was du willst.”
Für eine erträumte Person war sie ziemlich forsch.
“Nimm dies”, sagte sie und zog dabei einen Umschlag aus einer unauffälligen Tasche in ihrem Kleid. Als ich gerade nach ihm griff, schien ihr noch etwas einzufallen, und sie zog ihn zurück. “Moment”, murmelte sie und zauberte von irgendwoher einen Kugelschreiber herbei. Sie schrieb damit etwas auf den Umschlag. Nach kurzem Zögern steckte sie den Kugelschreiber in den Umschlag und klebte diesen zu. Dann übergab sie ihn mir.
Von Kavyloqa stand darauf. Wie ich ertasten konnte, enthielt er neben dem Kugelschreiber noch einige rechteckige Stücke aus festerem Papier oder sehr leichter Pappe. So konnte ich ihn leider nicht für die Verwahrung in meiner Hosentasche zusammenrollen und behielt ihn in der Hand. Eine so große Tasche wie Kavyloqa hatte ich nicht.
Es schien, als wollte sie noch etwas sagen, aber sie stockte und musterte mich kritisch mit zusammengekniffenen Augen. Sie ging schnell die paar Schritte zum Felsen zurück, auf dem sie die seltsame lila Frucht liegengelassen hatte, nahm diese auf und biss hinein. Mit der Frucht in der Hand kam sie zurückgehastet und sah mich wieder so komisch an.
“Verflucht”, entfuhr es ihr. “Schnell, iss von dieser Frucht!”
Ohne weiter zu überlegen, nahm ich einen Bissen. Er schmeckte süß und leicht nach Zimt, aber der Geschmack verblasste ungewöhnlich schnell – ebenso wie meine Umgebung. Ich fühlte einen Sog aus der Realität, dem ich nicht mehr lange würde widerstehen können. Gleich würde ich aufwachen.
“Halt den Umschlag fest!”, sagte Kavyloqa.

Dann sprang sie auf mich zu und stieß mich vom Kliff.

Mein Herz setzte kurz aus.


Als ich im Bett hochfuhr, schlug mein Herz wieder, und zwar bis zum Hals. Ich machte das Licht an und trank etwas von dem Wasser, das ich stets griffbereit stehen hatte. Dabei merkte ich, dass mir etwas zwischen den Zähnen hing.
Fruchtfleisch.
Noch während ich es mir aus dem Zahnzwischenraum saugte und dabei gleichermaßen erstaunt wie erschrocken eine Zimtnote wahrnahm, fiel etwas aus dem Bett.
Es war der Umschlag.
Aber er war kaum noch als solcher zu erkennen. Er hatte eine Form, die durch Falten des Papieres nicht zu erreichen gewesen wäre. Vielmehr schien es, als sei Material an einzelnen Stellen hinzugefügt, an anderen entfernt worden, ohne Löcher zu lassen. Aus der Draufsicht hatte er keine rechteckige Form mehr. Eine Hälfte war höher als die andere und außerdem mit einigen Rundungen versehen. Die andere hatte einen kleinen Ausläufer. Kavyloqas Beschriftung war unleserlich. Ich riss eine Ecke ab und öffnete den Umschlag mit einem gekrümmten Finger als Brieföffner. Als erstes nahm ich den Kugelschreiber heraus. Er fühlte sich nach Stahl an. Seine Feder sah seitlich aus der Spitze heraus, obwohl dort kein Loch war. Lückenlos schloß Metall an Metall. Der Schaft sah aus, als hätte ihn jemand einmal quer durchgeschnitten und die Teile gegeneinander versetzt wieder zusammengeschweißt. Ich probierte den Druckknopf. Er ließ sich nicht bewegen. Das war zuviel für mich. Ich sah auf den Wecker. Elf Minuten nach Sieben. Es war Samstag.
Nun hielt ich es allein in meiner Wohnung nicht mehr aus. Der Wahnsinn mäanderte durch die Luft und schlängelte sich lauernd um meinen Kopf. Wenn ich raus ging, unter Leute, dann würde er sich vielleicht nicht trauen, anzugreifen. Also zog ich mich an, nahm den Briefumschlag mit und ging in den Park.


Kaum hatte ich meine Bank am Parkteich gefunden, klappte ich den Umschlag auf, um mir seinen restlichen Inhalt anzusehen. Es waren Fotos. Zumindest waren es mal welche gewesen, nun sahen sie aus wie dustere und verwaschene Werke abstrakter Kunst. Zwei waren an einer Ecke miteinander verbunden, als seien sie zusammengewachsen. Ich musste sie auseinanderreißen. Nach dem mehrfachen Sichten der Fotos – es waren nur fünf – war ich nicht viel schlauer als zuvor. Aber war das so wichtig? Ich sollte eher darüber nachdenken, wie ich Gegenstände aus einem Traum hatte mitnehmen können. Aber wie sehr ich auch grübelte, ich fand nicht einmal den Ansatz einer Erklärung. Andererseits kam es mir fast natürlich vor, so lebendig war die Erinnerung an den luziden Traum. Die Baumgruppe vor mir, Kavyloqa, der Biss in die Frucht, der Sturz von der Steilküste – mein Bett. Sie hatte mich hinunter gestoßen. Warum? Jedenfalls hatte sie nicht den Eindruck gemacht, als hätte sie mir schaden wollen. Mein Blick fiel auf zwei anscheinend besoffene Gestalten, die in einiger Entfernung herumschlichen. Wahrscheinlich hatten sie letzte Nacht durchgemacht. Einer ging gerade in einen dicken Baum, jedenfalls erschien es mir so. Aber ich sagte mir, dass er in Wirklichkeit wohl hinter ihn gegangen war.
Ein Windstoß, der das oberste Foto vom Stapel wehte, riss mich aus den Gedanken. Das Foto fiel in den Teich, aber augenblicklich kam ein kleiner Junge angerannt und fischte es aus dem Wasser. Ich wollte mich gerade bedanken, aber der Junge brachte mir das Foto nicht zurück. Stattdessen betrachtete er es eine Weile und hielt es dann ans Ohr. Ich wurde ungeduldig. “Hey, Kleiner! Kann ich das Foto wiederhaben?”
“Es macht Geräusche”, antwortete der Junge.
“Was meinst du damit?”, fragte ich.
“Es macht … Geräusche.” Nun endlich brachte er mir das Foto. Ich hielt es an mein Ohr, konnte aber nichts hören. Ich schüttelte nur den Kopf. Der Junge antwortete: “Es hat aufgehört.”
Was ich nun tat, war logisch, und dennoch hätte ich es an den meisten anderen Tagen nicht getan. Ich ging zum Teich und tauchte das Foto kurz ins Wasser. Die Töne waren kaum wahrnehmbar, bis ich mir das Foto ans Ohr hielt. Eine schräge Melodie missklang aus dem Papier. Es war nicht zu sagen, was für ein Instrument es war. Schon bald wurde die Melodie zunehmend leiser, bis ich sie schließlich nicht mehr hörte. Ich fragte mich, ob sie jemals endete oder nur immer leiser wurde. Ich kramte in meiner Jackentasche nach dem Euro, den ich schon viel zu lange dort herumtrug, und warf ihn dem Jungen zu. “Danke!”, sagte ich. Statt einer Antwort strahlte der Junge und rannte weg. Er hatte anscheinend ein Ziel. Vielleicht wollte er sich Süßigkeiten kaufen oder zu einer Eisdiele gehen. Ich hingegen ging zurück zur Bank, nahm die restlichen vier Fotos und tauchte sie alle nacheinander ins Wasser.
Nur eines, auf dem man mit etwas Fantasie ein schemenhaftes Gesicht erkennen konnte, zeigte letztendlich eine Reaktion. Es klang wie eine tiefe, verzerrte Stimme, die etwas Unheilvolles in einer fremdartigen Sprache intonierte. Keiner sehr schönen Sprache. Beinahe hätte ich das Foto angewidert fallen lassen. Im Gegensatz zur Melodie verstummten die Worte jedoch abrupt. Ich steckte dieses Foto in die Mitte des Stapels, um es so gut wie möglich einzukerkern. Dann machte ich mich auf den Heimweg.


Zuhause sah ich mir eine Dokumentation über Schwertfische an. Junge Schwertfische haben noch Zähne und Schuppen, ausgewachsene nicht mehr. Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war, aus dem Kühlschrank. Anschließend kam eine Dokumentation über altägyptischen Totenkult. Bei der Mumifizierung wurde das Gehirn mit einem Werkzeug durch die Nase zerstört und zu einem Brei verquirlt. Es wurde flüssig, so dass es durch die Nasenlöcher herauslief. Ich löffelte meinen Joghurt. Die Organe wurden entnommen und separat in Krügen eingelagert. Eine schwabbelige Erdbeere war das einzige nennenswerte Fruchtstück, das ich fand. Der Körper des Leichnams wurde mit Natron gefüllt und ihm dadurch das Wasser entzogen. Laut Zutatenliste enthielt der Joghurt gefriergetrocknete Erdbeeren.
Eine halb transparente Gestalt betrat das Wohnzimmer. Ich fuhr so heftig zusammen, dass ich den Joghurt fallen ließ. Es war ein Mann in mittlerem Alter und mit etwas eigenartiger Kleidung. Er bewegte sich ziellos herum, wie betrunken, und machte einige rätselhafte Gesten mit den Händen. Ich brachte mich auf größtmögliche Distanz zu der Erscheinung und verharrte vor Angst wie versteinert. Die Gestalt bewegte sich mühelos durch Möbel hindurch, verließ einmal sogar kurz den Raum durch die Wand. Zwei Stunden später endete der Spuk. Der kalte Schweiß klebte mir in den Klamotten. Es musste eine Halluzination gewesen sein. Hatte ich etwas Schlechtes gegessen? Oder war dies alles hier – der seltsame Traum, die mitgebrachten Gegenstände – nur ein Zeichen dafür, dass ich den Verstand verlor? Ich horchte, so gut es ging, in mich hinein, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Nach einer Weile beruhigte ich mich. Es war wohl nur ein sehr realistisch wirkender Traum gewesen, was mir im Licht der letzten Ereignisse sehr wahrscheinlich erschien. Diese Erklärung wiederholte ich wie ein Mantra wieder und wieder in meinem Kopf. Es war nur ein Traum, es war nur ein Traum …
Den Umschlag, den Kugelschreiber und die Fotos hatte ich in eine verschließbare Blechdose gelegt. Dass ich von dem Kliff träumen würde, stand für mich außer Frage. Und der einzige Grund – der einzig mögliche, versicherte ich mir – dafür war, dass mir dieser imaginäre Ort schon den ganzen Tag unterschwellig im Kopf herumging.


Ein Tag voll ermüdenden Wartens ging zu Ende und ich legte mich ins Bett. Würde ich Antworten finden? Die Voraussetzungen für alles, was in dem Traum geschehen konnte, mussten immerhin bereits in meinem Kopf existieren.
In meinem Kopf …

existieren …

...


“Warum können wir uns nicht in Träumen treffen und uns alle
unsere Fragen beantworten?” – Katherine Mansfield, Briefe

Die altbekannte Brise und Kavyloqa begrüßten mich auf dem Kliff. Durch die Anwesenheit dieser Elemente kam der Klartraum automatisch. Ich hatte einige Fragen an das Mädchen.
“Hallo, Kavyloqa”, sagte ich, “ich habe -”
Fragen, natürlich!”, unterbrach sie mich. “Stell sie der Reihe nach, dann erkläre ich den Rest. Und das ist mehr als du denkst.”
Was mich am meisten interessierte, waren die Dinge im Umschlag. Ich erzählte Kavyloqa von dem verzerrten Kugelschreiber und von den rätselhaften Fotos, die Geräusche machten, wenn sie nass wurden.
Kavyloqa nickte. “Unser letzter Abschied war etwas … überstürzt.”
“In der Tat.”
“Dazu kommen wir gleich noch. Jedenfalls hat die Veränderung dieser Gegenstände damit etwas zu tun. Solange du noch nicht die richtige Technik drauf hast, ist es wichtig, dass der Übergang zwischen Schlafen und Wachen sehr schnell abläuft. Nur dann kannst du Gegenstände aus dem Traum überhaupt mitnehmen. Das hat nicht so gut funktioniert, aber das war zu erwarten.”
Für einen Moment amüsierte ich mich über Kavyloqas Gedanken – die ja in Wirklichkeit meine eigenen sein mussten. Oder waren sie das nicht? Hatte ich tatsächlich zuhause diesen Umschlag in der Blechdose oder täuschte mich mein Geist im Traum? “Dass die Fotos Geräusche gemacht haben, wenn sie nass wurden, ist also normal?”, fragte ich.
“Fotos, die Geräusche machen, sind bei uns nicht ungewöhnlich. Aber normalerweise werden sie durch Blicke und Atem aktiviert. Sie hätten losgehen sollen, wenn du sie dir konzentriert angesehen hättest. Der Auslösemechanismus hat unter der Reise wohl gelitten. Du siehst blass aus. Willst du dich setzen?”
Durch Blicke und Atem. “Ja”, sagte ich.
Wir gingen zum Felsen und setzten uns so darauf, dass wir aufs Meer hinaussahen. Kavyloqa legte einen Schalter an einem kleinen Gerät um, das an ihrem Gürtel befestigt war.
“Und was war mit dieser gruseligen Stimme?”, wollte ich wissen.
“Das, ähm, war eigentlich ich. Ein kleiner Gruß. Es sollte dich an mich erinnern, damit du zurückfinden würdest. Dass du zurückfinden würdest, war eigentlich der Zweck aller Fotos.”
“Und die Melodie?”
“Ein Klavierstück von mir. Es heißt Zwei Spinnen auf der Flucht. Es klingt in Wirklichkeit sehr beschwingt. Man muss es aber zu zweit spielen, weil man bis zu sechzehn Finger braucht.”
Konnte sich mein träumendes Gehirn so etwas noch ausdenken? “In Ordnung. Und du hast mich vom Kliff gestoßen, damit ich schnell aufwache?”
“Richtig. Wie gesagt, du hast die Technik zum Transport noch nicht drauf. Eigentlich wollte ich dich vorbereiten, aber ich habe gemerkt, dass du dabei warst, aufzuwachen. Wärest du langsam und normal aufgewacht, hättest du die Gegenstände nicht mitnehmen können.”
“Moment”, unterbrach ich, “woher wusstest du, dass ich aufwache? Außerdem schreckt man doch manchmal aus einem Traum hoch, aber man nimmt dabei niemals etwas mit! Also wie kann das sein?” Das waren schon zwei Fragen, aber mir fiel noch ein Detail ein: “Und warum musste ich von dieser Frucht abbeißen?”
“Sehr gute Fragen! Das hat alles miteinander zu tun. Alles dreht sich um diese Frucht. Sie heißt Noctarine.” Sie griff in das Gras rechts neben sich und holte eine dieser lila Früchte hervor. Aus gutem Grund habe ich immer welche in der Nähe. Aber sie schmecken auch gut.” Herzhaft biss sie hinein. “Ich kann dir leider keine anbieten”, fuhr sie mit vollem Mund dumpf fort, “aber keine Sorge, das hat ebenfalls einen guten Grund. Eine Noctarine wirkt für die nächste Wach- und Schlafphase. Für das, was ich dir zeigen will, musst du wieder noctarinennüchtern sein. Das bist du aber noch nicht, weil du ja bei unserer letzten Begegnung von der Noctarine abgebissen hast.”
Das fand ich schade, denn ich hätte gerne eine Noctarine gegessen. Den Geschmack hatte ich das letzte Mal nicht richtig wahrnehmen können, aber er war sehr vielversprechend gewesen.
“Also”, erklärte sie weiter, “jetzt aber alles der Reihe nach. Woher wusste ich, dass du aufwachst? Normalerweise seid ihr Leute aus Tagland für uns unsichtbar. Aber wenn man auch nur einen Bissen von einer Noctarine nimmt, sieht man euch. Wenn ihr aber langsam aufwacht, verblasst ihr. Genau wie euer Traum. Ganz einfach, siehst du?”
Ich nickte. Es war immer noch alles ganz und gar verrückt, aber plausibel. Aber eben total verrückt.
“Zur nächsten Frage”, sagte Kavyloqa, “Warum haben nicht schon viel mehr Leute etwas aus ihrem Traum mitgenommen, wenn sie schnell aufgewacht sind? Weil sie nicht von einer Noctarine abgebissen haben. Damit wäre auch deine dritte Frage beantwortet. Tadaaa! Alles klar?”
“Das muss ich erst mal verarbeiten.”
“Noctarinen haben aber noch mehr Effekte.”
Ich glaubte wirklich, dass ich nicht mehr weiter aufnahmefähig war. “Nein danke, ich brauche eine Pause”, sagte ich.
Wir sahen eine Weile auf das Meer hinaus. Ich sortierte meine Gedanken, Kavyloqa hingegen träumte vermutlich nur vor sich hin. Tat sie das wirklich? Kann eine erträumte Person in einem Traum träumen? Wenigstens einen Tagtraum? Unwillig, beinahe verzweifelt, wischte ich diesen Gedanken beiseite. Auf dem Meer bildeten sich leichte Schaumkronen. Kavyloqa seufzte. Ich war immer noch unschlüssig, ob ich nur träumte. Noch waren nicht alle Fragen beantwortet, aber ich hatte das vage Gefühl, dass sich allmählich ein Bild ergab. Erst unbewusst, dann aufmerksam fuhr ich mit der rechten Hand über den Felsen und ertastete seine Rauhheit, seine kleinen und größeren Erhebungen. Es wuchsen ein paar Flechten darauf. Ich kratzte an einer und hob den verwendeten Finger dicht vor meine Augen. Ein paar winzige Krümelchen von der Flechte hingen unterm Fingernagel. Nur ein paar, denn er war kurz. Ich hatte ihn vor zwei Tagen erst geschnitten. Nun senkte ich mein Gesicht über den Felsen und betrachtete die Flechte, an der ich gekratzt hatte.
“Das ist doch nur ein Felsen, du … du Clown!”, sagte Kavyloqa. “Da ist nur Eines besonders dran: Dass es mein Felsen ist!” Mit diesen Worten stieß sie mich hinunter. Ich kugelte ins Gras und blieb auf dem Rücken liegen. Sie lachte hell. Zwischen einigen Halmen, die mir über das Gesicht hingen, blinzelte ich in die hoch stehende Sonne. Ein Marienkäfer kletterte an einem der Halme hoch und erreichte dessen Ende. Ich schielte, um ihn zu erkennen. Er plumpste auf meine Nasenspitze, krabbelte ein Stück, und ich musste niesen.
“Gesundheit!”, wünschte Kavyloqa.

Ich bin wirklich hier.


Kavyloqa ließ mir Zeit, über alles nachzudenken, so wie ich erbeten hatte. Die Sachlage hatte ich, so wie sie mir erklärt worden war, verstanden. Natürlich gab es noch offene Fragen, aber ich wollte erst einmal über das Gelernte schlafen. Nein, wachen. In diesen … Stunden? ... auf dem Felsen war ich eher mit der emotionalen Anpassung an die Situation beschäftigt.
“Oh, du gehst ja”, bemerkte Kavyloqa, bevor ich es tat.
Ich fühlte den vertrauten Sog. Die Farben wurden stumpfer, die Sicht verschwommener. Kavyloqa hob eine Hand und bewegte sie langsam von einer Seite zur anderen.
Sie winkte.

Hin …
und her.

Ein Wabern in Wolken …


Es war Sonntag. Meine erste Handlung bestand darin, den Umschlag, die Fotos und den Kugelschreiber zu suchen und zu betrachten, um mich zu versichern, dass nicht doch alles ein Traum gewesen war. Aber alles war korrekt. Korrekt … ein seltsames Wort. Zwei Tage zuvor hätte ich es noch als unmöglich abgetan, dass ich eine Blechdose mit verzerrten Gegenständen aus einem Traum haben würde. Im Übrigen kam in mir der Gedanke auf, dass die Schlafphasen mittlerweile interessanter waren als die Wachphasen.


Diesmal erschien ich direkt neben dem Felsen, auf dem Kavyloqa saß.
“Hey, du wirst besser!”, begrüßte sie mich.
“Danke.”
“Ich hoffe, du hast gut gewacht. Heute wirst du fit im Schädel sein müssen. Du hast viel zu lernen.”
“Dann leg los.”
“Wir fangen am besten mit dem Noctarinen-Experiment an, das ich erwähnt hatte. Die Wirkung deiner ersten Noctarine ist nun verflogen. Nun sollst du erfahren, wie man Gegenstände transportiert. Weißt du, was ich meine?”
Ich nickte.
“Hier.” Sie reichte mir einen Gegenstand aus gebürstetem Metall, ähnlich einem Benzinfeuerzeug nach Zippo-Art. Auf einer der beiden großen Flächen war ein Vogel eingraviert. Auf der anderen war ein großer Knopf, der plan mit dem Metall abschloss. “Sieh es dir gut an. Dann schließ die Augen und versuche, es dir vorzustellen. In allen Details.”
Ich versuchte es, aber es wollte mir nicht befriedigend gelingen.
Sie nahm eine Noctarine aus ihrem Vorrat. “Nun, Tagländer, nimm hin diese Noctarine, die Kavyloqa dir in ihrer unendlichen Güte beschert. Nimm hin und sieh.” Mit gespielt feierlicher Geste reichte sie mir die Frucht. Endlich konnte ich mir Zeit nehmen, dieses Obst genau zu verkosten. Meine Zähne glitten fast mühelos durch die dünne samtige Schale, die eher wie eine Haut wirkte. Das Fruchtfleisch war rosa, zart und saftig. Die bekannte Zimtnote war nur eine Dreingabe zum herrlich weichen Orangenaroma. Es gab keine Bitternis oder Herbe in dieser Frucht. Ihr einziger elementarer Geschmack war eine unaufdringliche Süße.
“Nun”, sagte Kavyloqa, “schließ wieder die Augen und stell dir nochmal dieses Gerät vor.”
Und ich sah.
Es war, als würde ich es mit unstofflichen Tentakeln meines Geistes halten und ertasten. Es bedurfte keiner Anstrengung mehr, jedes Detail wahrzunehmen. So wie es keiner Anstrengung bedarf, einen leichten Gegenstand auf der Handfläche liegen zu lassen. Ich merkte, dass ich mich bewusst dazu hätte entscheiden können, das Gerät loszulassen, indem ich meinen Geist unter ihm wegzog. Natürlich tat ich dies nicht.
Die Augen immer noch geschlossen, hörte ich Kavyloqas Stimme: “Was steht auf dem Boden dieses Gegenstandes?”
Von deinem Vater”, sagte ich. Dabei hatte ich den Boden noch gar nicht mit offenen Augen gesehen!
“Volle Punktzahl. In diesem Zustand könntest du das Ding mit in deine Welt nehmen. Als ich dich vom Kliff gestoßen habe, warst du noch nicht soweit.
Ich öffnete die Augen und gab es ihr zurück. “Du redest von meiner Welt. Was ist das hier für eine?”, fragte ich.
“In der Natur hat alles zwei Seiten. Und alles ist komplementär. So wie Ebbe und Flut, rechts und links, Elektronen und Positronen. Dies ist die Welt, in der du und alle anderen Menschen deiner Welt im Schlaf erscheinen.”
“Wir träumen nur. Jeder ist in seiner eigenen Welt.”
“Ja und nein. Es ist eigentlich eher so: Ein Tagländer – das sind Leute wie du – erscheint hier, wenn er träumt. Aber er weiß normalerweise nichts davon. Er träumt seine eigenen Sachen und schlafwandelt sozusagen bei uns. Wenn er vom Kampf gegen einen Drachen träumt, schlägt er wild um sich und kann einiges kaputt machen, falls er zum Beispiel in einer Wohnung auftaucht. Er kann auch auf der Flucht vor einem imaginären Monster sein und durch Blumenbeete und Buffets laufen. Es ist furchtbar. Außerdem können wir euch nur sehen, wenn wir Noctarinen essen.”
“Aha. Und anders herum? Wenn ihr schlaft?”
“Dann erscheinen wir bei euch.”
Ich erinnerte mich an die spukhafte Erscheinung in meiner Wohnung. “Dann habe ich einen gesehen!”, rief ich aus. “Gestern in meiner Wohnung! Ich hatte schon befürchtet, ich wäre verrückt geworden.”
“Du konntest ihn sehen, weil die Noctarine noch gewirkt hat.”
Mir fielen auch die zwei Gestalten im Park ein, die ich für Betrunkene gehalten hatte. Vielleicht waren auch sie Besucher aus dieser Welt gewesen.
“Aber warum”, fragte ich, “hat er nichts kaputt gemacht? Er hat nichts, überhaupt nichts, berührt. Er war wie ein Geist.”
“Warum das so ist, kann ich dir auch nicht sagen. Das ist der einzige Unterschied zwischen Tagländern und uns. Wir können mit eurer Welt nicht interagieren, ihr aber mit unserer. Einer alten Geschichte zufolge erstrahlte einst ein ursprüngliches Licht, das eure Welt erfüllte, welche ihrerseits unsere als bloßen Schatten warf. Und weil wir eure Welt, die in Licht getaucht wurde, deswegen Tagland nennen, heißt unsere Welt -”
“Nachtland.”
“Genau.”
“Warum laufen hier nicht lauter Tagländer rum? Du hast doch gesagt, sie seien eine Plage.”
“Tja, genaugenommen war das nur früher so. Bis mein Vater die Attraktoren gebaut hat, die durch ihre Anziehung dafür sorgen, dass alle Tagländer an einem bestimmten Ort erscheinen. Im Hyperkubus.”
Die Bedeutung dieser Worte glaubte ich ausreichend genau zu verstehen, als dass mir dieser Hyperkubus jetzt schon unheimlich war. Aber hätte ich dort nicht erscheinen müssen? “Warum bin ich nicht im Hyperkubus gelandet?”, fragte ich.
“Weil ich einige Bauteile … entwendet habe, um meinen eigenen kleinen Attraktor zu bauen.” Sie zeigte auf ein Gerät an ihrem Gürtel. Ich erinnerte mich daran. “Damit lockst du mich an?”
“Sagen wir mal, ich geleite das Unbewusste träumender Tagländer hierher. Aber wie ich schon erwähnt hatte, ich musste Monate warten, bis einer wie du kam, der diese Welt wahrgenommen hat. Wir nennen es Meta-Luzidität und es ist recht selten. Gegen die großen Attraktoren kommt meiner kaum an.”
“Jetzt klappt es doch immer.”
“Weil du luzide wurdest und ich dafür Sorge getragen habe, dass dieser Ort sich dir eingeprägt hat. Alleine, ohne mein Gerät, würdest du es trotzdem nicht schaffen, glaub mir. In der Stadt gibt es einen Bereich, in dem niemals Schnee liegt, weil die Attraktoren im Untergrund viele Megawatt Abwärme produzieren. Die sind monströs.”
“In der Stadt?” Warum ich so überrascht war, wusste ich eigentlich nicht. Selbstverständlich musste es so etwas geben. Kavyloqa sah nicht aus wie eine Höhlenbewohnerin oder gar Obdachlose.
“Klar. Wo sonst?”
“Ich weiß nicht. Mir kam es nur immer so unberührt vor. Alles hier.”
“Die wahre Hochtechnologie ahmt die Natur nach. Ihr Tagländer seid noch in einer sehr frühen und dreckigen Phase. Du wirst ja sehen, wie es bei uns ist, wenn wir in die Stadt gehen.”
Mit diesen Worten nahm sie das Gerät, dass ich mir unter dem Einfluss der Noctarine eingeprägt hatte, und drückte den Knopf darauf. Ich erwartete angespannt, dass wir in die Stadt gebeamt würden. Nachdem jedoch nichts geschah, beschloss ich, erst einmal abzuwarten, ehe ich eine blöde Frage stellen würde. Einen Blick in Richtung Kavyloqa, der meine Gedanken anscheinend verriet, konnte ich mir jedoch nicht verkneifen. Sie lächelte nur überlegen zurück. Dann richtete sie ihre Augen auf einen Punkt im Himmel vor ihr. Ich versuchte zu erkennen, was es dort zu sehen gab. Ein kleiner Lichtpunkt blitzte kurz auf. Für ein paar Momente geschah nichts weiter. Dann sah ich einen beständigen Lichtpunkt. Während er näher kam, begann ich zu erkennen, dass er eine bloße Reflektion des Sonnenlichts auf irgendetwas war. Aus dem einen großen Lichtpunkt wurden viele kleine flimmernde. Trotzdem konnte ich noch nicht erkennen, um was für ein Objekt es sich handelte. Kavyloqa und ich mussten unsere Köpfe mittlerweile fast in den Nacken legen, denn das fliegende Etwas hatte seine Flughöhe noch nicht verringert. Doch dann kam es so rasant näher, dass ich es bis wenige Meter über dem Erdboden nicht erkennen konnte. Mit einem peitschenartigen Knall breitete es blitzartig silberne Flügel aus und verringerte so auf kürzester Strecke seine Geschwindigkeit. Es sah aus wie ein Falke aus Silber, der sich nun mit dosiertem Flattern seiner Schwingen auf Kavyloqas ausgestrecktem Unterarm niederließ. Er hatte nicht die Klauen eines gewöhnlichen Falken, sondern Greifer, die wie aufgeklappte Armreife aussahen. Diese bestanden aus verschachtelten Elementen und schmiegten sich perfekt an, als sie sich schlossen.
“Bastian, das ist Sirius”, sagte Kavyloqa. “Sirius, das ist Bastian.” Sie wies dabei auf mich. Der Falke wandte seinen Kopf zu mir und sah mich aus giftgrünen, buchstäblich leuchtenden Augen ohne Pupillen an. “Sirius ist natürlich ein Roboter”, merkte Kavyloqa an. “Also, falls du es noch nicht gemerkt hast.” Ein bisschen Stolz schwang in ihrer Stimme mit. “Er ist mein Auge hoch oben im Himmel. Seine Aufgabe ist es, mich zu warnen, falls sich jemand nähert. Denn eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Jetzt, wo wir zu Stadt gehen, schone ich seine Energie lieber.” Sie strich dem Vogel über den Rücken und sagte: “Sirius, Code Lila sieben.” Unter vielfachem Summen und Surren verdrehte und knickte Sirius seine Gliedmaßen auf eigentlich unmögliche Weise und faltete sie in Richtung Körpermittelpunkt. Seine segmentierte Bauchdecke breitete sich nach oben aus und fuhr über seinen ineinander verschobenen Teilen kompakt zusammen. Am Ende der Prozedur hatte Kavyloqa nur noch zwei Armreife, die über eine Box verbunden waren, die etwa so breit und doppelt so lang wie eine Zigarettenschachtel war. Diese Box hatte kaum wahrnehmbare Spalten und Andeutungen von Scharnieren. Aber so, wie sie an Kavyloqas Unterarm befestigt war, hätte man sie durchaus für ein gewagtes, modernes Schmuckstück halten können.
“So etwas habe ich noch nie gesehen”, sagte ich.
“Kannst du ja auch nicht.”
“Gehen wir nun zur Stadt?”
“Natürlich. Folge mir.”
Unser Weg ging bergab und führte uns von der Steilküste fort. Wir benutzten keinen sichtbaren Pfad, sondern liefen über die unberührte Wiese. Nach einigen Minuten fing Kavyloqa an zu rennen und rief mir zu: “Da, hinter den Bäumen!”
Ich rannte hinterher. Zuerst sah ich nichts. Doch als wir durch die Bäume hindurchtraten, die nur in zwei Reihen standen, eröffnete sich mir der Blick auf ein flaches und weitläufiges Tal. Menschen flanierten dort auf weißgepflasterten Wegen, zwischen niedrigen Wohngebäuden. Es gab aber noch eine andere Art von Gebäude, die ich nicht einordnen konnte, und die weitaus höher war. Diese Bauwerke schienen hauptsächlich aus Glas zu bestehen und waren Pilzen ähnlich.
Kavyloqa bemerkte meinen nach oben gerichteten Blick und erklärte: “Das sind unsere Sonnenlichtkollektoren. Sie leiten das Licht in den Untergrund, wo unsere Transportwege verlaufen. Also der Personennahverkehr.”
Mir fiel auf, dass tatsächlich kein einziges Fahrzeug sichtbar war. Ich schloss die Augen und lauschte. Ein Vogel zwitscherte. Kavyloqa atmete noch etwas schwerer vom Rennen und ein Zweig zerbrach hörbar unter ihren Füßen. Ich öffnete die Augen wieder. “Weißt du, wie sich Städte bei uns anhören? Und wie sie riechen?”
“Die dreckige Phase”, sagte Kavyloqa nur und nickte. “Aber eure Städte sind auch wesentlich größer. Hier in Nachtland gibt es nicht viele Menschen.” Sie packte mich an den Schultern und sah mir eindringlich in die Augen. “Hör gut zu. Keiner außer mir kann dich hier sehen. Jedenfalls sollte es so sein, weil der Noctarinenkonsum ja verboten ist. Aber man kann dich hören, und du könntest mit Leuten zusammenstoßen, wenn du nicht aufpasst. Ich werde oft so tun müssen, als wärst du nicht da.”
“Soll das heißen, wir gehen jetzt in die Stadt?”
“Ja, aber das ist nicht unser eigentliches Ziel.”
“Was denn dann?”
“Der Hyperkubus.”


Obwohl die Stadt für ihre Einwohnerzahl sehr großzügig ausgebaut war, gab es einige Situationen, in denen ich nur knapp einem Zusammenstoß mit einem Fußgänger entging. Erst auf diese Weise wurde mir bewusst, wie sehr wir Menschen zumindest in dieser Hinsicht aufeinander achten. Solange Kavyloqa und ich schnell gingen, konnten wir ziemlich sicher sein, dass mir keiner in den Rücken rannte, aber sobald wir irgendwo standen, drückte ich mich an die Wand oder in Ecken. Ich konnte meine Augen nicht überall haben. Obwohl ich das in dieser Stadt gerne gehabt hätte. So konnte ich den Blick nicht von dem weinroten Tier wenden, das von einer dicken Frau spazieren geführt wurde. Kavyloqa bemerkte dies und sagte:
“Sofakatzen lassen sich eigentlich nicht gern an der Leine führen. Sind eher gemütliche Wohnungstiere.” Wann immer sie mit mir redete, tat sie dies möglichst unauffällig und aus dem Mundwinkel. “Siehst du, wie die seitlichen Felllappen über den Rücken gefaltet werden mussten? Für draußen sind diese Tiere wirklich nicht geeignet.” Noch bevor ich mich angemessen darüber wundern konnte, bemerkte ich ein anderes Wesen, das ebenfalls mit seinem Besitzer herumlief. Stumm wies ich mit dem Zeigefinger darauf. Kavyloqa verstand. “Das ist ein Reiseschwein. Vermutlich kommt der Mann gerade vom Bahnhof.” Wir liefen nach wie vor in hohem Tempo. “Du findest das alles sehr wundersam, stimmt’s?”
Ich nickte nur, weil ich nicht die richtigen Worte fand. Vielleicht aber auch, weil ich angestrengt über den Zweck eines karierten Schweins auf einer Reise nachdachte.
“Ich finde eure Welt auch wundersam”, sagte Kavyloqa. “Ich studiere sie geradezu und weiß bestimmt mehr darüber als du.”
“Das erscheint mir als eine gewagte Behauptung.”
“Du hast ja keine Ahnung!” Sie lachte. “Lass uns noch kurz zu mir nach Hause gehen. Da zeig ich dir was.”
So liefen wir noch einige Minuten, bogen zweimal ab, liefen wieder ein Stück, bis Kavyloqa mir bedeutete, dass wir ihr Haus erreicht hatten. Es war so unauffällig und klein wie fast alle Gebäude hier. Die Tür glitt lautlos auf, nachdem Kavyloqa sie wie beiläufig berührt hatte. Die Wände waren innen so weiß wie außen. Obwohl nahezu jegliche Einrichtung im Inneren fehlte, wie mir ein Blick in eine Art Wohnzimmer verriet, schien es irgendwie behaglich.
“Hier ist mein Privatraum.” Sie wies einladend in einen Raum, der lediglich ein schmales Regal mit diversen Gegenständen und ein Piano enthielt. Sie malte mit einem grünen Lichtpunkt lässig ein L auf den Boden, obwohl ich nicht sehen konnte, dass sie einen Laserpointer hielt. “Setz dich doch, bitte.”
Ein weißer Kunststoffsessel fuhr nahtlos aus dem Boden.
“Das ist im Prinzip einfacher 3D-Druck”, sagte Kavyloqa. “Nur sehr schnell. Außerdem kann der Kunststoff auf verschiedenste Art ausgehärtet werden, auch innerhalb eines Objekts. Du kannst auch einen harten Hocker haben, wenn du willst.”
“Nein danke, das ist schon in Ordnung so.” Vorsichtig ließ ich mich auf das Sitzmöbel nieder. Der Sessel trug mich problemlos und ich konnte spüren, dass er unter der weichen Oberfläche einige härtere Stützstrukturen hatte. Eine Geste Kavyloqas auf die Wand ließ diese sich auf einer breiten Bahn öffnen. Es standen Bücher darin.
“Einfache Bücher”, sagte ich. “Kaum zu glauben.”
“Ja, dieser Schrank enthält immer meine aktuell meistgelesenen Bücher.”
“Ah. Also doch nicht so einfache Bücher, nehme ich an.”
“Wir können sehr schnell Dinge produzieren und wiederverwerten. Hast du ja gesehen.”
Sie zeichnete eine Art Q auf den Boden rechts neben meinem Sessel. In wenigen Sekunden wuchs dort ein einbeiniger, runder Tisch. Dann ging sie zu den Büchern – sie sahen alle aus, wie geklonte weiße Taschenbücher, die sich nur im Titel unterschieden – nahm drei heraus und legte sie mir auf den Tisch. “Die sind cool.”
Ich griff mir eines, wobei ich feststellen musste, dass es sich irgendwie gummiartig anfühlte, und las den Titel.
Zu Lande, zu Wasser und in der Luft – Mobilität in Tagland
Das nächste war beschriftet mit:
“Ich bin der verschollene Sohn deines Schwiegersohnes, gib mir Geld” – Die fiesen Tricks der Tagländer
Kavyloqa räusperte sich. Aber ich verkniff mir jede Reaktion und las den letzten Titel:
Der kleine Prinz
“Das kenne ich”, sagte ich.
“Es ist nicht leicht, so etwas wortgetreu aus Tagland zu kopieren. Wir können nichts aus Tagland mitnehmen. Aber es gibt Leute, luzide Gelehrte, die sich bei ihrer Anwesenheit in Tagland so viel wie möglich merken. Nur, weil Der kleine Prinz in Schulen so oft gelesen wird, konnten wir den Text nach und nach zusammentragen.”
Wieder einmal fragte ich mich, wie real dies alles sein konnte. Es war völlig verrückt, was ich da erfuhr. Meine innere Anspannung war kaum zu ertragen, als ich das Buch aufschlug, um es zu überfliegen. Tatsächlich stimmte der Text auf den ersten Blick mit meiner Erinnerung überein, auch wenn ich ihn nicht wortwörtlich kannte. Da waren der Affenbrotbaum, der Hut, der Fuchs und viele andere Dinge, die mir vertraut waren. Nur die Zeichnungen waren trotz aller Ähnlichkeit eindeutig nicht die originalen von Saint-Exupéry. Aber das konnte man den nachtländischen Forschungsreisenden kaum anlasten. In dem Wissen, dass Kavyloqa das Buch gut kennen musste, rezitierte ich seine wohl bekanntesten Worte aus dem Gedächtnis: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.” Vermutlich erwartete ich irgendeine Art der Zustimmung. Stattdessen wirkte Kavyloqa plötzlich nachdenklich. “Hm. Mit diesem Satz habe ich mich nie anfreunden können. Wenn ich das Wesen von etwas ergründen will, benötige ich meinen Verstand. In dem Sinn ist es für die Augen wirklich unsichtbar, ja. Vielleicht merkt man an dem Satz auch, dass es in Tagland keine Noctarinen gibt.”
“Naja, aber irgendetwas ist doch dran an der Aussage.”
“Je mehr ich diese Worte überdenke, desto absurder erscheinen sie mir. Man sieht nur mit dem Herzen gut. Nur! Das hat so etwas Ausschließliches. Wir wissen doch beide, dass das nicht stimmt.”
So hatte ich das noch nie gesehen. “Wenn ich so drüber nachdenke … da bin ich geneigt, dir Recht zu geben.”
“Siehst du? Und hast du das jetzt mit dem Herzen oder dem Hirn gesehen?”
“Touché!”, bestätigte ich grinsend. Ich nahm mir vor, das Wesentliche dieses Satzes später nochmal selbst zu ergründen, indem ich gründlich darüber grübelte. Aber falls er wahr sein sollte, wäre genau dies der falsche Weg. Verdammt. Was hatte sich Saint-Exupéry eigentlich dabei gedacht?
“Hey, bist du noch bei mir? Die Lesestunde ist beendet. Wir wollen doch noch zum Hyperkubus.”
Kaum war ich aufgestanden, veranlasste Kavyloqa auf mir schleierhaftem Wege, dass der Sessel sich zu einer Pfütze auflöste, die vom Boden absorbiert wurde. Den Tisch mit den Büchern ließ sie stehen. Wir verließen das Haus und schlugen den Weg Richtung Hyperkubus ein.


Das Bewundern dieser Stadt ließ mir die Zeit kurz erscheinen, bis Kavyloqa sagte: “Wir sind da.”
Wir standen vor einem kleinen Haus.
“Aber hier ist ni -”, begann ich. Der Boden unter meinen Füßen fuhr unvermittelt senkrecht nach unten. Es war eine recht große Fläche von etwa vier Metern Kantenlänge.
“Dies ist der Lieferaufzug”, erklärte Kavyloqa. Bereits nach einigen Sekunden wurde die Plattform mit einem leisen Surren langsamer. In einer Richtung eröffnete sich ein niedriger, schwach beleuchteter Gang. Kavyloqa ging vor, blieb dann aber stehen. “Wir sind nun etwa fünfzig Meter unter der Oberfläche”, sagte sie sehr leise. “Dieser Gang führt zu den Attraktoren und dem Hyperkubus. Wir müssen jetzt gaaaanz heimlich sein. Ich habe den Zugangscode eigentlich nur für Notfälle. Ab jetzt kein Wort mehr. Es hallt hier.” Sie zog die Stiefel aus und bedeutete mir, das Gleiche mit meinen Schuhen zu tun. Auf Strümpfen setzten wir unseren Weg lautlos fort. Je weiter wir kamen, desto stärker fühlte ich eine leichte Vibration, wie ein Brummton knapp unterhalb der hörbaren Frequenz. Es wurde außerdem etwas wärmer. Schließlich gelangten wir zu einer zweiteiligen Metalltür mit Bullaugen. Kavyloqa sah hindurch und prüfte den dahinter liegenden Raum. “Die Luft ist rein. Aber trotzdem leise reden”, sagte sie. Routiniert gab sie auf einer kleinen Tafel einen Code mit über zehn Stellen ein. “Kleiner Beitrag zur erhöhten Sicherheit. Der erste Teil der Identifizierung läuft über einen subkutanen Funkchip.” Nun trat sie an eine Linse heran, die fast nahtlos in die Wand eingelassen war und öffnete vor ihr weit den Mund. Einen kurzen Moment später konnte man ein bestätigendes Piepen hören, woraufhin Kavyloqa den Mund wieder schloss. “Das war der Uvula-Scan.”
“Uvula?”
“Na, das Würmchen, das bei dir hinten im Rachen runterhängt. Das innere Gewebe davon ist bei jedem Menschen anders aufgebaut.”
“Verrückt.”
“Ich zeig dir gleich was Verrücktes.” Die beiden Hälften der Tür glitten elektrisch vor Kavyloqa auf. Wir betraten den Raum, der den Hyperkubus beherbergte. In der Mitte des Raums stand ein hüfthohes, quaderförmiges Podest aus einem schwarzen, glänzenden Material. Darüber schwebte ein walnussgroßes Objekt, das anscheinend das räumliche Äquivalent zu weißem Rauschen war. Aus der Decke in etwa zehn Metern Höhe ragten drei Geräte, die wie riesige Strahlenwaffen aussahen und auf das seltsame Objekt gerichtet waren. Sie endeten nur wenige Zentimeter über diesem. Kavyloqa wies mit offener Hand darauf. “Hiermit präsentiere ich den Hyperkubus, die vorübergehende Heimat für alle Träumenden deiner Welt.”
“Wie passen sie da rein? Der ist doch viel zu klein. Und wie ein Würfel sieht das auch nicht aus.”
“Der Hyperkubus hat einige tausend – jawohl, tausend! – Dimensionen. Da ist genug Platz drin. Mehr als in diesem Universum. Wir sehen hier nur einen Ausschnitt, der Rest dehnt sich in höheren Dimensionen aus.”
“Das kapier ich nicht.”
“Fangen wir ganz unten an. Jeder Träumer wird entsprechend der Merkmale seines Traums im Hyperkubus platziert. Aber stellen wir uns erstmal vor, die Träumer wären Bücher.”
“Wie du meinst.”
“Du könntest für eine Büchersammlung einen Graphen zeichnen, der nur aus einer Linie besteht. Die Linie repräsentiert die Jahre 1950 – 2000. Für jedes Buch könntest du einen Punkt dort machen, wo sein Veröffentlichungsjahr liegt. Klar?”
“Klingt einleuchtend.” Es war wirklich ganz einfach, dachte ich. Aber Kavyloqa fuhr fort.
“Nun fügst du eine zweite Dimension hinzu. Darauf sind die Seitenzahlen aufgetragen. Von 1 bis 1800. Du kannst deine Bücher also auf einer zweidimensionalen Fläche platzieren.”
Ich ahnte, worauf es hinauslaufen würde. “So ist es”, sagte ich.
“Gut, gut. Dann fügen wir unserem Graphen eine dritte Achse hinzu. Sie repräsentiert die Anzahl der gedruckten Auflagen. Die kann natürlich auch größer werden, so dass sich das Buch auf dieser Achse bewegt. Wir wählen den Wertebereich so groß, dass alle Bücher reinpassen. Wir könnten ihn auch relativ definieren, so dass das Buch mit der höchsten Anzahl gedruckter Exemplare immer am oberen Ende dieser Achse ist. Dann würden sich nur die anderen Bücher bewegen. Aber das ist unerheblich, ich schweife ab.”
“Soweit kann ich folgen.”
“Super! Wir fügen nun eine vierte Achse hinzu.”
“Okay.”
“Hmmm, was nun? Wir könnten die Bücher noch nach der Anzahl der Bilder einordnen.”
“Aber es gibt viele Bücher, die gar keine Bilder haben. Würden die nicht zusammenstoßen?”
“Vergiss nicht die anderen drei Achsen. Dadurch wird diese Wahrscheinlichkeit schon sehr verringert. Und auch die Achse für die Bilderanzahl verringert nur die Wahrscheinlichkeit einer Kollision. Der vierdimensionale Würfel, den wir nun erhalten, hat als Oberfläche gewöhnliche Würfel. Seine Oberfläche hat also ein Volumen.”
“Oweh.”
“Naja, der Hyperkubus beherbergt keine Bücher, sondern Träumende. Und er hat für jeden einfach quantifizierbaren Aspekt des Traumes eine Dimension. Für die Freude, die Angst, die Skurrilität, den Hunger, den Baumbewuchs, die Laufgeschwindigkeit, die Flugfähigkeit, und so weiter. Aus den entsprechenden Werten ergibt sich die Position des Träumenden im Hyperkubus.”
“Und wie viel Platz ist da drin?”
“Aus unserer Sicht: unendlich viel. Allein schon durch die Anzahl dreidimensionaler Würfel, die Teil des Hyperkubus sind, ergibt sich ein unvorstellbares Volumen. Die Formel zur Berechnung, wie viele m-dimensionale Würfel ein n-dimensionaler Würfel enthält, lautet folgendermaßen …” Sie tippte etwas in ihre Handfläche, ohne dass ich erkennen konnte, was dies bedeuten sollte. Daraufhin projizierte sie mit einem unauffälligen silbernen Ring am Zeigefinger etwas auf den Boden zu unseren Füßen. In grünen, leicht flimmernden Zeichen stand dort:

(2^(n-m)) n! / (m! (n - m)!)

“Du kannst ja mal Drei für m und Tausend für n einsetzen, um die Anzahl dreidimensionaler Würfel zu bekommen. Mit der Kantenlänge drei Millimeter erhältst du dann das, was wir Volumen nennen.”
“Jetzt?”
“Nein, wenn du mal Zeit hast. Oder nimm n gleich Drei und m gleich Zwei oder Eins. Dann erhältst du die Anzahl der Flächen respektive Kanten eines gewöhnlichen Würfels. Nur zum Nachprüfen.”
Statt die Formel im Kopf zu wälzen, trat ich näher an den Hyperkubus heran. “Für mich sieht das aus wie chaotisches Flimmern. Nicht wie ein Würfel.”
“In Wirklichkeit dreht er sich um mehrere Achsen. Das führt zu Verformungen, die uns unmöglich erscheinen. Viele seiner sichtbaren Bestandteile überlappen sich außerdem aus unserer Sicht.”
Kaum hatte Kavyloqa ihren Satz beendet, vernahmen wir das Geräusch von sich nähernden Schritten.
“Oh nnngh …” Kavyloqa musste sich fast sichtlich auf die Zunge beißen, um ein Fluchen zu unterdrücken. Sie bedeutete mir mit hektischen Gesten, still zu sein und mich nah an die Wand zu begeben.
“Kavyloqa!” erscholl eine wütende Stimme, deren Besitzer gleichzeitig aus einem anderen als dem von uns gewählten Eingang zur Hyperkubus-Kammer gelaufen kam. “Kavyloqa!”, wiederholte er noch einmal, als er vor ihr stand, “Da steckst du also. Und ich weiß auch, warum du dich in letzter Zeit rar machst. Die Bauteile, die ich schon seit langem vermisse, sind nicht rein zufällig …”, er zeigte auf den kleinen Attraktor an Kavyloqas Gürtel, ”da drin?!”
Kavyloqa legte ertappt und erschrocken die Hand auf das Gerät, als wolle sie es schützen. “Meine eigene Tochter.” Der Mann schüttelte den Kopf. Ich war verwundert über seine letzte Bemerkung, weil er selber nur wenig älter als Kavyloqa schien.
“Vater, du verstehst nicht, wie wichtig -” Ein schneller Griff ihres Vaters wischte ihre Hand beiseite und riss den Mini-Attraktor vom Gürtel. Er besah ihn sich, und für einen Moment verflog der Zorn aus seinem Gesicht. “Es ist sehr beachtlich, dass du so etwas bauen konntest. Bei Sirius musste ich dir noch helfen.” Nun wirkte Kavyloqa noch einen Hauch schuldbewusster.
Von deinem Vater – diese Worte erschienen vor meinem geistigen Auge.
Beiläufig warf der Mann das Gerät hinter sich auf den Boden, während er mit der anderen Hand wütend auf Kavyloqa deutete und sagte: “Das ist verdammt gefährlich. Nicht nur für dich oder uns. Du hast auch Tagländer gefährdet. Das solltest du wissen. Und aus welchem Notfall heraus befindest du dich eigentlich hier?”
“Ich … wollte nur den Hyperkubus sehen.”
Obwohl ich wusste, dass ich nur für Kavyloqa sichtbar war, schien es mir, als würde mich der Blick ihres Vaters nicht ganz zufällig streifen.
“Soso”, sagte er. Hinter ihm kam ein tonnenförmiger Roboter angefahren, griff den kleinen Attraktor und rollte damit aus der Kammer. Kavyloqa rührte sich nicht von der Stelle, aber ihr Blick folgte ihm mit großer Verzweiflung. Von ihrem Vater schien hingegen eine kleine Last abzufallen. “Du bist von Tagland besessen und du spielst mit dem Feuer. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich hatte gehofft … Geh nach Hause. Wir reden später.”
Kavyloqa holte tief Luft. Sie sah in die Richtung, in die der Roboter verschwunden war. “Aber”, setzte sie an. Ihr Vater unterbrach sie. “Nein! Es ist Schluss! Geh endlich!”
Für einen Moment spannte sich Kavyloqa an, aber dann verließ sie sichtbar die Kraft. Sie wandte sich um und rannte hinfort. Ich wollte ihr gerade folgen, da packte mich ihr Vater an der Schulter. Die Ausgangstür öffnete und schloss sich hinter Kavyloqa. Nun sah er mir direkt in die Augen. “Auch ich gönne mir zuweilen eine gewisse Frucht”, raunte er. “Aber was erzähle ich dir. Dies ist nur ein Traum. Du wirst bald aufwachen. Nur ein Traum.” Er ließ mich los. Ohne einen Augenblick zu zögern, begann ich zu rennen, um Kavyloqa einzuholen. Ich erreichte sie kurz vor der Aufzugsplattform. Ohne, dass weitere Worte nötig gewesen wären, griff ich meine Schuhe und sie ihre Stiefel. Erst beim Hochfahren zogen wir unsere Fußbekleidung an. Es war wie eine überstürzte Flucht. Kavyloqa standen Tränen in den Augen und ihre Lippen waren zusammengepresst. Sie zog einen Teil ihres Kleids nahe der Schulter hoch und wischte sich damit umständlich übers Gesicht. Zwei Tränen purzelten wie Glasperlen über einige Falten, dann zum unteren Saum und plitschten auf den Boden. “Wasserabweisend und antihaftbeschichtet”, sagte sie, wobei sie für einen Moment säuerlich schmunzelte.
“Er hat mich gesehen”, sagte ich.
“Waaas?! Das heißt … dieser … dieser … ”
“Ist das schlimm?”
Sie machte eine impulsive Bewegung, als wollte sie mich an den Schultern packen, hielt dann aber inne, als hätte sie Angst, etwas zu zerbrechen.
“Neinneinnein. Es ist alles in bester Ordnung. Verstehst du mich? Dir kann nichts passieren. Du darfst nur nicht aufwachen, also ruhig Blut. Ganz ruhig.”
“Ich verstehe.” Es dämmerte mir erst in dem Moment.
“Falls du jetzt aufwachst, war’s das. Der Attraktor ist für immer verloren. Wie fühlst du dich?”
Ich sah an mir herab und tastete meine Arme ab. “Ganz gut. Ziemlich solide.”
“Gut. Bleib so.” Sie machte eine beschwichtigende Geste mit beiden Händen in meine Richtung. Unser Aufzug hatte schon längst den Erdboden erreicht. “Wir müssen hier weg”, sagte sie. “Weg vom Trubel der Stadt und dahin, wo es angefangen hat. Das wird dich hoffentlich etwas stärker binden. Zurück zur Steilküste. Kannst du rennen?”
“Ich denke schon.”
“Dann los!”


Wir erreichten das Kliff in der Abenddämmerung. Die meisten Sterne waren bereits sichtbar. “Das war dein Vater? Wie alt ist er?”, fragte ich, noch etwas außer Atem.
“312. Aber sein biologisches Alter ist 27, das hat dich vielleicht verwirrt. Wer 36 ist, bekommt eine Gentherapie, die ihn auf das biologische Alter von sechzehn setzt.”
“Ihr sterbt niemals am Alter?”
“So ist es. Und genau deshalb konnten große Wissenschaftler wie mein Vater erst ihre Leistungen vollbringen. Es gibt Erkenntnisse, für die man zweihundert Jahre braucht, weil man das notwendige Wissen erst lernen und tief verinnerlichen muss. Vorher kann man die Zusammenhänge nicht erkennen.”
“Und wie alt bist du?”
“Ich habe erst eine Gentherapie hinter mir. Du solltest wissen, dass niemand vor seinem zweihunderfünfzigsten Lebensjahr überhaupt Kinder bekommen darf.”
“Oh.”
“Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, über diese Dinge zu sprechen.” Kavyloqa pflückte eine Noctarine von einem nahen Baum und hielt sie mir hin. “Nimm diese Noctarine.”
Ich nahm sie.
“Du sollst davon essen.”
Ich biss hinein.
“Gut. Und nun wirst du erstmals etwas sauber und wohlbehalten nach Tagland transportieren.”
“Was?”
“Mich.”
Für einen Moment dachte ich, ich würde jetzt augenblicklich aufwachen und nur dieses letzte Wort würde mir noch im Kopf nachhallen. Mich. Ich gewann meine Fassung wieder und sagte das Erste, was mir in den Sinn kam, weil es mir wichtig erschien: “Bei uns gibt es keine solche Gentherapie.”
“Ich weiß. Aber mein Vater hat wohl Recht. Ich spiele mit dem Feuer.”
“Bist du sicher, dass du mitkommen willst?”
“Ich bin fasziniert von Tagland und habe alles darüber gelernt. Weißt du was im Vergleich dazu hier passiert? Nichts! Alles stagniert, die Entwicklung ist am Ende. Und versuche nicht, mich davon abzubringen. Ich würde es hier in Nachtland eine Ewigkeit bereuen, wenn ich diese Möglichkeit verpassen würde.” Sie klopfte auf den zusammengefalteten Roboterfalken an ihrem Arm. “Der heißt ja auch nicht umsonst Sirius. Benannt nach einem eurer Sterne. Unsere Entsprechung ist da.” Sie zeigte in den Himmel. “Fällt dir was auf?”, fragte sie, während ich noch nach dem hellen Sirius suchte.
“Nein, warum?”
“Dann sieh mal dorthin. Zum Großen Wagen.”
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich es bemerkte. “Die Sternbilder sind gespiegelt!”
“Sie sind spiegelbildlich zu denen von Tagland, ja. Ich war auch erst baff, als ich die ersten Zeichnungen aus eurer Welt gesehen habe. Muss mit der Entstehungsgeschichte zu tun haben. Und ich werde alles darüber erfahren. Keine Zeichnungen und Abschriften mehr.”
“Und wie wollen wir den Transport nun bewerkstelligen?”
“Du erinnerst dich an die Trockenübung mit der Noctarine und dem Rufmodul von Sirius? Das müsste eigentlich schon reichen. Du hast deine Noctarine bekommen und weißt sehr gut, wie ich aussehe. Nimm meine Hand.”
Ich ergriff ihre Hand mit meiner Rechten.
“Nun schließ die Augen und visualisiere mich.”
Ihrer Anweisung folgend, schloss ich die Augen. Mühelos entstand ein genaues Abbild Kavyloqas in meinem Geist. Es blieb bestehen, ohne dass es weiterer Anstrengung bedurft hätte. “Es klappt”, sagte ich. Die Augen immer noch geschlossen haltend, merkte ich, wie Kavyloqa langsam zu gehen begann und mich mit sich zog.
“Dann musst du nun nach Tagland zurückkehren. Aber du musst beim Übergang, der möglichst kurz sein sollte, mein Bild aufrecht erhalten!” Ich fühlte, wie ihr Händedruck fester wurde. “Ich will nicht verzerrt werden!”, sagte sie mit einem leichten Beben in der Stimme. “Versprich es mir. Konzentriere dich!”
Schaudernd dachte ich einen Moment an die verzerrten Gegenstände: den Umschlag, den Kugelschreiber und die Fotos.
Ein Ruf erscholl hinter uns: “Kavyloqa!”
Verwundert öffnete ich die Augen und sah hinter mich. Es war ihr Vater, der auf uns zugerannt kam.
Nun geschah alles sehr schnell. Ich bemerkte, dass Kavyloqa mich ganz an den Rand des Kliffs geführt hatte. Ohne meine Hand loszulassen, trat sie halb hinter meine rechte Schulter und stieß mich mit ihrer linken Körperhälfte stark genug, dass ich das Gleichgewicht verlor und über den Rand stürzte. Kavyloqa, die meine Hand in diesem Moment so stark drückte, dass es schmerzte, folgte mir. Wie so oft in diesen Momenten, in denen die realen Ereignisse sich überschlagen, und in denen sich das Schicksal in Augenblicken entscheidet, nahm ich alles in Zeitlupe wahr. Ich drehte den Kopf nach rechts und sah Kavyloqa. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Haare wirkten durch Wind, Schwerelosigkeit und verlangsamte Zeit wie rote Tentakel. In einem ihrer Augenwinkel hing eine Träne, an der schon der Gegenwind riss, um sie über die Schläfe zu treiben. Dann richtete ich meinem Blick auf die Felsen unter uns, an die das Meer brandete. Es war weit unten, und doch würden wir gleich angekommen sein. Ich würde aufwachen, aber Kavyloqa …
Dieser Gedanke holte mich endlich aus meiner Trance. Geräusche drangen an mein Ohr. Es war mein eigenes Schreien, das Rauschen des Windes und das Donnern der brechenden Wellen. Die Luft war beißend kalt durch die aufgewirbelte Gischt. Sofort schloss ich die Augen und visualisierte Kavyloqa. Diesmal war es anstrengend. Adrenalin und Noctarinen vertrugen sich wohl nicht gut. Im letzten Moment blitzte Kavyloqa vor meinem inneren Auge auf.


Ich lag auf meiner rechten Schulter im Bett und konnte mein eigenes Herz hören. Hatte ich Kavyloqa sauber visualisieren können?
Ich will nicht verzerrt werden!
Es ging alles so schnell. Oder war doch alles nur ein Traum gewesen? Alles, was ich anscheinend die letzten Tage erlebt hatte?
Ich merkte an der Verformung der Matratze, dass etwas hinter meinem Rücken lag.
Es atmete.

Rasselnd.

 

Hej Leif,

eigentlich wollte ich nur mal kurz reinschnuppern, aber ich hab es dann nicht mal geschafft, Deinen Link für die bessere Lesbarkeit anzuklicken (obwohl ich geahnt habe, dass da einer ist - den kann man nicht über die Geschichte setzen?), sondern einfach schnurstracks durchgelesen.

Mir hat es sehr gefallen, wie die Traumwelt nach und nach immer klarer wurde und obwohl sie letztendlich ähnlichen oder gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt wie die der wachen Menschen, obwohl sie ihre anfänglichen Merkwürdigkeiten und Geheimnisse verliert (weil Kavyloqa alles erklärt), fand ich sie spannend.

Ich hab 'n paar Kleinigkeiten zu meckern:

Ich wachte auf. Mein Wecker piepte, dabei war es genau Mitternacht. Schlaftrunken erinnerte ich mich, dass die Batterien aufgrund eines fehlenden Deckels mal wieder herausgefallen waren und ich sie wieder eingesetzt hatte. Das stellte den Alarm immer auf 0:00 Uhr. Erst letzte Woche war mir dies passiert. Ich hätte daran denken sollen, den Alarm wieder zu korrigieren, war aber zu müde, um mich richtig zu ärgern. Bald versank ich wieder in Schlaf.
Das gibt es zu Beginn mehrmals, Stellen, die auf mich irgendwie umständlich wirken, als hättest Du Mühe, die jeweiligen Informationen unterzubringen, dabei sind es Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was später noch kommt und dann find ich davon nichts mehr.
Vielleicht wird so verständlicher, was ich meine:
Ich wachte auf. Mein Wecker piepte, es war genau Mitternacht. Schlaftrunken erinnerte ich mich, dass die Batterien aufgrund des fehlenden Deckels mal wieder herausgefallen waren und ich sie eingesetzt hatte, ohne daran zu denken, dass sich damit der Alarm auf 0:00 Uhr stellte. Erst letzte Woche war mir dies passiert. Ich war aber zu müde, um mich darüber zu ärgern und bald versank ich wieder in Schlaf.

Ich fühlte mich wie eine Hauskatze, die die Außenwelt bisher nur durch ein Fenster beobachtet hatte und nun zum ersten Mal nach draußen ging. Sofort begann ich, neugierig die Umgebung zu erkunden.
Ich kenne Katzen in der Situation ganz anders, deswegen fand ich den Vergleich unpassend, aber vllt waren die Katzen, die ich kannte auch ziemlich durch den Wind.

Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war, aus dem Kühlschrank.
Daran ist nichts falsch, aber schön klingt es nicht. Ich würd dann lieber zwei Sätze draus machen. Aber das sind peanuts.

Dass "Der kleine Prinz" zitiert wird, na ja, ich seh da keine Notwendigkeit und ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll ist zu versuchen, die Aussage "Man sieht nur mit dem Herzen gut" mit logischen oder anders gearteten Argumenten zu widerlegen. Eignet sich einfach schlecht, find ich.

Offen bleibt, warum Kavyloqa ihren Gast zum Hyperkubus bringt. Das würd ich ja doch gerne wissen.

Das Ende ist fies.
Dadurch, dass das "Rasselnd" mit soviel Abstand untergebracht ist, wirkt es auf mich beinahe zu arg. Als würde man es anleuchten.
Geschmacksache.

Hat Spaß gemacht.

LG
Ane

 

Hallo Leif,

ich bin sehr beeindruckt! Die Geschichte braucht eine Weile, um in die Gänge zu kommen, weil man erst ein bisschen mit der Nachtwelt vertraut werden muss, bevor man versteht, was eigentlich los ist. Aber der Text steigert sich enorm, und das Ende ist wirklich fies. Man wünscht sich ja, dass solche mutigen, entschlossenen Kinder, die Sehnsucht nach anderen Welten haben, erfolgreich sind, und nicht, dass die besorgten Väter in so einer Situation Recht behalten. Aber natürlich ist es genau der Versuch des Vaters, sie zu beschützen, der sie zu einer überstürzten Aktion mit tragischem Ausgang treibt. Und dann endet sie da wahrscheinlich im gleichen Zustand wie der Kugelschreiber und die Fotos am Anfang. Ich glaub der Prot wird sie mit einem Kissen von dem Elend erlösen müssen. :(

Wirklich eindrucksvoll finde ich die Beschreibung der Nachtwelt, es wirkt sehr gut durchdacht und du hast einige ziemlich komplexe Ideen wie den Hyperkubus eingebaut und verständlich gemacht, ohne dass die Leser mit Technobabbel überschwemmt werden oder Fluss der Geschichte gestört wird. Man merkt, dass du da mit viel Sorgfalt dran gearbeitet hast.

Auf der anderen Seite hatte ich das Gefühl, dass das Worldbuilding die anderen Aspekte der Geschichte - also Figuren und Plot - ein wenig überschattet. Am Schluss war mir Kavyloqa sympathisch, aber es dauert ziemlich lange, bis die Figur lebendig wird, und mit dem Erzähler konnte ich gar nicht richtig warm werden. Ich weiß nicht, ob man ihm (bzw. dir) das so richtig zum Vorwurf machen kann - Kavyloqa ist ihm einfach unheimlich weit voraus, und er ist natürlich völlig überfordert. Aber er bleibt halt die meiste Zeit sehr passiv, er lässt sich da so mitschleifen und dient vor allem als Auge des Lesers, mit wenig eigener Persönlichkeit.

Hinzu kommt noch, dass sich der Sinn einiger Dinge nicht wirklich erschließt, wie der von Ane erwähnte Trip zum Hyperkubus. Sicher hat Kavyloqa eigentlich ein längeres "Training" geplant und Bastian hätte noch einiges lernen müssen, bevor es sicher gewesen wäre, etwas oder jemanden aus seinem Traum mitzunehmen, und bestimmt hat der Besuch des Kubus damit zu tun - aber dadurch, dass der Vater sie unterbricht, bleibt eben vieles offen und der Teil wirkt ein bisschen wie eine Schulstunde, deren Ziel man nicht kennt. Ich würde das aber an deiner Stelle nicht unbedingt ändern. Es ist ja nicht das Ziel, dass der Leser alles über diese andere Welt lernt, sondern es geht eher darum, Kavyloqas Geschichte zu erzählen - und die weiß genau was sie will, und erzählt Bastian eben nur das, was er wissen muss, um ihr helfen zu können. Deshalb finde ich es nur folgerichtig, dass am Ende ein paar Rätsel bleiben.

Also trotz der genanten Schwächen hat mir die Geschichte insgesamt sehr gut gefallen. Es kommt leider öfter mal vor, dass Autoren "andere Welt mit völlig anderen Regeln" als Ausrede nehmen, sich nicht um Sachen wie Logik oder die Motivation ihrer Figuren scheren zu müssen, aber hier hatte ich das Gefühl, dass alles ineinandergreift und sich die Ereignisse ganz natürlich entwickeln. Ich hab dir geglaubt, dass die Nachtwelt so existieren und funktionieren könnte. :)

Ein paar Detailanmerkungen:

Warum eigentlich wie ein Tiger? Ich hatte doch keine bösen Absichten, was Tiger wahrscheinlich fast immer haben. Allein diese Zähne.
Da fand ich den Erzähler ein bisschen geschwätzig, weil seine Tigergedanken mit der Geschichte ja nichts zu tun haben, ich würde die Sätze rausnehmen.

“Wer bist du?”, fragte es mich und kam dabei weiter auf mich zu. Seine Schritte erschienen mir dabei ebenso zögerlich wie meine zu Beginn.
Du hattest das "Mädchen-Problem" ja vor ein paar Tagen schon angesprochen im Forum ... nach meinem Gefühl stehen die Sätze schon weit genug weg von "Mädchen" um sich nach dem natürlichen Geschlecht zu richten, also "sie" und "ihre" zu schreiben. Das ist aber bei mir generell so - es ist sicher korrekt, sich da nach dem grammatischen Geschlecht zu richten, aber wenn beides geht, sagt mir das "sie" vom Bauchgefühl her mehr zu.

“Ich heiße Bastian”, sagte ich. “Aber wie heißt du?”
Meine allererste Assoziation bei dem Namen war die Unendliche Geschichte, deshalb wollte ich mal neugierig fragen, ob es eine bewusste Hommage ist. :)

Es schien in einem Zustand der Freude und Erleichterung zu sein.
Der Satz gefällt mir nicht so, Zustand klingt irgendwie klinisch. Vielleicht: Es/sie wirkte erfreut und erleichtert, mich zu sehen?

<cite>Von Kavyloqa</cite> stand darauf.
Da hast du noch ein Formatierungsdings drin.

Aber das konnte man den nacht*ländischen Forschungs*reisenden kaum anlasten.
und hier sind Asterisken drin

“Hm. Mit diesem Satz habe ich mich nie anfreunden können. Wenn ich das Wesen von etwas ergründen will, benötige ich meinen Verstand. In dem Sinn ist es für die Augen wirklich unsichtbar, ja. Vielleicht merkt man an dem Satz auch, dass es in Tagland keine Noctarinen gibt.”
“Naja, aber irgendetwas ist doch dran an der Aussage.”
“Je mehr ich diese Worte überdenke, desto absurder erscheinen sie mir. Man sieht nur mit dem Herzen gut. Nur! Das hat so etwas Ausschließliches. Wir wissen doch beide, dass das nicht stimmt.”
So hatte ich das noch nie gesehen. “Wenn ich so drüber nachdenke … da bin ich geneigt, dir Recht zu geben.”
“Siehst du? Und hast du das jetzt mit dem Herzen oder dem Hirn gesehen?”
Im Gegensatz zu Ane mochte ich die Stelle. Ich bin aber auch einer der wenigen Leute die ich kenne, die den kleinen Prinzen nicht besonders mögen, ich finde das Buch bloß kitschig. :)
Aber ich finde das macht auch Kavyloqas Sichtweise schön deutlich. Trotz ihrer Faszination fühlt die sich der Tagwelt glaube ich schon sehr überlegen, sie wirkt ganz schön arrogant. Das ist aber auch verständlich wenn man das Technologielevel bedenkt, und nach den Maßstäben ihrer Welt ist sie ja auch noch total jung, da ist ein bisschen Hybris erlaubt (auch wenn es hier böse endet).

Die gestaltete PDF-Version ist übrigens ein echt toller Service, die fand ich optisch sehr ansprechend (auch wenn ich ich trotzdem hier auf kg.de am Bildschirm gelesen habe :D).

Grüße von Perdita

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ane und Perdita,

danke für die Kritiken. Es ist interessant, wie sehr sich in den Kritiken auch meine Gedanken widerspiegeln.

@Ane:
Ja, ich tue mich schwer damit, die Sachverhalte einfach zu erklären, weil diese in meinem Kopf noch komplexer sind als ich sie den Lesern letztendlich mitteile. Tatsächlich lasse ich einige Details, und damit dann auch Erklärungen weg - es wurmt mich zwar, dass der Leser dann nicht alles erfährt, aber die Geschichte soll auch noch einigermaßen leserlich werden. Hätte aber nicht gedacht, dass gerade das mit dem Wecker angesprochen wird. Werde ich prüfen.

Bei Katzen weiß man nie so recht. Ich hatte mal eine. Als ich sie nach langer Zeit rausgelassen hab, ist sie abgehauen und nie wiedergekommen. Diese neugierige Erkunden der Umgebung bezieht der Leser in dem Moment auf Katzen, womit es unpassend wirkt. Mir ging es bei dem Vergleich nur darum, die Sinneseindrucksüberschwemmung einer Katze darzustellen. Das Erkunden sollte nicht mehr dazugehören. Vermerkt.

Daran ist nichts falsch, aber schön klingt es nicht. Ich würd dann lieber zwei Sätze draus machen.
Ich persönlich finde, dass ich die Tendenz habe, zu kurze und einfache Sätze zu schreiben (jedenfalls in Geschichten). Dagegen kämpfe ich immer an. Lovecraft oder Poe, die haben wilde Sätze und einen schillernden Wortschatz. Ich bin am anderen Ende des Spektrums.

Dass "Der kleine Prinz" zitiert wird, na ja, ich seh da keine Notwendigkeit und ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll ist zu versuchen, die Aussage "Man sieht nur mit dem Herzen gut" mit logischen oder anders gearteten Argumenten zu widerlegen.

Das soll Kavyloqa charakterisieren. Sie ist Tochter eines Erfinders und den Drang, Dinge logisch zu sezieren. Aber sie hat eben auch seinen Entdeckergeist. Was ich sonst so vom "Kleinen Prinzen" halte - siehe mein Kommentar zu Perditas Kritik.

Danke für deine Kritik. Es freut mich, dass dir die Story Spaß gemacht hat. :)

@Perdita:

Aber der Text steigert sich enorm, und das Ende ist wirklich fies. Man wünscht sich ja, dass solche mutigen, entschlossenen Kinder, die Sehnsucht nach anderen Welten haben, erfolgreich sind, und nicht, dass die besorgten Väter in so einer Situation Recht behalten. Aber natürlich ist es genau der Versuch des Vaters, sie zu beschützen, der sie zu einer überstürzten Aktion mit tragischem Ausgang treibt. Und dann endet sie da wahrscheinlich im gleichen Zustand wie der Kugelschreiber und die Fotos am Anfang. Ich glaub der Prot wird sie mit einem Kissen von dem Elend erlösen müssen.
Da hast du also schon weiter gedacht.
Ja, es ist echt übel. Ich mag Kavyloqa als Charakter sehr. Zusammen mit ihrem Sirius wäre sie ein idealer Kandidat, um Abenteuer zu erleben und brenzlige Situationen zu meistern. Ursprünglich war es ein kleines Experiment von mir, dieses letzte Wort unter den Text zu setzen und ihn so anderen zum Lesen zu geben. Bei entsprechendem Feedback hätte ich es ggf. wieder gelöscht. Aber dann habe ich mir gedacht, dass so mancher Leser vielleicht lieber mit einem Schock verabschiedet wird und die Story dann auch im Kopf bleibt. Aber ich finde es auch grausig, wenn man weiterdenkt, was die nächsten Minuten passiert. Vor allem, weil der Prot auch noch dran schuld ist und Kavyloqa so hoffnungsvoll war. :( Da male ich mir lieber aus, dass die beiden irgendeine Lösung finden, um Kavyloqa zu retten. Ich habe nur keinen blassen Schimmer, wie das gehen soll.

Da fand ich den Erzähler ein bisschen geschwätzig, weil seine Tigergedanken mit der Geschichte ja nichts zu tun haben, ich würde die Sätze rausnehmen.
Genau das war auch mein Gedanke. Irgendwie habe ich es dann wohl doch versäumt. Es gibt aber Autoren, die beherrschen die Kunst des Laberns.

Auf der anderen Seite hatte ich das Gefühl, dass das Worldbuilding die anderen Aspekte der Geschichte - also Figuren und Plot - ein wenig überschattet. Am Schluss war mir Kavyloqa sympathisch, aber es dauert ziemlich lange, bis die Figur lebendig wird, und mit dem Erzähler konnte ich gar nicht richtig warm werden. Ich weiß nicht, ob man ihm (bzw. dir) das so richtig zum Vorwurf machen kann - Kavyloqa ist ihm einfach unheimlich weit voraus, und er ist natürlich völlig überfordert. Aber er bleibt halt die meiste Zeit sehr passiv, er lässt sich da so mitschleifen und dient vor allem als Auge des Lesers, mit wenig eigener Persönlichkeit.
Genau das ist das Problem, dass ich beim Schreiben gesehen hatte. Aber er kann da auch gar nicht viel machen. Die Welt ist komplett fremd und ich weiß nicht, wie er der Geschichte wirkliche neue Ideen hinzufügen könnte. Das ist ein wunder Punkt der Geschichte. Aber auch das Worldbuilding ist eben ein Faktor. Es war ziemlich schwierig, es nicht ausarten zu lassen. Aber weniger wäre meiner Meinung nach nicht mehr gegangen, obwohl ich einige Details ausgelassen und Fragen unbeantwortet gelassen habe.

Der Trip zum Hyperkubus war meiner Meinung nach wichtig. Kavyloqa musste einem Tagländer dieses Ding zeigen. Immerhin hat ihr Vater es gebaut und sie ist stolz drauf. Außerdem betrifft es alle Tagländer und dient ihr vermutlich auch als weiterer Beweis für Bastian, dass er nicht träumt.

Ich hab dir geglaubt, dass die Nachtwelt so existieren und funktionieren könnte.
Juchhu! :D

Der Name "Bastian" ist in der Tat eine Hommage an die Unendliche Geschichte. Ich habe mir gedacht, dass beide Protagonisten in die Welt ihrer eigenen Fantasie reisen. Natürlich ist das bei meinem Bastian nicht mehr ganz der Fall, weil er meta-luzide wird, so dass er das reale Nachtland sehen kann. Krass, dass dir der Gedanke kam.

Im Gegensatz zu Ane mochte ich die Stelle. Ich bin aber auch einer der wenigen Leute die ich kenne, die den kleinen Prinzen nicht besonders mögen, ich finde das Buch bloß kitschig.
Tja, bei mir war es ähnlich. Als wir es in der Schule lesen mussten, fand ich die Weisheiten so banal und nicht weiter erwähnenswert. Wie kann etwas pädagogisch eingesetzt werden, was einen nichts Neues lehrt? So dachte ich es mir damals. Auch damals wurde dieser Satz hervorgehoben, und es hat mich genervt, weil er im Gegensatz zu einigen tatsächlichen Weisheiten in dem Buch offensichtlich Quatsch ist und auch sehr zum Schaden anderer Leute sein kann. Warum bringt man Kindern bloß so etwas bei? Wie du stand ich mit der Meinung aber eher alleine da.
Mittlerweile, da ich nun lang genug auf diesem Planeten verweilt habe, sehe ich das Buch insgesamt etwas anders. Ich musste lernen - und sehe es auch in allen Medien - dass zu viele Menschen doch selbst mit der Befolgung dieser banalen Weisheiten hoffnungslos überfordert sind. Würden sie das Buch lesen und verinnerlichen, wäre das vermutlich eine Verbesserung. (Ja, das klingt vielleicht zu zynisch. Sorry.)


Danke für deine Kritik.

Gruß
Leif

 

»Die Träume träumen Träume ohne Grund.«
Ernst Meister, L’Homme Machine Bleue II (1932)​

Die wahre Hochtechnologie ahmt die Natur nach,

lieber Leif,

gilt wohl auch für andere Künste, wie die Literatur und so hier bei der Geschichte der Ausreißer-/Grenzüberschreiter, kurz: Rumtreiber. Gemeinhin unterstell ich, dass Autoren bei der Namenswahl bewusst vorgehen und Namen nicht Rauch und Schall sind.

“Sirius ist natürlich ein Roboter”, merkte Kavyloqa an
Sirius, der Hundsstern, der hellste Fixstern am Firmament (wohl auch in Kavyloqas Welt), und Bastian (Kurzform von Sebastian) ist der Ehrwürdige. Was bei der Frucht noch angeht -
Noctarine -
Nektar ist der Trank der Götter und die Nektarine (eine unbehaarte Pfirsichsorte) dem nachgebildet. Sollte Noctarine der Pfirsich der Nacht (nox) sein, lässt mich beim Nacht- und Traumwesen raten: Kavyloqa? Kawi wäre eine uralte Schriftsprache auf Java, aber älter als die Ausreißeerin. So ist halt die Welt der Fantasy, die hier in diesem 14-seitigen Traumwerk freilich an SF, Science Fantasy heranreicht.

Eine Noctarine wirkt für die nächste Wach- und Schlafphase.
Was m. E. (wenn vielleicht auch unbewusst) auf die alte Bedeutung der Nacht hinweist, galt doch den Alten der Tag als die Zeit von Sonnenauf- bis –untergang. Etymologen vermuten, dass das ahd. tag der indoeuropäischen Wurzel *dheg[Ý] = brennen verwandt sei. Die Nacht hingegen von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang, also 24 Stunden (wenn in Nachtland überhaupt die Zeiteinteilung des Taglandes verwendet wird).

Wie dem auch sei: ein herkömmlicher Traum ist es nicht, gleichwohl studierte ich die Fakultät der Dimensionenrechnung mit Vergnügen. Man glaubt gar nicht, wie schnell man die ca. 7 Mrd. potentiellen Traumwelten in der Weltbevölkerung damit erreicht (< 14!). Aber es bedarf Sitzfleisches!, die Fakultät weniger als die Geschichte - oder Sturheit, die mir auch nachgesagt wird.

Gelegentlich wird entbehrliches genannt, wie hier

Ich riss eine Ecke ab und öffnete den Umschlag mit einem gekrümmten Finger als Brieföffner,
wo’s der Brieföffner ist, den zu verschweigen keine Verwirrung auslösen würde.

Bissken Rechtschreibung

Lückenlos schloß Metall an Metall.
schloss

Rauhheit
Rauheit

Soweit
(Konjunktion) und so weit müsstestu noch mal durchschauen, wie auch das noch
nochmal
das zwar meistens umgangssprachlich zusammen, nach Regel aber auseinandergeschrieben wird, im Gegensatz zum nochmals.

Bissken Zeichensetzung

… Sie heißt Noctarine.” Sie griff in das Gras rechts neben sich und holte eine dieser lila Früchte hervor. [“]Aus gutem Grund habe ich immer welche in der Nähe. Aber sie schmecken auch gut.”
Und das Gegenstück hierzu
“Volle Punktzahl. In diesem Zustand könntest du das Ding mit in deine Welt nehmen. Als ich dich vom Kliff gestoßen habe, warst du noch nicht soweit.[“]
“Kavyloqa!”[,] erscholl eine wütende Stimme.
Weißt du[,] was im Vergleich dazu hier passiert?

Gruß

Friedel

 

Habe nun ein PDF mit der wunderschönen Illustration von Denise Busch hochgeladen, der ich hier nochmal meinen Dank ausspreche. :) Siehe mein erstes Posting unter der Story.

 

Hallo Friedrichard!

Du hast tatsächlich herausgefunden, wie ich auf das Wort "Noctarine" gekommen bin. Ja, es bezieht sich auf das lateinische Wort für "Nacht". Wobei das je nach grammatischem Fall anscheinend auch "nocte" heißen kann. Siehe auch "Carpe noctem". :D

Toll finde ich auch, dass du hinter dem Namen Kavyloqa einen Code vermutest, damit liegst du richtig. Ich tu mich schwer damit, klangvolle Namen aus dem Nichts zaubern. Außerdem gefällt es mir, wenn Bedeutung dahintersteckt. Weil Kavyloqa den Pfad für Bastian in die Traumwelt ebnet, besteht ihr Name im Wesentlichen aus dem Wort "Pfad" zweimal, wobei es erst um vier Buchstaben im Alphabet zurückverschoben wird (=> "Kavy") und dann (nochmals von "Pfad" ausgehend) um elf nach vorne (=> "aqlo"). Beim zweiten muss man dann eben - beschönigend gesagt - ein Anagramm draus machen, so dass es gut klingt. ;)

Es gibt noch einen weiteren Code in der Story, der aber ganz anders funktioniert. Ich rechne nicht wirklich damit, dass jemand dahinterkommt.

Besonderen Dank auch für die Rechtschreib-/Grammatikkorrekturen. Da hatte ich wohl doch noch einige übersehen.

Gruß
Leif

 

„Ich zoch mir einen valchen mer danne ein iar.
als ich in do getroute, als ich in wollte han,
vnd ich im sin gevidere mit golde wol bewant,
do huob er sich hohe vnd floch in anderiv lant.“​

Das Mädchen stand auf und drehte sich zu mir um. Es konnte […] Seine Schritte erschienen mir dabei ebenso zögerlich wie meine zu Beginn.
“Ich heiße Bastian”, sagte ich. “Aber wie heißt du?”
“Kavyloqa.”
… Ich fragte mich, ob ich sie kennen könnte.

Hallo Leif,

vorweg: den andern Code hab ich noch gar nicht gesucht, ich schau aber noch mal rein, und das Problem des grammatischen Geschlechtes für Frl. K. hastu m. E. großartig gelöst, indem Identität des biologischen mit dem gramm. erst mit der Namensnennung einsetzt. Das Argument etwa, dass es keine Mägde mehr gäbe, geht an der sozialen Wirklichkeit vorbei, denn was wären Dienstboten, Haushälter/-meister, Gelegenheitsarbeiter und sonstige „geringfügig Beschäftigte“ und „haushaltsnahe Beschäftigungen“ (Steuerjargon) anderes, als Mägde und Knechte (Tagelöhner), selbst wenn ich die Frauensleute iron(isch) maiden nennte?

„Sit sach ich den valchen schone fliegen.
er furt an sinen beinen guldin riemen.
ouch was im sin geuidere rot guldin.“​

Ich hab eine uralte, nennen wir’s Vorschau auf Deine Tag- und Nachtwanderung schon seit Urzeiten hier an Bord stehen. Sie stammt aus dem 12. Jh. und ist – im Gegensatz zu dem, wie’s hier aussieht – ein einstrophiges Minnelied. Die Form dürfte den Interessierten bekannt vorkommen, es ist die sog. „Nibelungenstrophe“, die aber schon eine Generation zuvor von dem von Kürenberg geschaffen wurde (darum korrekt „Kürenbergerstrophe“). Das Falkenlied schließt:

„got sol si nimmer gescheiden, di lieb recht ein ander sin.“​

Neben der Form der Strophe hat der Kürenberger noch eine Neuerung in den Minnesang eingeführt: den Rollentausch, nicht der Kerl (nennen wir ihn Bastian) spricht, sondern die Herrin (Frau/vrouwe, hier erkennt man die seltsamen Wandlungen der Sprache: im ahd. wurde sie schon mit „f“ geschrieben, die Herrin!), nennen wir sie

“Kavyloqa.”
(sehn wir mal ab, dass ...loqa mich stark an "lokal" erinnert.

Ich brache nicht einmal im Konjunktiv zu formulieren!:
Die hat nun einen valchen (Falken) (Sirius, der zudem noch auch im Nachtland der hellste Stern am Himmel ist) und für den Kürenberger ist der Falke der Geliebte, was nun hier die Gleichung Sirius = Bastian geben mag, der geradezu mechanisch/automatisch den Weg ins Nachtland betritt.

[Die eher prosaische Übersetzung lautet:

„Ich (er)zog mir einen Falken, mehr als ein Jahr./Als ich ihn gezähmt hatt’, wie ich ihn haben wollte,/und ich ihm das Gefieder mit Gold gekleidet’,/da erhob er sich in die Lüfte, flog in ein andres Land./Seitdem sah ich den Falken schön (besser: wundervoll) fliegen./Er führt’ an seinen Beinen goldene Riemen (vielleicht besser: Ring)./Auch war sein Gefieder rot-golden./Gott soll die niemals trennen*, die sich lieben.]

* Das Verb scheiden ist uns heute in bürgerliche Hände gelegt und verbietet sich mir darum.

So viel oder wenig vor Turin vom

Friedel,
der sich noch von gestern erholen muss - aber es waren zwei Abseitstore - eins für Wandalusien und gerechterweise eins fürn Pott!

 

Friedrichard, ich bin mal wieder erstaunt über deine Kenntnisse deutscher Sprachgeschichte. Mir erscheinen diese Parallelen zwischen dem Minnelied und Nachtland wunderbar genug, auch wenn sie natürlich recht locker sind und klar zufällig. Ohne deine Übersetzung hätte ich übrigens fast nichts verstanden.

Gruß
Leif

 

Dritte Lieferung (nur zum ersten Drittel erstmal),

lieber Leif,

bevor's zum buchstälichen Dialog gerinnt. Ich hoff, ich werd nicht allzu lästig.

Zuvörderst, was im ersten Durchgang durchgegangen ist (also immer noch keine Gewähr auf Vollständigkeit), erst Zeichensetzung und dann zu Wortbedeutungen ...

Sie trug ein einteiliges[,] weißes Kleid, …
Hatte ich im ersten Durchgang die Adjektive als ungleichwertig angesehn, dass mir jetzt erst klar wurde, dass der Einteiler keineswegs das Weiß näher bestimmt?

…, und wo ich hin sah[,] offenbarten sich Details bis hin zur Unendlichkeit.

“Schnell, iss von dieser Frucht!”
Ohne weiter zu überlegen, nahm ich einen Bissen. Sie schmeckte süß und …
Hier komm ich beim langsamen Lesen (und verdauen) ins Stolpern:
… Bissen. Sie schmeckte …
Du meinst DIE Frucht, der Bissen ist aber mehr als sein Verb (beißen), er ist eienrseits DER Biss, aber andererseits als BISSEN Teil der Frucht, und nicht die Frucht selber. Korrekt, so finde ich
“Schnell, iss von dieser Frucht!”
Ohne weiter zu überlegen, nahm ich einen Bissen. [Er] schmeckte süß und …

Ich hab nun ein paar Adjektive, die gerne verwendet werden, die aber bei mir das Gegenteil auslösen von dem, was sie eigentlich (da ist so eins) bewirken wollen. Neben wirklich und „ehrlich“ ist es kritisch, denn wenn einer betont, etwas kritische beurteilen zu wollen, frag ich mich, wie urteilt er sonst - unkritisch? Wer gäbe so was zu?
Es schien, als wollte sie noch etwas sagen, aber sie stockte und musterte mich kritisch mit zusammengekniffenen Augen.
Wenn ich die Augen zusammenkneif, dann will ich was besser erkennen, womit wir diese Rubrik verlassen und zum schöneren übergehn, denn
Ihr Gürtel war so kupferfarben wie ihr Haar, das am Rand ihrer Silhouette violett schimmerte.
Erinnert mich an meine nun auch in die Jahre gekommene Fähe Belgia zu Zeiten, da Bingo (+ 2009, mein Lieblingsköter, obwohl ich durchaus alle gleich behandel) noch lebte und noch kein graues Haar zu sehen war: das Haar der Groendaele war lang und Rabenschwarz, in der Sonne jedoch schimmerte es alles andere als dunkel, sondern wie ein vier- und langbeiniges Abbild der Sonne – hennafarben.
Kupfer find ich überhaupt gut gewählt, vor allem fürs Nachtland: die Verwendung von Kupfer zwischen Neolithikum und Bronzezeit (in dieser Kupferzeit waren z. B. die amerikanischen Hochkulturen erst angekommen, als sie schon wieder zerstört wurden) ist der größte technologische Fortschritt überhaupt in der Weltgeschichte (alles andere ist nur Variation über ein Thema, bis hin zum Kupferkabel). So zeigstu, reißt zumindest an, dass der technologische Fortschritt auch eine Nachtseite hat. Und glaube keiner, die Kung („Buschleute“) und andere Naturvölker hätten den Sprung nicht geschafft: sie haben’s nicht gewollt, behaupte ich, und erleben dergleichen auch gar nicht erst in ihrer Traumwelt. Dennoch werden sie von übermächtigen Nachbarn gezwungen, eine einzige, die westl. Zivilisation anzunehmen - was nun jeden wieder an den Sündenfall erinnern sollte.
So ist auch der Nachtmensch der alte Troglodyt, repräsentiert spätestens im Auftritt der Vaterfigur.
Das stellte den Alarm immer auf 0:00 Uhr..
Auch das ist eine richtige Wahl, denn z. B.das Wort „Mitternacht“ zu wählen ist in Zeiten der aufgekommenen und unsinnigen Trennung von MEZ und MESZ ja gar nicht mehr möglich. Über den Sinn dieser Einrichtung sollte man weniger die vermeintlichen Energiesparer befragen (was machen wir eigentlich mit der vielen, gesparten Energie?) als die Kriegsherren, pardon, Verteidigungsminister. Wenn das Wecken um sechs Uhr schon eine Stunde früher stattfindet, wird auch eines Tages eine Stunde früher zurückgeschossen, bevor der sog. Feind überhaupt auch nur gepupst hätte.

Und da fällt die Wortwahl auf (um ein Haar hätte ich noch "auffällig" dazwischengeschoben:

“Vielleicht bin ja auch ich konsistent”,
als wäre K. – sagen wir mal als Beispiel – Kondensmilch.
Konsistenz – „Beschaffenheit eines Stoffs“, unterschieden n. nach Vermögen, die Form zu ändern (Wasser: flüssig, fest, gasförmig, Kondensmilch flüssig, im Verfall zähflüssig, klumpig/fest). Wie Konsistent ist überhaupt Nachtland/Traumwelt? Welche Konsistenz hat aber Tagland?

Da kann das kurze Leben kein Maßstab sein. Selbst Tiere träumen (man beobachte schlafende Hunde, die gerade erlebtes aufarbeiten).

Das Erdinnere ist dem Urzustand näher, als das Äußere – das ja nur den kleinsten Teil der Erde ausmacht usw. Auf die Geschichte bezogen: Träume – und somit Nachtland – sind alles andere als konsistent.

Ich nehme an, dass das kursive „ich“ in der wörtl. Rede das Selbst (G. H. Mead oder C. G. Jung) und/oder das Ich (von Fichte bis Hegel, aber auch im Freudschen Modell) bedeutet, dass nicht nur ich frage, wie „konsistent“ bin ich als Säugling -. Kleinkind – Kind – Jugendlicher – Erwachsener – Greis (und natürlich allen Entwicklungsstufen dazwischen) – die Widerspruchsfreiheit kann’s nur bei jenen Menschen geben, die nie auf Widerspruch stoßen, sich nie reiben. Eigentlich der ideale Zustand für den Traum, der aber tut, was er will, und darum von den meisten nicht verstanden werden kann, dass daraus das Geschäft der Deuter wird (Orakel bis zum Seelenklempner).

Die Gedanken zu zahnlosen Schwertfischen, einer vereinsamten Erdbeere (wahrscheinlich mit Geschmacksverstärker), Joghurt und trockenem ägyptischem Totenkult halt ich mal noch bei mir.

Schönes Wochenende wünscht der

Friedel,
der gleich mit der Veronika 'n Bierchen trinken wird, der warme Bursche, den sie mitgebracht hat, bekommt auch'n Maibock

 

He Leif,

Ich habe die Geschichte einmal angefangen und sie hat mich nicht sofort gehooked. Das Thema Traum-Wirklichkeitsmisch wurde ja schon sehr häufig bemüht. Wieder weggeklickt. Hatte aber auch wenig zeit.
Gestern war der Moment, da ich deinem Text die zweite Chance geben wollte *Gönnermodus* ;)
Nicht zuletzt weil ich von "Saft" noch sehr starke Eindrücke habe.

Ich finde den Einstieg etwas behäbig. Das ist auch der nahliegendste Einstieg. Linear. Wie wäre es mit dem Stoß von der Klippe als Hookline?
Obwohl ich den Titel sehr schön finde, vermittelt er in Kombination mit den ersten Absätzen leider wenig Spannung. (Tagländer klingt fast noch reizvoller, greift aber vll ein bisschen am zentralen Thema Vorbei) Ich denke, da verlierst du im Vorfeld schon einige Leser mit. Was schade ist, weil ich die Geschichte sehr genossen habe, nachdem sie dann in Schwung kam. Das merkt man Auch an meinen gleich folgenden Notizen. Damit habe ich bald aufgehört, weil der Kritiker zugunsten des Lesegenusses den Platz Räumen musste.
Also du hast da so viele starke Ideen drin, das spielt in einer Liga, die wirklich richtige Klasse hat!
Hauptkritikpunkt ist der manchmal zu sehr in den Vordergrund drängende Gedankenstrang des Prots. Da solltest du durchaus noch mal verdichtend nachbürsten.

Hier nun meine Notizen

" Der Wahnsinn mäanderte durch die Luft und schlängelte sich lauernd um meinen Kopf"
Mäanderte - das ist es Punkt! Was soll das redundante schlängeln hinterher, gefolgt von dem lauernd. Deutlich zu viel des unguten

"durchgemacht. Einer ging gerade in einen dicken Baum, jedenfalls erschien es mir so. Aber ich sagte mir, dass er in Wirklichkeit wohl hinter ihn gegangen war."
Unglücklich formuliert. Das liet sich nicht. Umstellen: Es schien mir, als ...

"Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war, aus dem Kühlschrank"
Wäh! Dieses angeklatschte aus dem Kühlschrank. Hinter den Joghurt - wo es hingehört

"Was mich am meisten interessierte, waren die Dinge im Umschlag. Ich erzählte Kavyloqa von dem verzerrten Kugelschreiber und von den rätselhaften Fotos, die Geräusche machten, wenn sie nass wurden.
Diese Zusammenfassung ist doch unnötig. Der Prot. Weiß es, Kavyloqa weiß es - und das wichtigste: der Leser weiß es auch. ;)
Generell finde ich seltsam, dass bei all dem seltsamen das das erste ist, was ihn am meisten interessiert, aber gut


Kavyloqa nickte. “Unser letzter Abschied war etwas … überstürzt.” "
Hehe

"Für einen Moment amüsierte ich mich über Kavyloqas Gedanken – die ja in Wirklichkeit meine eigenen sein mussten. Oder waren sie das nicht? Hatte ich tatsächlich zuhause diesen Umschlag in der Blechdose oder täuschte mich mein Geist im Traum? “Dass"
Du verlangst ja eine ganze Menge, was der Leser einfach so hinnehmen muss, in den träumen aber da driftest du mir zu sehr ins gedankliche erklären ab. Gerade bei dieser Stelle, die is mir zu viel. Davor war da bereits so eine Passage, die würde ich streichen.

"Es klingt in Wirklichkeit sehr beschwingt und schnell"
Beschwingt reicht

"Konnte sich mein träumendes Gehirn so etwas noch ausdenken"
Hier wieder eine dieser Passagen. Das sollte doch der Erzähler im Leser auslösen, nicht selbst drauf aufmerksam machen.

"Die Farben wurden stumpfer, die Sicht verschwommener"
Also ich zu mich mit Steigerungen immer schwer im Text, wenn sie nicht gebraucht werden. Das liest sich für mich bemüht und ungelenk. Was spricht denn gegen
"Die Farben wurden stumpf, die Sicht verschwamm."
Steigern sollte man nur, wenn es nötig ist.

"Ich nickte. Es war klar, was sie meinte."
Wenn es klar ist, dann brauchst du die Erklärung nicht. Nicken drückt das ja aus. Wenn er nickt, obwohl etwas anderes emeint ist, dann bruacht es eine Erklärung

"unstofflichen Tentakeln meines Geistes halten"
Geist= unstofflich

"“Ja und nein. Es ist eigentlich eher so: Ein Tagländer – das sind Leute wie du – erscheint hier, wenn er träumt. Aber er weiß normalerweise nichts davon. Er träumt seine eigenen Sachen und schlafwandelt sozusagen bei uns. Wenn er vom Kampf gegen einen Drachen träumt, schlägt er wild um sich und kann einiges kaputt machen, falls er zum Beispiel in einer Wohnung auftaucht. Er kann auch auf der Flucht vor einem imaginären Monster sein und durch Blumenbeete und Buffets laufen. Es ist furchtbar. Außerdem können wir euch nur sehen, wenn wir Noctarinen essen"
Das ist ein köstliches Bild

Und hier enden die Aufzeichnungen. sehr gern gelesen.

Grüßlichst
Weltenläufer

 

Hallo Leif –

bleibt's doch nicht beim Dialog. Dann folgt jetzt das Pivotelement zwischen den Teilen Deiner Geschichte.

Zuhause sah ich mir eine Dokumentation über ...
An dieser Aneinanderreihung von Gegensätzen hätte nicht so sehr Siggi Freud, sondern eher Lévi-Strauss seine Freude, wiewohl aus der Wundertüte ein schön absurder Traum neben dem des Nachtlandes sich herauslesen ließe.

Ins Zuhause geraten unterschiedliche, buchstäblich ferne Welten (in räumlicher wie zeitlicher Entfernung). Beginnen wir mit dem Schwertfisch, wie's sich für den Anfang gehört

Junge Schwertfische haben noch Zähne und Schuppen, ausgewachsene nicht mehr,
dem zahnlosen Hochseeräuber in warmen Gewässern, der mit dem geschleuderten, namengebenden Oberkiefer seine Opfer betäubt (es ist also eher eine Keule), wie das Marketing den Konsumenten, dem’s Leben verzuckert werden soll, auf dass sein Biss dahinschwinde, oder dem der der transparente Mann (der „Traummann“ sozusagen) zugesellt wird, wie man zu sein habe, um nicht mehr sich selbst treu zu sein, wenn möglich, gar nicht erst zu werden.

So trägt die Geschichte auch Sozialkritik in sich.

Laichgebiet dieser Fische ist das Sargassomeer, wo sich aber noch etwas seltsames auftut, dass hier in der Geschichte nicht vorkommt, obwohl hier ein zunächst quasi traumhafte durchsichtiges Lebe(wese)n bildet: selbst dem europäischen Aal gilt dieses warme Meer als Laichgebiet. Die Glasaale (wie die Jungtiere aufgrund ihres Aussehens genannt werden, ohne dass sie durch Wände kämen wie Deine männl. Traumgestalt) werden in den ersten drei Lebensjahren vom Golfstrom nach Europa gebracht. Sie lassen sich buchstäblich treiben – wie in Urlaub oder Traum -, bis sie in die Flüsse einwandern

Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war, aus dem Kühlschrank.
Merkwürdig auch das Zusammentreffen von Joghurt, vereinsamter Erdbeere und der Technik (der alten Ägypter, es gibt noch andere Techniken der Haltbarmachung von Gammelfleisch) zur Mumifizierung.
Anschließend kam eine Dokumentation über altägyptischen Totenkult. Bei der Mumifizierung wurde das Gehirn mit einem Werkzeug durch die Nase zerstört und zu einem Brei verquirlt. Es wurde flüssig, so dass es durch die Nasenlöcher herauslief. Ich löffelte meinen Joghurt.
Das Sauermilchprodukt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum
morgen war,
so wie heute im Verhältnis zu gestern morgen ist, und das gewesene Lebewesen (nach bürgerlichem Recht fällt die Leiche aus dem Personenrecht ins Sachenrecht, was die ersten Hochkulturen als Frevel empfunden hätten). So verschmelzen die Vorstellungen von der Fortdauer des Lebens im toten Leib mit der fortwährenden Wandlung von der Vollmilch in Dickmilch durch fleißige Milchsäure diverser Bakteriestämmen zur Verdauungsförderung und Reinigung des Darms zugleich.
Die Organe wurden entnommen und separat in Krügen eingelagert. Eine schwabbelige Erdbeere
wird in dem Produkt gefunden, wiewohl
[l]aut Zutatenliste [...] der Joghurt gefriergetrocknete Erdbeeren [enthielt].

Und über allem schwebt Dorado, wie der Schwertfisch am südlichen Himmel auch genannt wird. Wie auch schon der andere Stern vom südl. Sternenhimmel: Sirius. El Dorado und der hellste Stern ... unds Gold ist nicht mehr die sicherste Wertanlage ...

Fortsetzung folgt,
behaupt ich mal.

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Leif,

Ich wachte auf. Mein Wecker piepte, dabei war es genau Mitternacht. Schlaftrunken erinnerte ich mich, dass die Batterien aufgrund eines fehlenden Deckels mal wieder herausgefallen waren und ich sie wieder eingesetzt hatte. Das stellte den Alarm immer auf 0:00 Uhr. Erst letzte Woche war mir dies passiert. Ich hätte daran denken sollen, den Alarm wieder zu korrigieren, war aber zu müde, um mich richtig zu ärgern. Bald versank ich wieder in Schlaf.


Ich stand auf einer weichen Wiese, vor mir eine kleine Baumgruppe. Eine leichte Brise von links brachte einen Geruch nach -
“Bastian!”
Ein Mädchen in einem weißen Kleid lief auf mich zu. Es schien in einem Zustand der Freude und Erleichterung zu sein.
“Wer bist du?”, fragte ich und hatte den schwachen Eindruck eines Déjà-vus.
“Du hast es schon vergessen? Kavyloqa.” Sie sprach das O lang und betont aus. “Wir haben uns vor einigen Minuten gesehen.”
Ich erinnerte mich. Es war … in einem Traum gewesen, bevor der Wecker losging.


War ansatzweise gerade drin im Text, und dann dies, eine klassische Länge, gerade als es spannend wurde. Für eine solche Szenenpause, ist die eröffnende Traumsequenz nicht komplex genug. Diesen Text bräuchte ich nicht unbedingt.
Das erinnert mich an eine Werbepause, wo die letzte Szene nochmal wiederholt wird um wieder reinzukommen.

Ich fühlte mich wie eine Hauskatze, die die Außenwelt bisher nur durch ein Fenster beobachtet hatte und nun zum ersten Mal nach draußen ging.

sehr anschaulich


“Es ist doch erstaunlich, wie konsistent meine Träume sind.

Meinst du konsequent?. Eine Masse hat eine Konsistenz, Silikon hat eine weiche Konsistenz. Konsistenz heißt Beschaffenheit. Man müsste dann noch dazusagen, ob fest oder weich. Natürlich weiß man was du meinst, klingt für mich aber komisch.

Wir haben noch ein Pflichtprogramm zu absolvieren

für meine Ohren gestelzt, vllt. Etwas wichtiges zu erledigen

Es war der Umschlag.
Aber er war kaum noch als solcher zu erkennen. Er hatte eine Form, die durch Falten des Papieres nicht zu erreichen gewesen wäre. Vielmehr schien es, als sei Material an einzelnen Stellen hinzugefügt, an anderen entfernt worden, ohne Löcher zu lassen. Aus der Draufsicht hatte er keine rechteckige Form mehr. Eine Hälfte war höher als die andere und außerdem mit einigen Rundungen versehen. Die andere hatte einen kleinen Ausläufer. Kavyloqas Beschriftung war unleserlich. Ich riss eine Ecke ab und öffnete den Umschlag mit einem gekrümmten Finger als Brieföffner. Als erstes nahm ich den Kugelschreiber heraus. Er fühlte sich nach Stahl an. Seine Feder sah seitlich aus der Spitze heraus, obwohl dort kein Loch war. Lückenlos schloß Metall an Metall. Der Schaft sah aus, als hätte ihn jemand einmal quer durchgeschnitten und die Teile gegeneinander versetzt wieder zusammengeschweißt. Ich probierte den Druckknopf. Er ließ sich nicht bewegen.

Das erinnert an die Uhrenbilder von Salvador Dalí, oder an Verformungen, die Dinge bei Dimensionsübertritt haben könnten, schöne Idee. Das einzig Konkrete( die Brücke zwischen den Welten) ist seltsam verformt.

Zuhause sah ich mir eine Dokumentation über Schwertfische an. Junge Schwertfische haben noch Zähne und Schuppen, ausgewachsene nicht mehr. Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war, aus dem Kühlschrank. Anschließend kam eine Dokumentation über altägyptischen Totenkult. Bei der Mumifizierung wurde das Gehirn mit einem Werkzeug durch die Nase zerstört und zu einem Brei verquirlt. Es wurde flüssig, so dass es durch die Nasenlöcher herauslief. Ich löffelte meinen Joghurt. Die Organe wurden entnommen und separat in Krügen eingelagert. Eine schwabbelige Erdbeere war das einzige nennenswerte Fruchtstück, das ich fand. Der Körper des Leichnams wurde mit Natron gefüllt und ihm dadurch das Wasser entzogen. Laut Zutatenliste enthielt der Joghurt gefriergetrocknete Erdbeeren.

Das Hin und Her zwischen TV-Handlung und Joghurt-Realität, parodiert sehr schön die Analogie von Traumhandlung und Wach-Erleben. Hier fällt mir jetzt auf, dass der Briefumschlag samt <inhalt eine verschränkte Achse zwischen den Welten bildet.

Insgesamt versank ich immer tiefer in der Handlung und wurde mitgenommen. Nur diese Erklärung Kavyloqas zum Inhalt des Kubus mit dieser Formel, also das hab ich übersprungen, fand ich echt nicht notwendig. Trotzdem hat mir die Geschichte einigermaßen gefallen und war auch spannend. Der Plot entwickelt sich kontinuierlich auf den Punkt des Übertritts Kavyloqas ins Tagland zu.
Am besten finde ich das offene Ende. Da die beiden ihr Vorhaben doch sehr improvisiert haben, lässt das Rasseln der Atmung nichts Gutes erahnen. Schaurig schön, besonders das ' Es'.
Übersschneidungen mit anderen Kommentaren bitte ich zu entschuldigen. Deine Geschichte ist relativ lang und da hab ich gleich losgelegt.

Liebe Grüße

elfenweg

 
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Oh, soviele neue Antworten. Friedrichard, auf deine vorherige wollte ich ja noch eingehen. Aber ich fertige dich morgen an einem Stück ab (entschuldige die Ausdrucksweise ;)), dann Elfenweg. Jetzt ist erstmal weltenläufer dran.

Hallo weltenläufer,

vorrangig bin ich bei meinen Geschichten immer an der im Hintergrund liegenden Konstruktion und den Ideen interessiert. Da die Geschichten auch etwas länger sind, gestaltet sich der Einstieg mitunter entsprechend behäbig. Ein Hook ist gut, wenn ich ihn ungezwungen platzieren kann und er meiner Planung nicht in die Quere kommt. Es ist meiner Meinung nach wichtig, dass der Prot von diesem Ort träumt, aufwacht, wieder einschläft und sich am selben Ort mit der selben Person wiederfindet - die ihn auch noch wiedererkennt. Ich werde aber mal sehen, ob da noch etwas optimierbar ist. Ich glaube, dass es mir auch deshalb so wichtig ist, dass man die Geschichten ausdruckt. Dann wendet man sich ab vom Bildschirm mit seinen tausenden Ablenkungen und braucht keinen Hook mehr, um dranzubleiben. Da gibt es viele Beispiele (insbesondere von Stephen King), wo am Anfang noch viel mehr gelabert wird. Am Bildschirm könnte ich so etwas definitiv nicht lesen - auf Papier hingegen lese ich auch mehrere ereignislose Seiten.

Also du hast da so viele starke Ideen drin, das spielt in einer Liga, die wirklich richtige Klasse hat!
Danke, da liegt wie gesagt mein Fokus. Die Konstruktion im Hintergrund hat mich auch Nerven gekostet und ich bin froh, dass es gelungen ist. :)

Hauptkritikpunkt ist der manchmal zu sehr in den Vordergrund drängende Gedankenstrang des Prots. Da solltest du durchaus noch mal verdichtend nachbürsten.
Finde ich irgendwie auch. Andererseits wurde auch gesagt, dass der Prot recht blass bliebe und zu sehr im Hintergrund bliebe. Ich werde den Balance-Akt versuchen.

"durchgemacht. Einer ging gerade in einen dicken Baum, jedenfalls erschien es mir so. Aber ich sagte mir, dass er in Wirklichkeit wohl hinter ihn gegangen war."
Unglücklich formuliert. Das liet sich nicht. Umstellen: Es schien mir, als ...
Hier will ich gerade, dass der Leser am Beginn des Satzes ebenso überrascht wird. Wie der Prot soll er sich wundern, dass jemand in einen dicken Baum hineingeht.

"Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war, aus dem Kühlschrank"
Wäh! Dieses angeklatschte aus dem Kühlschrank. Hinter den Joghurt - wo es hingehört
=> "Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt aus dem Kühlschrank, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war."
Das ist bestenfalls eine Mehrdeutigkeit. Ich denke aber, dass es viele Leser noch viel schlimmer verwirren würde, weil das "dessen" sich grammatisch auf den Kühlschrank bezieht. Aber mein Satz ist garstig, ja.

Du verlangst ja eine ganze Menge, was der Leser einfach so hinnehmen muss, in den träumen aber da driftest du mir zu sehr ins gedankliche erklären ab. Gerade bei dieser Stelle, die is mir zu viel. Davor war da bereits so eine Passage, die würde ich streichen.
Wie hier geschrieben, ich werde versuchen, zu optimieren.

"Ich nickte. Es war klar, was sie meinte."
Wenn es klar ist, dann brauchst du die Erklärung nicht. Nicken drückt das ja aus. Wenn er nickt, obwohl etwas anderes emeint ist, dann bruacht es eine Erklärung
Ja. Aber lies mal Murakami, da wimmelt es von solchen Dingen. Manchmal lässt er seinen Protaganisten etwas denken und ihn unmittelbar danach seine Gedanken aussprechen. Es stört nicht, wenn man es als Stil akzeptiert. Logisch gesehen ist es natürlich unnötig.

"unstofflichen Tentakeln meines Geistes halten"
Geist= unstofflich
Auch das ist mir etwas zu verkopft. Das andere Extrem ist Lovecraft. Seine Texte strotzen vor unnötigen Adjektiven und Beschreibungen. Sehr amüsiert hat mich z. B. das hier: "Ich hörte Stimmen, Gejohle und grausige Echos, aber darüber erhob sich weich, ja fast sanft dieses unheilige, heimtückische Hasten; allmählich steigend, steigend, steigend wie eine steifgeblähte Wasserleiche in einem schleimigen, öligen Fluss hochsteigt, der unter endlosen Onyxbrücken einem schwarzen, faulenden Ozean zuströmt."
Wenn ich wollte, könnte ich solche Texte auch total zerlegen.

Freut mich, dass es dir trotz dieser Dinge doch gefallen hat. :)

Gruß
Leif

edit: Bekomme gleich Besuch, komme heute doch nicht mehr zu Friedel und Elfenweg.

 

@Friedel:
So manche Analogien hatte ich gar nicht geplant. Aber da sieht man mal wieder, wie alles miteinander verbunden ist.
Diese Szene mit der Mumifizierung und dem Joghurt war für mich übrigens ein Wagnis. Solche literarischen Spielereien mache ich sonst nicht und empfinde sie eigentlich als störend. Dadurch wird die Sprache, die eigentlich ein Werkzeug ist, um Gedanken zu beschreiben, zum eigentlichen Mittelpunkt. Und das ist eine Selbstbezüglichkeit, die meiner Befürchtung nach zu aufgeblähten, inhaltslosen Luftnummern führen kann. Dennoch habe ich mir vorgenommen, in Zukunft mal eine solche sehr bildhafte und sprachlich vespieltere Geschichte zu schreiben.

So verschmelzen die Vorstellungen von der Fortdauer des Lebens im toten Leib mit der fortwährenden Wandlung von der Vollmilch in Dickmilch durch fleißige Milchsäure diverser Bakteriestämmen zur Verdauungsförderung und Reinigung des Darms zugleich.
Köstlich! :D


@Elfenweg:
Ich höre gerade Nightwish. Dein Name hat mich aber schon beim ersten Lesen an "Elvenpath" erinnert. Zufall?

Das erinnert mich an eine Werbepause, wo die letzte Szene nochmal wiederholt wird um wieder reinzukommen.
Siehe meine Anmerkung dazu von vorgestern.

Meinst du konsequent?. Eine Masse hat eine Konsistenz, Silikon hat eine weiche Konsistenz. Konsistenz heißt Beschaffenheit. Man müsste dann noch dazusagen, ob fest oder weich. Natürlich weiß man was du meinst, klingt für mich aber komisch.
Dieses Wort wurde schon öfter kritisiert. Anscheinend verstehen Leute ohne einen gewissen Hintergrund nicht die hier gemeinte Bedeutung.
http://www.duden.de/rechtschreibung/konsistent - siehe zweite Bedeutung.
Und siehe auch hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Konsistenz
Für mich sind sozusagen die "immateriellen" Bedeutungen des Wortes üblicher. Aber dann werde ich das wohl auch auf die Liste der Änderungen setzen.

für meine Ohren gestelzt, vllt. Etwas wichtiges zu erledigen
Ist meiner Meinung nach im Gesamtzusammenhang ein sehr wichtiger Satz. Er charakterisiert Kavyloqa und deutet die genaue Planung an, die in ihr Projekt geflossen ist. Er zeigt außerdem, dass sie sehr zielstrebig ist und dem Protagonisten erstmal keine Freiheit lässt, weil sie ihre Prioritäten entsprechend gesetzt hat.

Nur diese Erklärung Kavyloqas zum Inhalt des Kubus mit dieser Formel, also das hab ich übersprungen, fand ich echt nicht notwendig.
Geschmackssache. Ich habe gehofft, etwas von meiner Faszination an höherdimensionalen Körpern weitergeben zu können. Auch die Formel ist einfach ein Musterbeispiel an eleganter Verknüpfung von Mathematik und Realität, was für mich eine ganz eigene, wunderbare, euphorisierende Ästhetik in sich birgt.

Grüße an euch beide
Leif

 

Hi Leif

Dann wendet man sich ab vom Bildschirm mit seinen tausenden Ablenkungen und braucht keinen Hook mehr, um dranzubleiben.
naja, damit machst du es dir aber arg einfach. Es ist natürlich schon ein bisschen was anderes, ob ich am Bildschirm lese oder was Ausgedrucktes in Händen halte, aber unterm Strich zählt, was ich lese, nicht das Medium!
Da zieht auch diese Argumentation für mich nicht:
Da gibt es viele Beispiele (insbesondere von Stephen King), wo am Anfang noch viel mehr gelabert wird.
King hat seine Fan-Gemeinde, der kann sich alles mögliche erlauben. Da liest man einfach den Autor mit. Das sagt aber nichts über die Qualität eines Buchbeginns aus.

Wie der Prot soll er sich wundern, dass jemand in einen dicken Baum hineingeht.
das war wirklich deine Intention? Wow, aber riskant ist es auf jeden Fall. Mich kickt es zumindest raus

Ja. Aber lies mal Murakami
wieder so ein Vergleich mit einem renommierten Autoren. Das find ich etwas unglücklich, diese Haltung. Damit kann man natürlich alles legitimieren. Als Stil akzeptieren, ich weiß nicht, letztlich muss es doch einfach passen, ein rundes Ganzes ergeben. Hier ist es mir als unnötig aufgefallen.

Und zum Schluss kramst du noch den armen Lovecraft hervor.

Wenn ich wollte, könnte ich solche Texte auch total zerlegen.
joa, kann man ja auch. Würden aber wahrscheinlich die wenigsten tun, weil Lovecraft eben wie Lovecraft schreibt und da alles in sich stimmig ist. Auffallend werden Dinge doch erst, wenn sie irgendwo rauskanten. Du schreibst nicht wie Lovecraft, und deswegen kanten da eben lovecraftmäßige Sätze raus ;)
Ich bin zumindest nicht an deinen Text gegangen, um ihn zu zerlegen ;)

Ich hab auch noch zwei Dinge vergessen in meine Kritik aufzunehmen: Zum einen das Ende. Das ist wirklich sehr fies. Stark allein schon deswegen, weil hier die Macht eines einzelnen Wortes so heftig zur Geltung kommt.
Und dann auch noch ein Plus für die echt starke Illustration. War die von Anfang an da? In der Erstversion war da noch kein Bild, oder?

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo weltenläufer,

naja, damit machst du es dir aber arg einfach. Es ist natürlich schon ein bisschen was anderes, ob ich am Bildschirm lese oder was Ausgedrucktes in Händen halte, aber unterm Strich zählt, was ich lese, nicht das Medium!
Ja. Aber siehe auch, was ich davor geschrieben habe. Das ist der eigentliche Punkt, weswegen ich nicht mit dem Sturz anfangen werde.


das war wirklich deine Intention? Wow, aber riskant ist es auf jeden Fall. Mich kickt es zumindest raus
Das war meine Intention. Mir kommt das auch gar nicht ungewöhnlich vor. Es erscheint mir auch nicht riskant. Ich weiß nicht, ob ich da einfach aus irgendeinem Grund (zu viel von einem entsprechenden Autoren gelesen?) abgestumpft oder unempfindlich bin.

wieder so ein Vergleich mit einem renommierten Autoren. Das find ich etwas unglücklich, diese Haltung. Damit kann man natürlich alles legitimieren.
Ich verstehe nicht ganz, wie du das meinst. Es ist ja keine Haltung, sondern diente nur einem Zweck. Ob der Vergleich mit einem renommierten Autoren ist oder nicht, spielt auch keine Rolle, aber die Beispiele, die einem einfallen, sind selten von völlig unbekannten Autoren. Und ich glaube auch nicht, dass man damit alles legitimieren könnte. Was ich zeigen wollte, ist, dass solche Stilmittel auch in höherer Konzentration nicht unbedingt stören müssen. Ich persönlich finde auch das einzelne Vorkommen nicht störend. Es ist logisch unnötig, ja. Damit ist es am Ende eben eine Geschmackssache.

Und zu Lovecraft muss ich ergänzen: Der kickt mich mit seinen Satzkonstruktionen eigentlich dauernd raus. Aber ich bin davon ausgegangen, dass das Problem ganz bei mir liegt, und dass andere Leute auch mit "Nach der Sendung holte ich mir einen Erdbeer-Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum morgen war, aus dem Kühlschrank" gut klarkommen. ;) Oder eben mit logisch unnötigen Adjektiven. "Tentakel" erzeugt in mir nicht das gleiche Bild wie "unstoffliche Tentakel", auch wenn sie zum Geist gehören.

Ich hab auch noch zwei Dinge vergessen in meine Kritik aufzunehmen: Zum einen das Ende. Das ist wirklich sehr fies. Stark allein schon deswegen, weil hier die Macht eines einzelnen Wortes so heftig zur Geltung kommt.
Das Wort ändert alles. Ich habe es ursprünglich ganz keck zum Erschrecken der ersten Leser reingesetzt, dann aber behalten. Mir geht derzeit ein Ende durch den Kopf, das deutlich expliziter ist. Manche Leser verstehen vielleicht nicht den Ernst der Lage.

Und dann auch noch ein Plus für die echt starke Illustration. War die von Anfang an da? In der Erstversion war da noch kein Bild, oder?
Korrekt. Unser aller Dank geht natürlich an die Illustratorin, die ihr Talent hier großzügig beigesteuert hat.

Gruß
Leif

 

So manche Analogien hatte ich gar nicht geplant.[...] Solche literarischen Spielereien mache ich sonst nicht und empfinde sie eigentlich als störend.

Schon merkwürdig, dass ich fürs Pivot-Element halte, was eher Zufallprodukt oder bloßes Spiel ist – aber spielen nicht schon die unkoordinierten Vorgänge in der Hirnrinde – Nachtland (?) – mit uns Schabernack, dass wir nur noch hin und her glotzen (was wäre denn die flinke Augenbewegung anderes?) und staunen können, sofern uns nicht zuvor ein schlichtes Magenknurren oder beliebiges anderes körperliche Ereignis aus Nachtland zurückholte,

lieber Leif,

oder ein Tagträumer das Treiben im Internetcafé ignorieren kann und doch auf eine falsche Fährte gerät und einen Absatz für wichtiger nimmt, als die Montage aus TV-Programm, Dokumentationen vom warmen Wasser und realer Dickmilch spielt.

Zitat:
So verschmelzen die Vorstellungen von der Fortdauer des Lebens im toten Leib mit der fortwährenden Wandlung von der Vollmilch in Dickmilch durch fleißige Milchsäure diverser Bakteriestämmen zur Verdauungsförderung und Reinigung des Darms zugleich.
Köstlich!
Aber die Religion des alten Ägyptens spielt bis in den Namen der Hauptdarstellerin hinein:

„Ka“, die Lebenskraft, die im Nachtland (Tod, Grab) fortlebt, sofern nur der Körper erhalten bliebe oder doch aus seinen Bildnissen (Statuen, [Bilder-]Schrift) spräche, spielt doch der Traum über all und nicht nur in Ägypten in Mythen, Sagen, Märchen eine quasi religiöse Rolle, dass die Romantik ihn sogar als Zugang/Weg zu einer tieferen Wirklichkeit ansehen kann. Und die Welt des Nachtlandes erscheint ja zum Ende hin als keine andere als die des Tages – nur auf erträumt höherem technischen Niveau (Vater-Tochter-Beziehung, was schön zum Muttertag passt).
Aber wie lässt doch Hebbel seine Mariamne sagen, wenn auch über ihre Ahnen:

„Drei Nächte sah ich sie bereits im Traum
Nun kommen sie bei Tage auch, …“
Herodes und Mariamne, V, 5​
Und siehe:

Ich merkte an der Verformung der Matratze, dass etwas hinter meinem Rücken lag.
Es atmete.
So schließtu Deine Geschichte als Bettgeschichte, bei dem noch ein Rätsel folgt:

Rasselnd.
Die Bedeutung des Verbs rasseln findet sich im ahd. erst im 9. Jh. im klaffæn/klapfæn, dass – wie man am Schriftbild zu erkennen glaubt – nichts mit dem Verb kläffenoder klopfen zu tun hat (da für hatte man andere Vokabeln), aber (in alphabetischer Reihenfolge) doch
dröhnen, klappern, knistern, krachen, lärmen, rauschen, schreien (und natürlich schon) rasseln bedeutet.

Vielleicht ist die Noctarine ja eine berauschende Dröhnung und es knistert ja – wie man so sagt – zwischen Kavyloqa und dem Icherzähler, dass sie sich von einander angezogen fühlen, dass sie sich ausgezogen haben …, allein, weil’s auch mein Wunsch ist, dass das Rasseln nicht von einer Klapperschlange herrührt.

Gruß

Friedel

 

Ich habe die Korrekturen und einige der vorgeschlagenen Änderungen vorgenommen. Noch nicht im PDF, denn MathML wird immer noch nicht so problemlos unterstützt, wie ich das gern hätte. Ich bin nicht mal sicher, ob ich es korrekt dargestellt bekäme.

@Friedel: Danke für das Aufdecken weiterer Verbindungen.
Das Ende ist eigentlich kein Rätsel. Wenn dir klar wird, was dort passiert ist, wird dies dein Empfinden der Geschichte vermutlich stark ins Unangenehme ändern. Siehe den ersten Absatz von Perditas Kritik.

 

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