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Nachtjagd
Leutnant Josef Auwald stand im Schatten des zweimotorigen Jagdfliegers und starrte zornig nach Westen, wo unter dem blutroten Abendhimmel ein Beiwagenmotorrad näher raste. Josef sah noch einmal stirnrunzelnd auf die hässliche Warze am Bug der Maschine. Seine alte He 219 Uhu war nach Maßstäben von Jagdflugzeugen nicht schlank, sondern bullig gewesen und die sperrigen Antennen des Funkmessgeräts hatten sie mehr wie einen fliegenden Rehbock aussehen lassen, doch er hatte mit ihr schon neun englische Bomber vom Himmel geholt.
Das Motorrad hielt knatternd vor ihm und eine Staubwolke trieb ihm entgegen. Ein junger Mann stieg aus dem Beiwagen, während der Fahrer lässig salutierte und sofort weiterfuhr.
Josef blinzelte, weil der Staub in seinen Augen brannte. Dann musterte er den Neuankömmling stumm. Er war ziemlich klein, da nutzte es ihm auch nichts, dass er sein Kreuz durchbog, als bekäme er gerade einen Orden. Josef sah unter der Fliegerjacke kein Rangabzeichen.
„Oberleutnant Heinrich Schultes. Sonderkommando Rotterdam. Sie werden heute mit mir fliegen.“
„Ich weiß nicht, was hier vorgeht. Das ist nicht mein Uhu? Wo ist das Hirschgeweih und was ist das für eine hässliche Nase?“, begrüßte ihn Josef.
Der Neue stapfte näher wie eine kleine Bulldogge und hielt ihm die Hand hin. Josef ignorierte sie.
„Sie müssen Josef Auwald sein.“
„Ich habe mich nicht für diesen Einsatz gemeldet und Sie hätten zumindest höflichkeitshalber fragen sollen, ob ich Lust habe, das Versuchskaninchen zu spielen.“
„Nun jammern Sie mal nicht. Sie haben hier die Chance mit mir den verbesserten Nachbau eines englischen Funkmessgerätes zu testen. Codename Oslo. Und der Uhu ist brandneu. Größere Kabine, neue Schleudersitze und stärkere Triebwerke.“ Josef starrte ihn nur weiter finster an.
„Ich habe das Funkmessgerät verbessert“, fuhr Heinrich fort. „Es hat eine Reichweite von 20 Kilometern. Sie haben die Ehre, bei einem der finalen Tests dabei zu sein. Wenn wir erfolgreich sind, gehe ich damit in Serie.“
„Warum kommen Sie damit zu mir? Sind die anderen Testpiloten alle abgestürzt?“
„Wir wollen das Gerät unter anderem hier in Wien bauen. Im sicheren Luftschutzkeller Ostmark.“
„Der Luftschutzkeller Ostmark wurde gestern wieder von 100 Bombern angegriffen.“
„Das wird den Alliierten bald vergehen. Ihre Verluste betrugen über zehn Prozent.“
„Sieht mir gar nicht danach aus. Werden im Gegenteil jedes Mal mehr. Und die Nachtjäger hier immer weniger.“
„Das ist wehrkraftzersetzendes Gerede!“
„Ich habe neun Feindmaschinen abgeschossen. Auf wie viele kommst du?“
„Offensichtlich hat man ganz vergessen, Sie zu informieren. Aber Sie werden schon noch sehen, was mein neues Gerät kann.“
Heinrich duckte sich an Josef vorbei und begann an der Leiter nach oben ins Cockpit zu klettern.
„Warum ist der Funker noch nicht da?“
„Kommt sicher gleich vom Ausgang zurück. Er war in Wien bei seiner Freundin.“
„Also“, sagte Heinrich und verkniff sich dann eine weitere Antwort. Kopfschüttelnd zwängte er sich in den dritten Sitz und murmelte:
„Ich schalte jetzt den Strom ein.“
Josef kletterte nun ebenfalls nach oben ins lang gestreckte Cockpit. Heinrich saß im hinteren Sitz und starrte auf das runde Sichtgerät des Funkmessgerätes. Es stank nach Diesel und nach Öl.
Josef zwängte sich in den Pilotensitz. Er erkannte keinen Unterschied zum alten Uhu. Sein Teil der Kabine war keinen Millimeter größer geworden. Er war für einen Piloten zu groß und musste daher immer in einer leicht gekrümmten Haltung sitzen, sobald die Haube geschlossen wurde.
„Funkmessgerät Oslo ist einsatzbereit.“
Josef kletterte auf den Sitz des Funkers hinter ihm und sah über Heinrichs Schulter auf das Sichtgerät. In der beginnenden Dämmerung tauchte es Heinrichs Gesicht in grünes Licht.
„Die Röhre ist noch zu klein. Demnächst baue ich eine doppelt so Große ein. Damit können die Funker besser die Entfernung ablesen.“
Josef richtete sich auf. In der Ferne ratterte ein Motorrad auf sie zu.
„Flo kommt.“
Er kletterte wieder nach unten. Das Motorrad bremste scharf und Florian stieg ab.
„Entschuldige bitte. Ich war noch in der Stadt. Die Leni ist im Luftschutzkeller verschüttet. Ich hab geholfen bis zum Schluss.“
„Geht’s ihr gut?“
„Weiß nicht. Wir sind noch nicht durchgekommen.“
„Du siehst scheußlich aus. Hol dir eine saubere Jacke. Wir haben hohen Besuch.“
In dem Moment richtete sich Heinrich auf und bellte Florian an.
„Sie kommen zehn Minuten zu spät und ihre Adjustierung ist miserabel. Noch so eine Schlampigkeit und sie können sich einen Verweis abholen.“
Florian schüttelte seine staubige Jacke und verwischte die Tränenspuren in seinem schmutzigen Gesicht. Dann salutierte er:
„Feldwebel Florian Struck. Zu Diensten. Bitte vielmals um Verzeihung. Ich wusste nicht, dass wir mit einem anderen Flugzeug fliegen.“
„Meine Name ist Heinrich Schultes, Sonderkommando Rotterdam. Sie werden heute mit mir fliegen. Es geht um einen streng geheimen Erprobungsflug mit einem neuen Funkmessgerät. Ich übernehme die Funkmessung und sie können sich ganz auf das Funken konzentrieren.“
Für einen Moment sprach keiner.
Josef blickte zu Heinrich, doch dieser widmete sich bereits wieder dem Sichtgerät seines Funkmessgerätes. „Wir sollen ein neues Radargerät testen. Liegt in der Warze vorne am Bug. Heinrich hat es entwickelt.“
„Da wir nun alle da sind“, sagte Heinrich, „können wir gleich starten.“
„Scheiße“, sagte Florian, “ich hab noch nicht mal was gegessen.“
„Trink was“, sagte Josef. Er griff in die Innenseite seiner Fliegerjacke und reichte Florian einen Flachmann. Der Funker machte große Schlucke.
„So schlimm?“
Florian nickte nur.
„Komm steig ein.“
Josef gab Florian seinen Flachmann. Dieser nahm einen weiteren Schluck und steckte ihn dann in seine Brusttasche.
Kurze Zeit später beschleunigte der Nachtjäger und hob sich steil in die beginnende Nacht. Unter ihnen lag dunkel die Erde und über ihnen verschluckten von Süden her Wolkentürme das Licht der ersten Sterne.
Mit einem knarrenden Geräusch glitten die großen Räder in die Flugpositionen.
„Leutnant Auwald: Steigen sie auf 4000 Meter und dann bitte Kurs 180 Grad. Wir fliegen den Bombern entgegen. Herr Feldwebel: Bitte nehmen sie Kontakt mit der Bodenstation auf.
„Hier Falke 1“, sprach Florian in das Funkgerät. „Haben soeben Gartenzaun verlassen. Gehen auf Caruso 180.“
„Hier Bodo. Habe verstanden.“
„Bist du das, Kathi?“
„Richtig geraten. Wie geht’s eurem Gast? Ist er zufrieden mit der Einrichtung?“
„Heinrich, du bist ja schon richtig berühmt“, rief Florian nach hinten.
„Mein Auftrag hat höchste Priorität.“ Er klang pikiert. Florian hatte offensichtlich einen weiteren Schluck genommen und plapperte weiter:
„Kathi: Was sagen die Wetterfrösche? Gibt’s Regen?“
„Wetterbericht meldet eine Front von Süden. Ihr werdet nass werden.“
Josef meldete sich von vorne:
„Dann wird’s heute wohl nichts mit Abschuss Nummer zehn. Churchills Leute fliegen nicht bei schlechtem Wetter.“
„Haltet die Augen offen“, sagte Kathi wieder.
Die He 219 schob sich in die dunklen Wolken. Die Zelle des Flugzeugs begann leicht zu vibrieren. Heinrich, auf dessen Bildschirm sich nur ein gleichförmiges grünes Schimmern ausbreitete, blickte nach oben. Es war rein gar nichts zu erkennen.
„Josef“, begann Heinrich nach längerem Schweigen. „Darf ich sie etwas fragen: Wie lange fliegen sie schon?“
„Du meinst, weil ich schon so alt aussehe?“
„Das wollte ich nicht sagen.“
„Seit einem Jahr. Ich habe Medizin studiert, war einige Zeit im Osten, aber dann habe ich mich freiwillig zu den Fliegern gemeldet. Ich hatte einen Segelflugschein und sie waren heilfroh und haben mich sofort genommen.“
„Warum?“
„Ich finde das Brummen der Motoren so beruhigend.“
Florians Funkgerät knackte.
„Hier Bodo. Habe Möbelwagen auf Kirchturm 3000. Kommt zurück zum Lager. Bleibt auf Kirchturm 4000. Er wird euch in kurzer Distanz passieren.
„Was ist jetzt mit deinem Funkmessgerät. Muss ein verspäteter Transporter sein.“
„Ich sehe nichts.“
„Kathi, gib mir noch einmal den Abstand zum Möbelwagen.“
„Schätze, er passiert euch in 6000 Metern Entfernung.“
„Ich sehe ihn, ich sehe ihn! Funkmessgerät Oslo hat ersten Einsatz erfolgreich bestanden“, rief Heinrich.
„Du brauchst nicht so zu schreien. Wir sitzen direkt vor deiner Nase.“ Florian drehte sich kurz nach hinten um. „Kathi. Hast du gehört?“
„Ja, sicher. Gerti hat ihn schon an der Strippe. Ist eine Heinkel 111 mit Ersatzteilen.“
„Siehst du ihn noch?“
„Ja sicher, ähm nein, jetzt ist er weg.“
„Na, doch nicht so weit her mit deinem Wunderding. Den hätte Flo mit dem Lichtenstein genauso gesehen.“
„Konzentrieren sie sich lieber auf das Fliegen. Bei der miesen Sicht finden sie ohne mein Funkmessgerät keinen einzigen Bomber. Warum kommen wir nicht aus den Wolken raus?“
Eine Weile schwiegen alle. Josef stieg auf 8000 Meter.
„Ich fliege eine Runde über Ungarn. Die meisten Angriffe sind von dort gekommen“, sagte Josef und zog das Flugzeug in eine Linkskurve.
„Vielleicht ist dort das Wetter besser. Flo? Erzähl, was war los mit Lenis Haus.“
„So eine Scheiße. Die haben einen Volltreffer abbekommen. Da war nur noch ein Schutthaufen. Und als ich hinkam, hat die Feuerwehr erst zum Löschen begonnen. Ich hab gegraben, aber der Schutt war zu viel und daneben waren auch überall zerbombte Häuser.“
„Die kommt schon wieder raus. Machen sie sich keine Sorgen.“
Plötzlich schrie Heinrich auf.
„Ich hab was, ich hab was! Ein Signal. Seht euch das an. Ich hab ein Signal!“
„Heinrich“, sagte Flo eindringlich. „Wir sitzen direkt vor dir. Wenn du so losbrüllst, steig ich noch versehentlich aus.“
„Unglaublich, es funktioniert. Ich hab‘s gewusst.“
„Du hast doch schon vorhin unseren Transporter gesehen.“
„Natürlich, aber jetzt hab ich wieder ein Signal. Und so ein Großes noch dazu. Feindlicher Bomber. Höhe etwa“, er wurde langsamer, “ 12000 Meter. Kurs zehn Grad. Was ist denn das?“
„Na, dann hoffen wir, dass er uns nicht sieht. Flo, Funk mal die Basis an.“
Florian drückte auf sein Sprechgerät.
„Ich hab keine Verbindung. Alles tot.“
„Scheiße, Störsender.“
„Kein Störsender. Es ist still wie in einem Grab. Das Funkgerät ist hinüber.“
„Bomber kommt näher. Geht jetzt runter auf 9000. Ändert Kurs auf 170 Grad. Josef, ändere den Kurs um zehn Grad nach links und dann voller Express. Den holen wir uns.“
„Glaub ich nicht, aber damit du glücklich wirst, hänge ich mich ran.“
„Eigenartig. Warum soll er hier abdrehen? Wir sind doch mitten in der Pampa. Und warum nur ein Einziger? Was will der?“, warf Florian ein.
„Bist du sicher, dass dein Signal kein Dreck auf der Antenne ist?“
„Na klar doch. Jetzt gib schon Vollgas, sonst entkommt er noch.“
„Unser Sprit ist knapp. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“
„ Was ist denn das für eine lauwarme Einstellung? Dann lande eben auf einem anderen Flugplatz.“
„Und wie soll ich den finden? Bei den Wolken und ohne Funkgerät? Ich kann nicht Mal auf einer Wiese landen.“
Heinrich blickte nun auch von seinem Schirm auf und bemerkte, wie dunkel es ringsum war.
„Komisch“, sagte Florian in die beginnende Stille. „Ich spüre gar keine Turbulenzen. Schon seit einiger Zeit nicht mehr.“
„Abstand ungefähr 10000. Gleichbleibend. Ich schätze, ein Moskito. Josef: Hol das Letzte aus den Motoren raus.“
„Steig aus und schieb an, wenn du’s schneller haben willst.“
Josef starrte nach oben. Irgendetwas an dieser Dunkelheit war anders. Er fühlte sich abgeschottet von allem, als gäbe es nur mehr sein Flugzeug und ihn. Sein Magen hob sich, als würde er die ganze Zeit fallen. Krampfhaft fixierte er die Anzeigen, doch das Gefühl der Desorientierung blieb.
„Leni!“, rief Florian auf einmal.
„Leni, was machst du da?“
Josef versuchte sich umzudrehen, doch er konnte Florian nur aus den Augenwinkeln erkennen.
Sein Kopf war in fahle Helligkeit getaucht.
„Flo, was ist los?“
„Leni, es tut mir so leid. Ich hab das nicht so gemeint. Ich weiß, dass du mir treu bist. Ich liebe dich so sehr. Bleib bei mir. Bitte!“
Er begann heftig zu schluchzen und stieß dann hervor.
„Sie ist tot. Die Leute haben das Haus nicht einmal gelöscht. Ich war der Einzige, der versucht hat, zu ihr durchzukommen, doch die Trottel haben gesagt, sie wären dort unten alle tot. Und sie haben recht gehabt. Sie ist tot und jetzt ist sie ganz weg. Leni!“
„Flo, reiß dich zusammen. Hörst du mich? Ich bin‘s, Josef.“
„Nein Leni, es ist gut so. Ich dich auch.“
„Josef, der ist völlig durchgedreht!“, schrie Heinrich von hinten. „Lass dich nicht ablenken. Wir kommen näher rann. Abstand 9000.“
Nachdem Florians Schluchzen allmählich weniger wurde, sagte Heinrich in die sich ausdehnende Stille. „Noch 4000 Meter. Josef, er wird langsamer.“
„Ich weiß nur nicht, wie ich blind auf den schießen soll. Wir müssen warten, bis wir aus den Wolken sind.“
„Wir kommen näher. Bleib auf dem Kurs.“
Quälend langsam schlich der Punkt in die Mitte des Bildschirms.
„Tausend Meter noch. Was ist das, verdammt, ich hab Nasenbluten.“
Heinrich tupfte sich mit einem Ärmel die Nase ab. Einige Blutstropfen spritzen auf den Bildschirm.
Plötzlich wurde alles still und der Schirm erlosch.
„Motor- und Elektronikausfall“, sagte Josef.
Flo wimmerte leise. Die Dunkelheit war vollkommen.
Josef tastete blind nach dem Zündschlüssel.
„Komisch. Mit einem Schlag war alles tot.“
„Du kriegst den Motor doch wieder an?“ Heinrichs Stimme war schrill.
Josef ertastete den Zündschlüssel und drehte ihn hin und her.
„Alles aus. Ich krieg nichts mehr an. Verdammt, was habt ihr nur gemacht. Ihr müsst etwas an der Verdrahtung gepfuscht haben.“
„Wann steigen wir aus?“, fragte Heinrich.
„Gar nicht. Ich werde den Schleudersitz nicht betätigen.“
„Das soll wohl ein Witz sein.“
„Bleib ruhig. Irgendwann ist es so weit. Da habe ich mir nie viel Hoffnung gemacht. Keiner von uns Fliegern überlebt lange. Wusstest du, dass bei den Amis die Bomberpiloten nach 25 erfolgreichen Flügen ausgemustert werden?“
„Ist mir doch egal. Ich will nicht sterben.“
„Bei einer Abschusswahrscheinlichkeit von fünf Prozent heißt das, dass nur siebenundzwanzig Prozent ihrer Piloten den Krieg überleben. Und weißt du, wie es bei uns ist?“ Josef wartete nicht auf die Antwort.
„Wir kämpfen weiter und weiter, bis wir tot sind und bei den letzten Einsätzen haben wir oft zehn Prozent eigene Verluste gehabt. Wenn ich jeden dritten Tag fliege, überlebe ich mit neunundneunzig Prozent kein halbes Jahr.“
„Josef, verdammt, es tut mir ja leid, dass ich etwas forsch war. Aber das kannst du nicht machen!“
„Dein beschissenes Funkmessgerät hat uns das eingebrockt. Hast du es selber verdrahtet? Ich hab das sofort gerochen. Hier stürzt ja jeden zweiten Tag eine der beschissenen Versuchsmaschinen ab, weil kein Schwein die Dinger vorher testet.“
„Bitte! Lass uns beide da raus. Ich erzähl euch auch alles.“
Josef antwortete nicht, sondern starrte in die Dunkelheit, aus der sich weiß ein schwacher Umriss abzeichnete.
„Josef, sag was!“
Vor sich sah er jetzt in der Dunkelheit eine geisterhafte Gestalt. Sie war so schwach, dass er nicht sagen konnte, war es Einbildung oder war sie real. Das kleine Mädchen mit den braunen Augen. Es saß halb im Armaturenblock und sah ihn an, so wie damals, als es ihm entgegen gelaufen war. In seiner Erinnerung wurde ihr Gesicht wieder bleich und ernst. Sie sagte nur „Hilfe, Hilfe.“ Josef hatte die Erlebnisse in der Ukraine verdrängt: Die SS Schergen knapp hinter ihr. Ihre Augen, die ihn anstarrten. Und sein Begreifen, dass sie genau wusste, was ihr bevorstand, obwohl sie kaum sechs Jahre alt gewesen war.
„Hilfe“, hatte sie gebettelt. Und dann etwas auf Ukrainisch. Josef hatte nichts anderes tun können, als ihr über die Haare zu streichen und zu sagen. „Sei brav, das wird schon wieder.“ Dann waren die Schergen heran gewesen und hatten sie gepackt wie ein kleines Tier. Über die Schulter geworfen war ihr Blick der gleiche gewesen wie der mit dem sie ihn jetzt musterte. Sie hatte nicht geweint, die ganze Verzweiflung war in ihren großen braunen Augen gewesen.
Jetzt wurde ihm klar, dass er sich wegen ihr zu den Fliegern gemeldet hatte. Weg von seiner relativ sicheren Stelle als Assistent des Truppenarztes. Und nun war sie wieder da. Sie erinnerte ihn daran, dass er es nicht gewagt hatte, sie zu retten. Josef schob den Steuerhebel nach vorne. Das Flugzeug beschleunigte seinen Sinkflug. Die Gestalt des Mädchens tauchte die Armaturen in ein schwaches Licht. Er konnte den Geschwindigkeitsmesser erkennen. Er zeigte 590 km/h, und obwohl das Flugzeug beschleunigen sollte, stand er eingefroren genauso wie der Höhenmesser.
„Leni, ich komme“, schluchzte Florian. „Josef: keinen Schleudersitz. Ich kann ohne sie nicht leben.“
„Ist schon gut Flo. Freut mich, mit dir unterwegs gewesen zu sein. Bist ein feiner Kerl.“
„Du auch, Josef.“
„Verdammt, drück den Schleudersitz!“, schrie Heinrich in Panik. Er versuchte, an Florian vorbei nach vorne zu greifen.
„Wo ist der verdammte Hebel!“
Er kam nicht weit genug nach vorne. Florian schrie auf, schlug nach Heinrichs Hand, doch Heinrich griff mit der anderen nach vorne und begann ihn zu würgen.
„Josef, du ziehst jetzt sofort den Schleudersitz, oder ich erwürge ihn.“ Florian röchelte und schlug mit seiner Hand hilflos gegen das Kabinendach.
„Heinrich!“, sagte Josef. „Wir haben noch Zeit. Was wolltest du uns erzählen. Die ganze Sache mit deinem Funkmessgerät stinkt doch.“
„Ich sag euch die Wahrheit: Aber danach ziehst du sofort den Hebel. Mein Gerät hat vorher nie funktioniert. Ich habe immer wieder Protokolle gefälscht. Darum wollte ich auch nach Wien, weil es von der Ferne leichter ist, sie zu täuschen. Ich habe noch etwas Hoffnung gehabt, dass es doch noch etwas anzeigt. Zuerst war wieder nichts, aber der hochfliegende Bomber, den wir fast erwischt haben. Der war echt. Ich glaube, es war irgendein Wackelkontakt. Ich bin gar nicht so gut in Funkmesstechnik. Ich war nur dort, weil die Gestapo einen Spitzel in der Nähe von Leo Brandt haben wollte. Er hat permanent die Partei kritisiert. Leider hat ihn die Gestapo in Ruhe gelassen, weil die Funkmesstechnik als kriegsentscheidend eingestuft wurde. Meine Berichte sind alle in einer Schublade verschwunden. Da habe ich versucht, mich bei der Weiterentwicklung nützlich zu machen. Durch meine guten Kontakte konnte ich als einer der Ersten ein englisches Gerät auseinandernehmen.“
„Was immer du da gesehen hast, es war kein englischer Bomber“, antwortete Josef.
„Da oben war etwas und ich habe euch die Wahrheit gesagt. Tut mir leid, dass ich so forsch aufgetreten bin. Wenn wir heil runterkommen, verspreche ich jedem von euch eine Belobigung.“
Dann schwieg er. Josef hatte den Verdacht, dass sie überhaupt nicht abstürzten, sondern dass sie noch immer hinter dem feindlichen Bomber herjagten. Sein Atem beruhigte sich und hinter sich spürte er, dass sich auch Florian und Heinrich entspannt hatten.
“Schon gut, Heinrich. Du hast einen eigenen Hebel. Links vom Sitz. Du musst ihn fest nach unten drücken.“
„Dreckschwein.“ Heinrich drückte den Hebel nach unten. Nichts passierte.
„Es geht nicht!“
„Dann hast du mit deinem Funkmessgerät alles so gründlich ruiniert, dass der Schleudersitz hinüber ist. Hab ich mir schon gedacht.“
„Blödes Arschloch. Geschieht dir recht, dass du verreckst“, keuchte Florian.
„Das gibt’s doch nicht. Die Schleudersitze sollten doch unabhängig sein.“
Heinrich begann zu beten: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …“
„Wisst ihr was?“, Josef zögerte kurz.
„In der Ukraine haben wir gewütet wie die Barbaren. Frauen, Kinder, alle abgeknallt. Ein Kind ist zu mir gekommen und wollte, dass ich es rette. Ein süßes kleines Mädchen. Sie haben sie weggeschleppt und erschossen. Einfach so. Und dann habe ich sie in der Grube gesehen. Neben und unter ihr Hunderte Frauen und Kinder, die nicht wussten, was ihnen passierte. Ihre Koffer haben sie abtransportiert und ihre Männer mussten die Gruben zuschaufeln. Ich war stolz auf das Reich. Darauf, dass ich ein Arier bin. Ich habe geglaubt, wir seien besser als diese Bolschewisten und die Juden. Aber mir ist klar geworden, dass wir alle nichts weiter als eine abscheuliche Horde sind. Darum wollte ich zu den Fliegern. Als Pilot habe ich die besten Chancen, den Krieg nicht zu überleben.“
Ein angenehmes Frösteln zog sich über seinen Rücken. Die Umrisse des Mädchens waren verblasst und hatten einer allumfassenden Dunkelheit Platz gemacht.