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Nähe
>>Trink doch mal ein Wasser!<< Ich trank lieber ein Bier. Sie strafte mich mit einem missbilligenden Blick. >>Leck mich!<<, raunte ich ohne die Flasche vom Mund abzusetzen. >>Du bist nicht mehr zu retten!<< Ich zündete mir eine Zigarette an und blies den Rauch unachtsam in ihre Richtung. Wenn eine Mutter soetwas zum eigenen Sohn sagt, sollte es einem wohl zu denken geben. Oder nicht? Es gab mir zu denken. Doch anstatt mich zu entschuldigen, das Bier wegzukippen und mit Mutter ein Wasser zu trinken, sagte ich nur:>>Verpiss dich, du Fotze!<< Meine Mutter kannte das schon und nahm sich nicht mehr die Zeit, mich auf mein ungebührliches Verhalten hinzuweisen. Sich aufzuregen machte es in der Regel nur noch schlimmer, das hatten die vielen Schulverweise und Polizeianzeigen eindrucksvoll bewiesen. >>Ich schäme mich für dich! Nichtmal einen Schulabschluss hast du geschafft.<< Ich sagte: >>Geh sterben, fette Kuh!<< Was ich aber meinte war: „Ja Mama, es tut mir leid, Mama. Ich werde ab jetzt alles besser machen, Mama.“ Es war wie ein ungleiches Tennisspiel, in dem meine Mutter ein Anfänger war, der den Ball vorsichtig über das Netz spielte und ich Boris Becker, der ihr den Ball mit aller Macht zurück um die Ohren schmetterte. Wie gerne hätte auch ich den Ball vorsichtig zurückgespielt und wenn einer von uns ins Netz schlüge, würden wir beide darüber lachen können. Aber dieser Wunschtraum wiedersprach meiner Identität. Was auch immer das sein sollte. Meine Mutter sah traurig aus. Ich wollte nicht, dass sie traurig ist. Ich wollte, dass sie lachte. Mit mir. Ich wollte sie in den Arm nehmen küssen und sie sollte stolz auf ihren lieben, kleinen Jungen sein. Es klingelte an der Tür. Dann hämmerten Fäuste gegen das Pressholzfurnier. Wie Granatschläge hallten sie durch die Wohnung. Auf dem Flur Geschrei: >>Eyyy! Mach die Scheiß-Tür auf, du Hurensohn!<< Ist es nicht schön, wenn man Freunde hat? Meine Mutter war inzwischen aufgestanden. >>Ich werde jetzt gehen, bevor das hier noch eskaliert.<< >>Hab ich dir nicht schon vorhin gesagt, dass du dich verpissen sollst?!<<, war meine Reaktion darauf. Ich schob sie durch den stinkenden Flur, in dem sich leere Flaschen und Pizzapappen bis hoch zum Heizungsthermostat türmten. Meine Hand auf ihrem Rücken, fast verkrampft. An der Tür keine Umarmung. Ein schneller Zug an der Klinke. Meine Freunde davor, ungestüm und wild, aufgekratzt vom Schnaps, den sie auf dem Weg zu mir vernichteten. Ich gab meiner Mutter einen Stoß und befördere sie über die Türschwelle nach draußen. Keine Umarmung. Aber ich wollte eine Umarmung und bekam sie nicht. Warum bloß? Sie drehte sich nichtmal mehr um. Sie ist weg. Meine Freunde nun da. Verwahrlost und roh, wie ich.
Jennifer packte mich, drückte mir einen Kuss auf den Mund. Ein Automatismus. Hart und Feucht. Sie rülpste, als sich unsere Zungen wieder entknoteten. Mir blieb nur der ranzige Geschmack von Wodka-O. Ich wollte sie noch ein bisschen halten, ihre Wärme spüren, die Nähe zu einer Frau, zu einem Seelenpartner, der versteht, wer ich bin. Wer ich sein will. Sie drückte mich weg! >>Ey, gefickt wird nich!<< Sie stieß mich in den Flur. Meine Freunde saßen bereits auf dem Sofa und tranken Wein aus Tetra Packs. Ich setze mich zu ihnen. Nahm mir noch ein Bier, dann Wodka-Cola, dann Jägermeister. Sie tranken mit mir. Ich trank ohne sie. Wenigstens war ich nicht allein. Ich war oft allein. Mutter war da, körperlich. Auch als Vater ging. Meine Schwester war da, fremd. Auch als mein Bruder ging. Doch irgendwann kam der Schnaps und blieb immer da, egal wer mich verließ. Ich trank noch einen Jägermeister, sitzend, auf meiner vergilbten, blauen Couchgarnitur. Ich wünschte, ich säße am Strand, die Sonne ginge unter, neben mir jemand, der mich liebte. Weißwein in der einen, eine Pfeife in der anderen Hand. Sehnsuchtsvoll hinaus auf das Meer starrend, in dem die Sonne sich zur Nachtruhe bettete. Über uns eine Armada von Sternschnuppen, die nur vom Himmel fiel, um einen besseren Blick auf unseren ehrlichen Kuss zu erhaschen, den wir uns gerade gaben. >>Pimmelzwerg! Lass ma los, Party machen.<< Die Stimmen meiner Freunde verkehrten die Traumwelt zurück in die schreckliche Realität. Ich stürzte jetzt den letzten Rest Jägermeister hinunter und wollte es wäre feinster italienischer Grappa, den ich zusammen mit einem Stück gereiftem französischen Käse maßvoll genoss.
>>Keine Hektik! Lass uns erst noch einen rauchen!<<, forderte ich von denen, die mit mir meine Zeit vergeudeten. Betäubung hilft die Wut zu kanalisieren. Einzusperren - für wenigstens ein paar Momente. Frei zu sein. Daliegen und den eigene Herzschlag als Metronom zu nehmen, das den Takt einer Symphonien der Ruhe angibt. War Alkohol der Anstoß, der einen wilden Technobass aggressiv in den Kopf pflanzte, so war Grass der ruhige Gegenpol. Brahms. Zwei Drogen, die in perfekter Symbiose einen ausgeglichenen Charakter schufen. Ich brauchte sie. >>Hab nichts am Start! Lass was besorgen gehn. Hab Kohle von meiner Alten gezockt.<< War kein Gras da, der den Alkohol-Beat beruhigte, wurde ich rasend. Der Bass überflutete mein Selbst und die Wut raste durch mich, wie Formel 1 Wagen durch den Tunnel von Monaco. Gleißende Lichter im Halbdunkel, die in der Schwärze glühende Kurven zogen. >>Fuck, Mann!<< Ich wollte mich so gern von klassischer Musik zu Tränen rühren lassen, doch alles, was ich bekam, war nur ein ruhelos treibendes Transformatorensummen. >>Komm runter, Alter!<< Wir zogen uns vom Polster hoch. Ich klatschte Jennifer ungestüm mit der flachen Hand auf den Allerwertesten, wünschte es wäre ein zartes Tätscheln gewesen, das sie mit einem sinnlichen Kuss erwidert hätte. >>Lass das, du dreckiger Wichser!<<, kam stattdessen von ihren vollen Lippen.
Auf der Straße gingen wir fest zusammen. Vier junge Menschen ohne festes Ziel. Den Rausch zentriert in den Windungen des Gehirns, das wie ein Scheiterhaufen lichterloh brannte. Wir gossen Benzin hinein. Die Wodka-Flasche kreiste. Die Stichflammen schossen aus unseren Köpfen und entluden sich in Gewalt. Ich trat einen Mülleimer um. Der Inhalt verteilte sich, wie Schotter unter unseren Füßen! Einer meiner Freunde brüllte einen alten Mann, der verstohlen, kaum merklich zu uns herüber linste, an: >>Glotz nicht so Scheiße du verfickte Missgeburt!<< Hysterisches Lachen begleitete uns überall hin. Ein Rudel Hyänen, dass doch nur gestreichelt werden will. Wag es nur, streck deine Hand aus, wir beißen nicht. Im nächsten Moment, der Schmerz ist dir nichtmal bewusst, schaust du dann auf deinen Stumpf und fragst dich, warum du so leichtgläubig gewesen bist. Ich würde dir nie in die Hand beißen. Ich sehne mich nach ihr. Nach deiner Berührung. Bitte streichel mich! >>Micha, die Fotze hat doch immer gutes Grün am Start!<< Jennifers Vorschlag holt mich aus meinen Gedanken. >>Lass mal die Vier Richtung Zentrum nehmen und dann dem Scheißer n paar Blätter ausm Arsch ziehn!<< Sie war so klug und schön und verwegen. Ich liebte sie. Wir schliefen oft zusammen, wenn die anderen nicht dabei waren. Manchmal wenn sie dabei waren. Sie nannte es Vögeln oder Ficken. Ich nannte es Liebemachen. Das sagte ich ihr aber nicht. Ob sie mich auch liebte? Ja. Nein! Vielleicht? >>Träumst du, du Spast?!<< Meine Freunde hatten nichts für meine sentimentalen Momente übrig. Wir gingen weiter Richtung U-Bahn. Die Stadt kam mir auf einmal so groß vor, jetzt, wo jeder Schritt schon schwerer fiel und der Alkohol die nächste wilde Fahrt ausrief, als wäre er ein Kirmes-Schreihals. Sie wirkte künstlich und kalt. Unten der Asphalt, eingerahmt von symmetrischen Grünflächen, die eine Grenze schlugen zu den Beton- und Backsteinblöcken aus denen sie Häuser gemacht hatten. Hölzerne Bäume für die frische Luft, metallene Bäume für die Ausleuchtung der Tristes. All das traurig unter einem grau verregneten Himmel. Ein Sarkophag des Verstandes.
Jetzt in einem Dorf durch die Feldwege rennen, sich hinwerfen und johlend einen kleinen Hügel herunterrollen. Das Gras von der neuen Hose abschlagen und dann fast springend durch frische Maisfelder galoppieren. Das Leben genießen eben.
Hier in der Stadt – eine Unmöglichkeit. Aus jedem Fenster wurden wir beobachtet. Wir hatten einen Ruf zu verteidigen. Wir waren nicht Anonym. Ich wünschte ich wäre es gewesen. >>Ziehs dir rein!<< Der Wodka ging an mich. Ich trank. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. >>Ich auch!<< quengelnt forderte Jennifer eine Kippe von mir. Ich gab sie ihr. Unsere Fingerspitzen berührten sich leicht und mir lief ein Schauder über den Rücken. „Ich liebe dich!“, sagte ich ihr nicht. >>Erstick dran, du Hure!<<, zischte ich stattdessen durch die Zähne. Ich wollte es nicht. „Steck dir n Finger in den Arsch!“, gab sie zurück. Wir gingen die Treppe zur U-Bahnhaltestelle herunter. Es stank nach Urin und Kotze. Der Geruch der Stadt, der großen weiten Welt, des Erfolgs! Mir wurde übel. Ich trank besser noch einen Schluck. Auf dem Bahnsteig pinkelten meine Freunde ins Gleisbett. Ich hielt mich unbeteiligt an einem Stempelautomaten für Fahrkarten fest. Jennifer saß vor meinen Füßen auf dem Boden und spuckte in Richtung eines Mannes, der „Die Welt“ las. Ich rauchte und dann begegnete ich Willi.
Willi geht auf mich zu, die Hyäne, ohne Scheu oder Misstrauen. Ohne Respekt! Ich hab ihn jetzt schon gern. Er macht sich keine Gedanken darüber, wer ich vielleicht sein könnte, sondern sieht mich nur so, wie ich bin. Ein Mensch. Er gibt mir Identität, die mir sonst nur die Gruppe, das Rudel gibt. Nun steht er vor mir, lächelt und fragt, als ob ich sein Bruder wäre, seltsam vertraut nach der Uhrzeit. Seltsam leichtsinnig. Meine Freunde haben genug uriniert. Sie kommen auf uns zu. Ich blase Willi Rauch ins Gesicht, blitze ihn böse, dämonenhaft an. Unheilvoll. Mars, der Gott des Krieges. Willi bleibt ruhig, weicht nicht zurück. >>Viertel vor Nesquik, Zeit zum umrühren, du Sacknaht!<< >>Danke!<<, erwidert er, grinst, dreht sich um und geht einfach weg. Meine Freunde, nun direkt neben mir, geil vor Anspannung und geifernder Wut. Warum? Ich geifere mit Ihnen. Äußerlich. Innerlich bin ich ganz ruhig, sehe in Willi einen Mann, der meine Flapsigkeit mit Humor nimmt und standhaft meiner Ungebührlichkeit trotzt. Bemerkenswert. >>Kannste dir von som Pisser doch nich gefallen lassen, Alta!<< Meine Freunde echauffieren sich über meine besonnene Coolness. >>Ey, schlag den kaputt!!<<, schreit Jennifer plötzlich in unsere Runde hinein. Dabei legt sie die Betonung auf das Wort „kaputt“, ein „wie-Wort“, das den Zustand eines Gegenstandes oder –in diesem Fall einem Menschen- angeben soll. Sie blickt in die Zukunft. So sollte es sein. Ich wollte nicht, dass es so war. Aber wie sollte ich mich wehren? Der Poet in mir ist eine Geisel meines Umfelds. Das Lösegeld würde ich niemals zahlen können – dafür ist es nun zu spät. Ausreden! Ich überlege, ob ich es Willi nicht einfach durchgehen ließe, die Beschimpfungen meiner Freunde ertrüge und mich einfach weiter besoff, träumend von besseren Zeiten. Ich schnippe die Kippe in Richtung der Gleise, blase den letzten Rauch wie ein wütender Bulle durch die Nase und stürme Willi hinterher.
Willi lebte bei seiner Mutter im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses in der Innenstadt. Er liebte seine Mutter und seine Mutter liebte Willi. Sie hatten sonst niemanden. Willi machte eine Lehre zum Fliesenleger. Seine Mutter saß bei Rewe an der Kasse. Sie hatten nicht viel aber was sie gemeinsam hatten, war mehr als die meisten jeh haben würden. Willi machte das Bad sauber, seine Mutter kochte. Abends sahen sie sich gemeinsam den Tatort an oder lachten über die platten Witze Stefan Raabs. Willi liebte Pferde und Motorräder. Er hatte eine alte Zündapp KS 80. Seine Mutter hatte sie ihm geschenkt und Willi war stolz. Stolz auf sein Moped und stolz auf seine Mutter. Sie stützten sich gegenseitig durch schwere Zeiten, gaben sich Nähe und Geborgenheit. Sie genossen die gemeinsame Zeit, weil sie wussten, dass sie irgendwann enden konnte.
Von all dem weiß ich nichts und ich trete Willi in den Rücken. Er taumelt, stürzt, bleibt liegen. Ein Mann, der neben uns steht, dreht sich schnell um und vertieft sich in den Fahrplan an der Wand. Ich sehe Willi an, der angstvoll mit fragenden Augen zu mir hoch sieht.
„Keine Angst! Ich will dich nicht verletzten.“
Die Stimme in meinem Kopf klingt sanft und tröstend. Dann trete ich ihm in den Bauch.
„Hier, nimm meine Hand, ich helfe dir auf.“
Ich beuge mich über ihn und schlage ihm dreimal mit der Faust ins Gesicht.
„Ich mag dich, so wie du bist!“
Meine Freunde stehen grölend hinter mir, feuern mich an, als würde ich einen entscheidenden Elfmeter auf dem Fuß haben. Ich trete nach dem Ball, erwische Willis Kopf mit aller Kraft.
„Ich suche nichts, als deine Nähe!“
Willi liegt auf dem Boden und wimmert. Ich trete wieder zu. „Ich liebe dich!“
Unter meinen Schuhsohlen spüre ich sein Nasenbein nachgeben. „Es tut mir so leid!“
Noch ein Tritt.
„Willst du mein Freund sein?“
Das Jochbein bricht. Willi wimmert nicht mehr! Mein Fuß trifft ihn jetzt von oben, wie ein Fallbeil saust er herab. „Ich liebe Dich, aus tiefstem Herzen!“
Wieder und wieder Tritte.
„Ich doch nur dein Freund sein.“
Blut rinnt aus seinen Ohren und sammelt sich in den Fugen der Fliesen, läuft Richtung Gleisbett, um sich mit Urin und Kotze zu verbinden. Das Parfüm der Stadt hat eine neue Note. Willis Schädel bietet meinen Tritten kaum noch Wiederstand. „Steh auf und lass uns hier verschwinden, nur wir zwei!“
Ich trete noch zweimal zu. Niemand hält mich zurück, niemand nimmt Notiz.
Meine Freunde verstummt, ich außer Atem, Willi Tod.